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Informationen zum Dokument  BGer 1B_533/2017  Materielle Begründung
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BGer 1B_533/2017 vom 08.01.2018
 
 
1B_533/2017
 
 
Urteil vom 8. Januar 2018
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Merkli, Präsident,
 
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel U. Walder,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, 8004 Zürich.
 
Gegenstand
 
Haftentlassung,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts
 
des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 11. November 2017 (UB170140-O/U/PFE).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führt gegen A.________ eine Strafuntersuchung wegen versuchter Tötung. Laut Anklage vom 1. November 2017 war es zwischen ihm und B.________, einem Mitschüler an der Berufsschule, während mehrerer Tage zu verbalen Auseinandersetzungen bzw. gegenseitigen Beleidigungen gekommen. Am Abend des 15. Juni 2017 soll A.________ B.________ an dessen Wohnort aufgesucht und ihn vor der Liegenschaft auf der Strasse angetroffen haben; nach einer zunächst verbalen Auseinandersetzung habe A.________ ein mitgeführtes Klappmesser gezogen und Stichbewegungen in Richtung von B.________ gemacht. In der Folge soll es zu Handgreiflichkeiten gekommen sein, während derer A.________ B.________ das Messer unterhalb des Brustbeins in den Oberbauch gestossen habe, wodurch dieser in akute Lebensgefahr geraten sei. A.________ wurde in der Tatnacht verhaftet und anschliessend in Untersuchungshaft versetzt.
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Am 26. Oktober 2017 wies das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts Zürich das Haftentlassungsgesuch von A.________ vom 12. Oktober 2017 ab. Es erwog, der dringende Tatverdacht in Bezug auf Verbrechen sei erstellt und es bestehe Kollusionsgefahr in Bezug auf B.________ und drei Mitschüler.
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Am 11. November 2017 wies das Obergericht des Kantons Zürich die Beschwerde von A.________ gegen diesen Haftentscheid ab.
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B. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, dieses obergerichtliche Urteil aufzuheben und ihn, eventuell unter Anordnung von Ersatzmassnahmen, aus der Haft zu entlassen. Er ersucht um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung.
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C. Das Obergericht verzichtet auf Stellungnahme und die Staatsanwaltschaft liess sich innert Frist nicht vernehmen.
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Erwägungen:
 
1. Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.
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2. Untersuchungs- und Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Kollusionsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Das Obergericht hat nebst dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts diesen besonderen Haftgrund bejaht.
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2.1. Unbestritten ist der Beschwerdeführer dringend verdächtig, B.________ mit einem Messer eine lebensgefährliche Wunde beigefügt zu haben. Damit ist der allgemeine Haftgrund des Tatverdachts in Bezug auf ein Verbrechen erfüllt, auch wenn die genauen Umstände der Tat - etwa ob der Stich vorsätzlich erfolgte oder versehentlich im Gerangel oder ob sich der Beschwerdeführer in einer Notwehrsituation befunden haben könnte - umstritten sind.
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2.2. Kollusion bedeutet, dass sich der Beschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst. Die Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass ein Beschuldigter die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Dabei genügt nach der Rechtsprechung die theoretische Möglichkeit, dass der Beschuldigte in Freiheit kolludieren könnte nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen, vielmehr müssen konkrete Indizien für eine solche Gefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c; 117 Ia 257 E. 4b und c).
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2.3. Das Obergericht hat im angefochtenen Entscheid (E. 4.1 S. 14) erwogen, dass Kollusionsgefahr in Bezug auf drei ehemalige Mitschüler der beiden nicht mehr bestehe. Hingegen geht es davon aus (E. 4.2 S. 15 ff.), dass es wahrscheinlich sei, dass das erstinstanzliche Strafgericht den Geschädigten an der Hauptverhandlung erneut einvernehme, um den von den beiden Kontrahenten höchst unterschiedlich dargestellten Ablauf der Auseinandersetzung weiter abzuklären; bei diesem Vier-Augen-Delikt sei die Aussage des Geschädigten das zentrale Beweismittel. Angesichts der Schwere des Tatvorwurfs sei der Anreiz für den Beschwerdeführer hoch, den Geschädigten entgegen seinen Beteuerungen zu kontaktieren und in seinem Sinn zu beeinflussen.
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2.4. Das Obergericht geht zu Recht davon aus, dass nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausnahmsweise auch nach Abschluss der Untersuchung Kollusionsgefahr bestehen kann, etwa wenn bei einem Vier-Augen-Delikt der Anreiz für den Beschuldigten hoch ist und er die Möglichkeit hat, den Geschädigten zu beeinflussen und dazu zu verleiten, an der Hauptverhandlung seine Belastungen wahrheitswidrig zurückzunehmen oder abzuschwächen (BGE 137 IV 122 E. 4 S. 127 mit Hinweis). Am 30. November 2017 lud indessen das Strafgericht zur Hauptverhandlung vor. Dieses rechtserhebliche (siehe sogleich) Novum wird vom Bundesgericht angesichts der besonderen Bedeutung des verfassungs- und menschenrechtlichen Beschleunigungsgebots bei der Prüfung von Haftbeschwerden ausnahmsweise berücksichtigt (Urteil 1B_51/2015 vom 7. April 2015 E. 4 mit Hinweisen). Nach dieser Vorladung steht praktisch fest, dass der Geschädigte an der Hauptverhandlung nicht mehr einvernommen werden wird: Der Vorsitzende des Strafgerichts hat darin verfügt, dass an der Hauptverhandlung der Beschuldigte befragt wird und, unter Vorbehalt von Beweisanträgen der Parteien, keine weiteren Beweisabnahmen erfolgen. Der Beschwerdeführer macht unter Verweis darauf geltend, dass der Geschädigte an der Hauptverhandlung nicht einvernommen werden wird, womit er sich (unter dem allgemeinen Vorbehalt einer massgebenden Veränderung der Verhältnisse) dahingehend festgelegt hat, dass er selber dies nicht beantragen wird. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen, womit auch von dieser Seite kein entsprechender Antrag zu erwarten ist. Es ist somit davon auszugehen, dass der Geschädigte an der Hauptverhandlung nicht mehr einvernommen wird. Stehen aber die Aussagen des Geschädigten mit dem Abschluss der Untersuchung fest und werden an der Hauptverhandlung nicht mehr ergänzt, so hat der Beschwerdeführer gar keine Möglichkeit, dieses Beweismittel zu beeinflussen bzw. zu manipulieren. Kollusionsgefahr besteht unter diesen Umständen offenkundig nicht mehr. Die Beschwerde ist begründet.
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3. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und der Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben, und der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 66 Abs. 4 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung wird damit gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 11. November 2017 aufgehoben. Der Beschwerdeführer ist aus der Haft zu entlassen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
 
4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 8. Januar 2018
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Merkli
 
Der Gerichtsschreiber: Störi
 
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