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Informationen zum Dokument  BGer 9C_105/2018  Materielle Begründung
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BGer 9C_105/2018 vom 01.05.2018
 
 
9C_105/2018
 
 
Urteil vom 1. Mai 2018
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann.
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. Dezember 2017 (VBE.2017.490).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Verfügung vom 3. Mai 2017 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau A.________ u.a. gestützt auf das polydisziplinäre Gutachten der Klinik B.________ vom 1. September 2015 mit psychiatrischem Teilgutachten vom 6. August 2015 ab 1. Januar 2010 eine bis 31. Januar 2011 befristete ganze Rente der Invalidenversicherung zu.
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B. Die Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. Dezember 2017 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 13. Dezember 2017 sei aufzuheben und es seien ihr die gesetzlich geschuldeten Leistungen zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur ordnungsgemässen Abklärung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen.
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Die IV-Stelle des Kantons Aargau ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Beschwerdeführerin ab 1. Februar 2011 Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung hat. Die vorinstanzlich bestätigte ganze Rente vom 1. Januar 2010 bis 31. Januar 2011 steht ausser Diskussion (Art. 107 Abs. 1 BGG).
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Erwägung 2
 
2.1. Die Vorinstanz hat im Wesentlichen mit folgender Begründung die Befristung der ganzen Rente bis 31. Januar 2011 bzw. die Verneinung eines Rentenanspruchs ab 1. Februar 2011 durch die Beschwerdegegnerin bestätigt: Gemäss dem beweiskräftigen Gutachten der Klinik B.________ vom 1. September 2015 sei die Beschwerdeführerin aus somatischer Sicht in einer leichten und wechselbelastenden, idealerweise überwiegend sitzenden Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig. Insbesondere sei ihr auch die angestammte Tätigkeit als Kioskverkäuferin ohne Tragen und Heben von Lasten über 10 kg und ohne anhaltende Körperhaltungen, d.h. mit der Möglichkeit, Pausen zu machen und sich hinzusetzen, zu 100 % zumutbar. Im psychiatrischem Teilgutachten vom 6. August 2015, dem ebenfalls Beweiswert zukomme, würden als Diagnosen ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig leichter [restrospektiv bis mittelgradiger] Episode (ICD-10 F33.0) sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41) genannt. Die Beschwerdeführerin sei aus psychiatrischer Sicht zu 100 % arbeitsfähig. Eine optimale leitliniengetreue Therapie bzw. eine Therapieresistenz liege nicht vor, was nach der Rechtsprechung (Hinweis u.a. auf BGE 140 V 193 E. 3.3 S. 197 und Urteil 9C_30/2017 vom 10. Juli 2017 E. 4.2) indessen Bedingung sei, um leicht- bis höchstens mittelgradigen Störungen aus dem depressiven Formenkreis invalidisierende Wirkung zuzuerkennen. In Bezug auf die chronische Schmerzstörung ergebe sich auch bei einer Prüfung anhand der Standardindikatoren nach BGE 141 V 281 kein Nachweis für erhebliche funktionelle Auswirkungen der medizinisch festgestellten Diagnosen.
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2.2. Die Beschwerdeführerin bringt vor, der angefochtene Entscheid berücksichtige nicht die neue (geänderte) Rechtsprechung gemäss den Urteilen 8C_841/2016 und 8C_130/2017, je vom 30. November 2017 (BGE 143 V 409 und 418) und sei daher aufzuheben.
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3. Der behandelnde orthopädische Chirurg und Traumatologe Prof. Dr. med. C.________ hielt in seinem Bericht vom 16. Februar 2017 fest, Dr. med. D.________, Fachärztin FMH für Neurologie, habe im Rahmen einer elektrophysiologischen Untersuchung als Ursache für die beschriebenen Beschwerden eine Reizleitungsstörung der Nervenwurzeln L5 und L4 rechts gefunden. Die Schmerzen und die Sensibilitätsstörung im rechten Bein seien auf die mediolaterale Diskushernie L4/L5 rechts zurückzuführen, welche im Rahmen einer fortgeschrittenen Abnützung der Lendenwirbelsäule am lumbosakralen Übergang aufgetreten sei. Die Patientin leide an einer schweren Degeneration L4/L5, L5/S1, etwas weniger L2/L3 und L3/L4. Die Vorinstanz hat dem Bericht des Prof. Dr. med. C.________ vom 16. Februar 2017 keine Bedeutung beigemessen, weil entgegen seinen Ausführungen aus dem Bericht von Dr. med. D.________ vom 8. Februar 2017 nicht hervorgehe, dass diese eine Reizleitungsstörung der Nervenwurzeln L5 und L4 rechts eindeutig als Ursache der beschriebenen Schmerzen festgestellt hätte. Die neueren Befunde von Dr. med. D.________ deckten sich im Übrigen weitestgehend mit denen in ihrem Bericht vom 4. Februar 2016, welcher den Gutachtern bereits bekannt gewesen sei.
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Die letzte Feststellung ist offensichtlich unrichtig (Art. 105 Abs. 2 BGG), datiert doch die Expertise der Klinik B.________ vom 1. September 2015. Sodann schliesst die Vorinstanz - zu Recht -eine Reizleitungsstörung der Nervenwurzeln L5 und L4 rechts als (organisch nachweisbare) Ursache der beschriebenen Schmerzen nicht aus. Ob Prof. Dr. med. C.________ mit seiner Beurteilung die Berichte von Dr. med. D.________ richtig interpretierte, kann mangels nötiger Fachkunde nicht von den rechtsanwendenden Behörden entschieden werden. In Anbetracht der Bedeutung der Frage nach der Ätiologie der Rückenschmerzen für die Einschätzung des tatsächlich erreichbaren zumutbaren Leistungsvermögens unter dem Gesichtspunkt "funktioneller Schweregrad" der Schmerzstörung, namentlich somatische Komorbiditäten, und "Konsistenz" bzw. "Ausschlussgründe" (BGE 141 V 281 E. 2.2 S. 287 f.) sind diesbezügliche Abklärungen unerlässlich (zur Bedeutung der klinischen Untersuchung bei die Wirbelsäule betreffenden Diagnosen Urteil 9C_335/2015 vom 1. September 2015 E. 4.4.2).
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3.1. Die Sache ist nicht spruchreif. Die vorinstanzlichen Feststellungen zur zumutbaren Arbeitsfähigkeit beruhen auf einem unvollständig abgeklärten Sachverhalt (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Die Beschwerdegegnerin wird im Sinne der vorstehenden Erwägungen ergänzende Abklärungen zum funktionellen Leistungsvermögen der Beschwerdeführerin vorzunehmen haben und danach über den streitigen Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung ab 1. Februar 2011 neu verfügen. Die Beschwerde ist im Eventualstandpunkt begründet.
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4. Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. Dezember 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 3. Mai 2017 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Pensionskasse E.________, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 1. Mai 2018
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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