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Informationen zum Dokument  BGer 8C_744/2017  Materielle Begründung
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BGer 8C_744/2017 vom 14.05.2018
 
 
8C_744/2017
 
 
Urteil vom 14. Mai 2018
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin.
 
Gerichtsschreiberin Betschart.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Dorrit Freund,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Invalideneinkommen),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 29. August 2017 (UV.2017.4).
 
 
Sachverhalt:
 
A. A.________ war als Produktionsmitarbeiter bei der Grossbäckerei der Genossenschaft B.________ angestellt und über die Arbeitgeberin bei der SWICA Krankenversicherung AG (nachfolgend SWICA) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 14. November 2011 wurde er als Radfahrer von einem Auto angefahren, stürzte auf den rechten Ellenbogen und erlitt eine Olecraneonfraktur, die operativ versorgt werden musste. Die SWICA erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Seit diesem Vorfall arbeitete der Versicherte nicht mehr. Aufgrund dieses Ereignisses meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufliche Integration/Rente) an. Am 11. August 2012 rutschte A.________ im Badezimmer aus und zog sich eine Schulterkontusion/-distorsion links zu. Auch hierfür erbrachte die SWICA die gesetzlichen Leistungen. Sodann musste sich der Versicherte am 12. September 2012 wegen einer schweren koronaren 3-Gefässerkrankung einer fünffachen Bypassoperation unterziehen. Per 13. November 2013 löste die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis auf. Die IV-Stelle Basel-Stadt (IV-Stelle) holte bei der C.________ AG, Polydisziplinäre Begutachtungsstelle, MEDAS (nachfolgend MEDAS) ein polydisziplinäres Gutachten ein (Gutachten vom 20. April 2015), und die SWICA liess den Versicherten durch Dr. med. D.________, Spezialarzt FMH für Orthopädische Chirurgie, begutachten (Gutachten vom 15. Juni 2015). Gestützt auf einen Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 2. Mai 2016 richtete die Invalidenversicherung A.________ ab 1. Januar 2014 befristet bis 30. Juni 2014 eine halbe Rente und ab 1. September 2015 eine Dreiviertelsrente aus.
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Mit Verfügung vom 9. März 2016 stellte die SWICA die Taggeldzahlungen sowie die Heilbehandlungskosten per 1. November 2015 ein, verneinte den Anspruch auf eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 3 % und sprach dem Versicherten eine Integritätsentschädigung von Fr. 44'100.- zu, bei einer Integritätseinbusse von insgesamt 35 %. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 19. Januar 2017 fest.
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 29. August 2017 gut und sprach dem Beschwerdeführer ab November 2015 eine Invalidenrente auf der Basis eines Invaliditätsgrads von 22 % zu.
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C. Die SWICA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie die Bestätigung ihres Einspracheentscheids vom 19. Januar 2017.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Immerhin prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht im Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 138 I 274 E. 1.6 S. 280). Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
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1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Eine freie bundesgerichtliche Ermessensprüfung im Sinne einer Angemessenheitskontrolle ist auch auf dem Gebiet der Geldleistungen der Militär- und Unfallversicherung ausgeschlossen (Urteile 8C_114/2017 vom 11. Juli 2017 E. 1.2; 8C_622/2016 vom 21. Dezember 2016 E. 4.1).
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2. Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen betreffend den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 18 Abs. 1 UVG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 ATSG) und die Bemessung des Invaliditätsgrads nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Rechtsprechung zum Beweiswert von ärztlichen Berichten und Gutachten. Darauf wird verwiesen.
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Vorliegend ist zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdeführer eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 22 % zusprach. Streitig ist dabei einzig die Frage, ob das kantonale Gericht zu Recht einen leidensbedingten Abzug von 20 % vornahm, während die Beschwerdeführerin keinen Abzug gewährt hatte.
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3. 
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3.1. Praxisgemäss kann von dem anhand der LSE-Tabellenlöhne ermittelten Invalideneinkommen unter bestimmten Voraussetzungen ein leidensbedingter Abzug vorgenommen werden. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können (BGE 142 V 178 E. 1.3 S. 181; 124 V 321 E. 3b/aa S. 323) und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa i.f. S. 80). Ohne für jedes zur Anwendung gelangende Merkmal separat quantifizierte Abzüge vorzunehmen, ist der Einfluss aller Merkmale auf das Invalideneinkommen unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb S. 80). Der Abzug darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80; vgl. auch Urteil 8C_253/2017 vom 29. Juni 2017 E. 4.3.2).
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3.2. Ob ein behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine frei überprüfbare Rechtsfrage dar (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 8C_604/2011 vom 23. Januar 2012 E. 4.2.1). Die Festlegung der Höhe eines solchen Leidensabzugs hingegen beschlägt eine typische Ermessensfrage, welche angesichts der dem Bundesgericht zukommenden Überprüfungsbefugnis letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich ist (Art. 95 und 97 BGG), wo das kantonale Gericht sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung oder -unterschreitung bzw. bei Ermessensmissbrauch als Formen rechtsfehlerhafter (Art. 95 lit. a BGG) Ermessensbetätigung (BGE 132 V 393 E. 2.2 S. 396 und E. 3.3 S. 399).
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3.3. Im Gegensatz zur Kognition des Bundesgerichts ist diejenige der Vorinstanz in diesem Zusammenhang nicht auf Rechtsverletzung (einschliesslich Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung) beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Beurteilung der Angemessenheit der Verwaltungsverfügung (BGE 137 V 73 E. 5.2 S. 73). Bei der Angemessenheit geht es um die Frage, ob der zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach dem ihr zustehenden Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte ausfallen sollen. Allerdings darf das kantonale Gericht sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen; es muss sich somit auf Gegebenheiten abstützen können, die seine abweichende Ermessensausübung als naheliegender erscheinen lassen (BGE 137 V 71 E. 5.2 S. 73 mit Hinweis).
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Erwägung 4
 
4.1. Die Vorinstanz stellte (wie schon die Beschwerdeführerin) bei der Beurteilung der verbleibenden unfallbedingten Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit auf das orthopädische Gutachten des Dr. med. D.________ vom 15. Juni 2015 ab. Dieser kam zum Schluss, dem Beschwerdegegner sei aufgrund der Unfallfolgen eine leichte, einarmige, wechselbelastende Tätigkeit für den linken Unterarm möglich, bei der nur auf Tischhöhe ohne repetitive Tätigkeiten gearbeitet werden könne und das Tragen bzw. Heben von Gewichten über 2 kg entfalle. In einer solchen leidensangepassten Tätigkeit betrage die Arbeitsfähigkeit 100 %. Dr. med. D.________ verwies ergänzend auf das Gutachten vom 1. November 2013, das Dr. med. E.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie FMH, Basel, zuhanden der Beschwerdeführerin erstellt hatte. Bereits dieser Experte hatte festgehalten, dass die Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf nicht mehr möglich sei und eine Arbeitsfähigkeit nur in einer leichten Tätigkeit ohne Einsatz des rechten Arms gegeben sei. Ebenso bestehe wegen der linksseitigen Rotatorenmanschettenruptur keine Arbeitsfähigkeit für Tätigkeiten mit körperlicher Belastung. Dennoch sei ohne Hebeleistungen und notwendige Elevation des linken Arms eine leichte Tätigkeit möglich.
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Die Vorinstanz führte aus, dass gemäss diesem Zumutbarkeitsprofil der dominante rechte Arm nicht mehr eingesetzt werden könne und auch die Tätigkeiten für den linken Arm, insbesondere hinsichtlich der Belastbarkeit, erheblich eingeschränkt seien. Es sei davon auszugehen, dass die erwerbliche Verwertung der verbliebenen Arbeitsfähigkeit an einem konkreten Arbeitsplatz verglichen mit einem gesunden Versicherten ganz erheblich erschwert sei. Der Versicherte sei demnach selbst im Rahmen leichter körperlicher Tätigkeiten in seiner Leistungsfähigkeit unfallbedingt eingeschränkt, was rechtsprechungsgemäss einen Abzug auf dem Invalideneinkommen rechtfertige. In Anbetracht dessen, dass das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung bei faktischer Einhändigkeit des dominanten Arms, oder wenn der dominante Arm nur noch eine Zudienfunktion habe, Abzüge zwischen 20 und 25 % zugestanden habe, erscheine in Würdigung der gesamten Umstände ein Leidensabzug von 20 % als angemessen.
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Erwägung 5
 
5.1. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen im Wesentlichen ein, die Vorinstanz habe ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt, indem sie einen leidensbedingten Abzug von 20 % gewährte, anstatt von einem Abzug abzusehen. Sie verweist dazu zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach Personen, die funktionell als Einarmige zu betrachten sind und nur noch leichte Arbeit verrichten können, auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt genügend realistische Betätigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (z.B. Überwachungs-, Prüf- und Kontrolltätigkeiten; anstelle vieler: Urteil 8C_31/2017 vom 30. März 2017 E. 6.2 mit Hinweisen). Entgegen ihrer Auffassung lässt sich daraus nicht ableiten, dass ein leidensbedingter Abzug grundsätzlich ausgeschlossen wäre; vielmehr ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Das kantonale Gericht trug dieser Rechtsprechung insofern Rechnung, als es die Verwertbarkeit der unfallbedingten Restarbeitsfähigkeit in einem 100%-Pensum bejahte. Anschliessend führte es - zutreffend - aus, dass der Beschwerdegegner nicht nur seinen rechten Arm nicht mehr einsetzen könne, sondern auch im Gebrauch seines linken Arms deutlich eingeschränkt sei, was die Verwertbarkeit seiner verbleibenden Arbeitsfähigkeit im Vergleich zu einem gesunden Versicherten erheblich erschwere. Dass die Vorinstanz angesichts dieser einschneidenden Beeinträchtigungen einen Abzug gewährte, erweist sich somit nicht als bundesrechtswidrig.
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5.2. Bei der Bemessung der Höhe des Abzugs orientierte sich das kantonale Gericht (wie gezeigt) an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach eine faktische Einhändigkeit oder Beschränkung der dominanten Hand als Zudienhand einen Abzug von 20 bis 25 % zu rechtfertigen vermag (Urteil 9C_418/2008 vom 17. September 2008 E. 3.3.2 und 3.3.3 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 8C_670/2015 vom 12. Februar 2016 E. 5.2). Angesichts dieser Praxis und mit Blick auf die erheblichen Einschränkungen des Versicherten an beiden oberen Extremitäten erweist sich ein leidensbedingter Abzug von 20 % nicht als überhöht (wie die Beschwerdeführerin geltend macht), so dass dem kantonalen Gericht auch keine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung vorgeworfen werden kann.
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5.3. Etwas anderes ergibt sich schliesslich nicht daraus, dass die IV-Stelle ebenfalls einen Abzug von 20 % vornahm, obwohl sie nicht nur die hier relevanten, unfallbedingten Beeinträchtigungen, sondern auch weitere, krankheitsbedingte Einschränkungen (insbesondere die Zumutbarkeit eines blossen Teilzeitpensums) mitberücksichtigte. Denn die Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung entfaltet gegenüber dem Unfallversicherer keine Bindungswirkung (BGE 131 V 362 E. 2.2 S. 366 f.). Vielmehr haben die IV-Stellen und die Unfallversicherer die Invaliditätsbemessung in jedem einzelnen Fall selbstständig vorzunehmen. Sie dürfen sich ohne weitere eigene Prüfung nicht mit der blossen Übernahme des Invaliditätsgrads des jeweils andern Sozialversicherers begnügen (BGE 133 V 549 E. 6.1 S. 553). Folglich ist die Unfallversicherung (bzw. das Gericht im Unfallversicherungsverfahren) auch nicht an die von der IV-Stelle vorgenommene Schätzung des leidensbedingten Abzugs gebunden, sondern hat aufgrund der konkreten, im Zusammenhang mit dem Unfall stehenden Umstände nach pflichtgemässem Ermessen eine eigene Schätzung durchzuführen. Im Ergebnis ist die Beschwerde abzuweisen.
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6. Bei diesem Verfahrensausgang hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 14. Mai 2018
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Die Gerichtsschreiberin: Betschart
 
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