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Informationen zum Dokument  BGer 1B_528/2017  Materielle Begründung
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BGer 1B_528/2017 vom 11.05.2018
 
 
1B_528/2017
 
 
Urteil vom 11. Mai 2018
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Merkli, Präsident,
 
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Lücke,
 
gegen
 
Renate Schnell,
 
c/o Obergericht des Kantons Bern,
 
Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Ausstand,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 30. November 2017 (SK 17 351).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Gegen A.________ ist am Obergericht des Kantons Bern ein Strafverfahren hängig. Mit Eingabe vom 25. August 2017 reichte er ein Ausstandsgesuch gegen Oberrichterin Schnell ein. Zur Begründung führte er aus, dass sie von seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Oliver Lücke, eine gültige Vollmacht verlangt habe, nachdem die amtliche Verteidigung widerrufen worden sei. Eine Vollmacht habe jedoch bereits in den Akten gelegen. In einer weiteren Eingabe rügte er auch in allgemeiner Weise die Art der Spruchkörperbesetzung am Obergericht.
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Mit Beschluss vom 30. November 2017 wies die 1. Strafkammer des Obergerichts in der Besetzung mit Oberrichter Zihlmann, Oberrichterin Hubschmid und Oberrichter Vicari das Ausstandsgesuch ab. Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- auferlegt sie je zur Hälfte dem Gesuchsteller und Rechtsanwalt Oliver Lücke.
2
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 6. Dezember 2017 an das Bundesgericht beantragt A.________, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und das Ausstandsgesuch gutzuheissen. Die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese in einer auf Gesetz beruhenden Besetzung neu entscheide, wobei Oberrichter Zihlmann, Oberrichterin Hubschmid und Oberrichter Vicari in den Ausstand zu treten hätten. Die Kosten des Ausstandsverfahrens seien dem Kanton Bern aufzuerlegen und Rechtsanwalt Lücke sei eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
3
In verfahrensrechtlicher Hinsicht macht der Beschwerdeführer geltend, er lehne die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts wegen eines Verstosses gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter ab.
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Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Beschwerdegegnerin hat sich nicht vernehmen lassen.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid in einer Strafsache (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 StPO). Gemäss Art. 92 Abs. 1 BGG ist gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren die Beschwerde zulässig. Der Begriff des Ausstands im Sinne dieser Bestimmung ist weit zu verstehen. Darunter fallen auch andere Zwischenentscheide über die Zusammensetzung der entscheidenden Behörde. Es handelt sich dabei um gerichtsorganisatorische Fragen, die endgültig entschieden werden sollen, bevor das Verfahren fortgesetzt wird (Urteil 1B_311/2016 vom 10. Oktober 2016 E. 1 mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Auf sein Rechtsmittel ist einzutreten.
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Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht vorab geltend, er lehne die von der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts bestimmte Besetzung des Spruchkörpers wegen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK aus Besorgnis der Befangenheit ab. Aus der Begründung dieses Verfahrensantrags geht hervor, dass er das ganze Bundesgericht und nicht lediglich die strafrechtliche Abteilung meint. Auf die Kritik ist deshalb einzugehen, auch wenn im vorliegenden Fall nicht die strafrechtliche, sondern die erste öffentlich-rechtliche Abteilung zuständig ist (Art. 29 Abs. 3 des Reglements vom 20. November 2006 für das Bundesgericht [BGerR; SR 173.110.131]).
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2.2. Der Beschwerdeführer macht entgegen dem Wortlaut seines Antrags nicht die Befangenheit einzelner Richter oder einen sonstigen Ausstandsgrund im Sinne von Art. 34 BGG geltend, sondern kritisiert das Verfahren der Spruchkörperbesetzung. Konkret bringt er vor, das Bundesgericht verfüge über keinen Geschäftsverteilungsplan für die Besetzung des Spruchkörpers im Einzelfall. Anders als am Bundesverwaltungsgericht erfolge diese nicht ausschliesslich nach dem Zufallsprinzip. Die in Art. 40 BGerR vorgesehenen Kriterien würden keine Gewähr dafür bieten, dass der Spruchkörper gegen Einflussnahme von Aussen hinreichend geschützt sei. Der Abteilungspräsident habe weitgehend freie Hand, was konventionswidrig sei.
8
2.3. Das Bundesgericht hat im zur Publikation bestimmten Urteil 6B_1356/2016 vom 5. Januar 2018 E. 2 ausführlich dargelegt, dass die Besetzung des Spruchkörpers am Bundesgericht verfassungs- und konventionskonform geregelt ist. Es bestätigte damit seine Ausführungen im Urteil 1B_491/2016 vom 24. März 2017 E. 1.4. Insbesondere legte es dar, dass in Art. 40 BGerR sachliche Kriterien vorgesehen sind, welche der Abteilungspräsident bei der Besetzung des Spruchkörpers berücksichtigen muss, und dass eine weitere Objektivierung der Besetzung aufgrund der EDV-Applikation "CompCour" erfolgt, welche die weiteren mitwirkenden Richter automatisch bestimmt. Das Bundesgericht hat weiter aufgezeigt, dass weder die Bundesverfassung noch die EMRK verlangen, bei der Spruchkörperbesetzung jegliches Ermessen auszuschliessen. Die Kritik des Beschwerdeführers weckt keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Darlegungen und bietet deshalb auch keinen Anlass, darauf zurückzukommen. Die Rüge der Verletzung von Art. 6 EMRK ist unbegründet, und der Spruchkörper ist in der dargestellten üblichen Weise zu besetzen.
9
 
Erwägung 3
 
3.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV) und des Rechts auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK). Der angefochtene Beschluss setze sich nicht mit der Frage der Verletzung von Art. 6 EMRK auseinander, was dem Ausstandsgesuch die Wirksamkeit im Sinne von Art. 13 EMRK nehme.
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3.2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt, dass die Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Daraus folgt die Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sie sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass sich der Betroffene über die Tragweite des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 143 III 65 E. 5.2 S. 70 f. mit Hinweisen).
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3.3. Aus dem angefochtenen Beschluss ist ohne Weiteres ersichtlich, aus welchen Erwägungen die Vorinstanz zum Schluss kam, der Anspruch auf den gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK sei nicht verletzt. Die Begründungspflicht wurde damit erfüllt. Ebenfalls unbegründet ist die Rüge der Missachtung von Art. 13 EMRK. Dass das vorliegende Verfahren dem Beschwerdeführer keine wirksame Beschwerde ermöglichen soll, ist nicht nachvollziehbar. Art. 13 EMRK ist nicht verletzt, nur weil die von Art. 13 EMRK geforderte Beschwerdeinstanz der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers nicht folgt.
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Erwägung 4
 
4.1. Der Beschwerdeführer kritisiert, am Obergericht bestünden keine gesetzlichen Bestimmungen, die die Richterzuteilung im Voraus abstrakt regelten. Auch gebe es keinen Geschäftsverteilungsplan. Art. 6 EMRK verlange indessen, dass die Besetzung des Gerichts klar und eindeutig geregelt sei. Es sei unzulässig, wenn der Gerichtspräsident insofern über einen weiten Spielraum verfüge. Der Mangel einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage betreffe auch den Einsatz von Oberrichter Zihlmann, Oberrichterin Hubschmid und Oberrichter Vicari im Ausstandsverfahren.
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4.2. Nach Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind untersagt. Mit ähnlichen Worten garantiert Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht jeder Person, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
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4.3. Die Besetzung der Richterbank am Obergericht Bern ist in Art. 44 f. des Gesetzes des Kantons Bern vom 11. Juni 2009 über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (GSOG; BSG 161.1) geregelt. Die beiden Bestimmungen haben, soweit vorliegend von Interesse, folgenden Wortlaut:
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Art. 44 Abteilungspräsidentin oder Abteilungspräsident
16
1 Die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident führt die Abteilung und ist verantwortlich für die Fallzuteilung und den Belastungsausgleich.
17
2 Sie oder er entscheidet über den Beizug von Ersatzrichterinnen und Ersatzrichtern.
18
Art. 45 Spruchkörper
19
1 Die Urteilsfindung erfolgt in Dreierbesetzung, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.
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4.4. Die Vorinstanz führt aus, Rechtsanwalt Lücke, der eine ganze Reihe von Ausstandsgesuchen in verschiedenen Verfahren eingereicht habe, sei die Anwendung von Art. 44 und 45 GSOG bereits einlässlich erläutert worden. Aus dem Staatskalender sei weiter ersichtlich, dass die Gesuchsgegnerin als Präsidentin der Beschwerdekammer fungiere.
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4.5. Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 1B_517/2017 vom 13. März 2018, das ebenfalls das Obergericht Bern betrifft, hat das Bundesgericht ausführlich dargelegt, dass die kritisierte Spruchkörperbildung mit den verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist. Ausschlaggebend war, dass sich die Kriterien für die Spruchkörperbildung in hinreichender Klarheit aus Art. 44 Abs. 1 GSOG und der dazugehörigen Praxis ergeben. Das Bundesgericht setzte sich auch mit der Kritik an der Wahl der für das Ausstandsverfahren zuständigen Richter auseinander und stellte fest, dass sich das Obergericht auch in dieser Hinsicht von sachlichen Gesichtspunkten hatte leiten lassen, nämlich der Regel, dass konnexe Fälle im Allgemeinen vom gleichen Spruchkörper zu behandeln sind sowie der Regel, dass von einem Ausstandsgesuch betroffene Personen am Entscheid über dessen Begründetheit nicht mitwirken (zum Ganzen: a.a.O., E. 5-6, insbesondere E. 6.3). Die vom Beschwerdeführer vorgetragene Kritik an den betreffenden Erwägungen, die auch im vorliegenden Verfahren Gültigkeit beanspruchen, gibt keinen Anlass, darauf zurückzukommen.
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Erwägung 5
 
Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.
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Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Bei der Bemessung der Entschädigung ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerde eine fast wörtliche Kopie von bereits in anderen Verfahren beim Bundesgericht eingereichten Beschwerden darstellt. Es ist dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers somit nur ein geringer Aufwand entstanden.
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
2.2. Rechtsanwalt Oliver Lücke wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 500.-- entschädigt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 11. Mai 2018
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Merkli
 
Der Gerichtsschreiber: Dold
 
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