VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_123/2018  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_123/2018 vom 18.06.2018
 
 
6B_123/2018
 
 
Urteil vom 18. Juni 2018
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
als präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Rüedi,
 
Bundesrichterin Jametti.
 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Bahnhofstrasse 29, 8200 Schaffhausen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Nichtanhandnahme (Wucher); überspitzter Formalismus,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 19. Dezember 2017 (51/2017/58/B).
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1. Der sich im Strafvollzug befindende Beschwerdeführer erstattete Anzeige gegen das kantonale Gefängnis Schaffhausen bzw. dessen Leitung. Er machte im Wesentlichen geltend, der Lohn eines Gefangenen von Fr. 6.-- pro Tag stehe in einem Missverhältnis zu den Preisen für die Miete von Fernsehgeräten und Laptops von je Fr. 1.50 pro Tag.
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen nahm die Strafuntersuchung am 26. Juli 2017 nicht an die Hand. Für die Miete von Fernsehgeräten und Laptops müssten Gefängnisinsassen nur die Hälfte ihres Lohnes aufwerfen. Der Straftatbestand des Wuchers sei folglich eindeutig nicht gegeben. Die Nichtanhandnahmeverfügung ging dem Beschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben am 15. September 2017 zu.
 
Auf die dagegen am 23. September 2017 eingereichte Beschwerde trat das Obergericht des Kantons Schaffhausen am 19. Dezember 2017 nicht ein. Es führt aus, es habe die Eingabe vom 23. September 2017 in Anwendung von Art. 110 Abs. 4 StPO am 27. September 2017 wegen Weitschweifigkeit zur Reduktion auf eine sachbezogene Begründung zurückgewiesen. Schon bei anderer Gelegenheit sei dem Beschwerdeführer mitgeteilt worden, dass seine Eingaben über weite Strecken nur allgemeine Ausführungen zu theoretischen Rechtssätzen ohne Bezug auf die konkret angefochtenen Entscheide enthalten würden. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, die weitschweifige Eingabe vom 23. September 2017 daraufhin abzusuchen, ob darin auch konkrete Ausführungen zur angefochtenen Verfügung enthalten seien. Innert der ihm angesetzten Nachfrist habe der Beschwerdeführer die Beschwerde nicht überarbeitet. Darauf sei deshalb nicht einzutreten. Offen bleiben könne deswegen, ob ihm die Nichtanhandnahmeverfügung tatsächlich erst am 15. September 2017 zugegangen sei. Da das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen sei, erübrige es sich auch, eine Nachfrist zur Sicherheitsleistung anzusetzen, weil auf die Beschwerde ohnehin nicht einzutreten sei.
 
2. Der Beschwerdeführer wendet sich am 31. Januar 2018 mit Beschwerde an das Bundesgericht. Er rügt im Wesentlichen, das Nichteintreten auf seine Beschwerde sei überspitzt formalistisch. Er ersucht ferner um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Schaffhausen verzichten am 4. und 7. Juni 2018 auf eine Stellungnahme zur Beschwerde.
 
3. Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt vor, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Rechtssuchenden den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 142 I 10 E. 2.4.2 S. 11).
 
4. Das Vorbringen des Beschwerdeführers erscheint begründet. Zwar trifft zu, dass die an das Obergericht gerichtete Beschwerde vom 23. September 2017 mit rund 27 Seiten eine beträchtliche Länge aufweist. Es ergibt sich weiter, dass die Länge zur Hauptsache der Wiedergabe von abstrakten Rechtserwägungen und Angaben von Rechtsquellen geschuldet ist, die in der Tat keinen Bezug zur angefochtenen Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft erkennen lassen. Das heisst indessen nicht, dass der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdeeingabe an das Obergericht nicht auf die Nichtanhandnahmeverfügung konkret eingeht. Im Gegenteil. Aufgrund ihrer klaren Strukturierung und übersichtlichen Gliederung lässt sich der Beschwerdeeingabe vielmehr unschwer entnehmen, wo und wann sich der Beschwerdeführer im Einzelnen mit der Nichtanhandnahmeverfü-gung auseinandersetzt. Entsprechend fällt ein "Absuchen" der Beschwerde auf sachbezogene Ausführungen im Sinne eines aufwändi-gen Durchkämmens der Eingabe nicht an. Die in Anwendung von Art. 110 Ziff. 4 StPO erfolgte Rückweisung wegen Weitschweifigkeit mit Ansetzen einer Nachfrist zur Verbesserung der Beschwerdeeingabe, verbunden mit der Androhung der Unbeachtlichkeit der Beschwerdeeingabe im Säumnisfall, war bei dieser Ausgangslage folglich weder sinnvoll noch nötig. Der Beschwerdeführer hat in seiner Eingabe vom 8. Oktober 2017 an das Obergericht innert der ihm angesetzten Nachrist denn auch zu Recht geltend gemacht, die abstrakten Rechtserwägungen in seiner Beschwerde bzw. die rund 21 Seiten unter dem Titel "Rechtliches" könnten einfach weggelassen werden. Weshalb das Obergericht im zu beurteilenden Fall nicht derweise vorgegangen ist, erschliesst sich nicht. Das Vorgehen, die Eingabe vom 23. September 2017 als formungültige Beschwerde einzustufen, sie in Anwendung von Art. 110 Ziff. 4 StPO wegen Weitschweifigkeit zur Verbesserung zurückweisen und darauf schliesslich nicht einzutreten, beruht auf einer exzessiven Formstrenge, die durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist und zum reinen Selbstzweck wird. Die Verfügung des Obergerichts vom 19. Dezember 2017 verletzt damit Bundesrecht. Sie ist aufzuheben und die Sache ist zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Unabhängig von einem allfälligen strafrechtlich relevanten Verhalten stellt sich ohnehin die Frage, inwieweit es sich bei den Eingaben des Beschwerdeführers nicht um Kritik an den Vollzugsbedingungen im Kantonalen Gefängnis Schaffhausen handelt, die durch die zuständigen Vollzugsbehörden zu beurteilen (gewesen) wäre.
 
5. Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG gutzuheissen.
 
Mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens ist das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Gerichtskosten fallen keine an (Art. 66 Abs. 4 BGG). Entschädigungen werden nicht ausgerichtet.
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die angefochtene Verfügung des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 19. Dezember 2017 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. Juni 2018
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Jacquemoud-Rossari
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).