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Informationen zum Dokument  BGer 9C_498/2017  Materielle Begründung
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BGer 9C_498/2017 vom 19.06.2018
 
 
9C_498/2017
 
 
Urteil vom 19. Juni 2018
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Parrino,
 
Gerichtsschreiberin Huber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Anita Hug,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin,
 
Aargauische Pensionskasse APK, Hintere Bahnhofstrasse 8, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 30. Mai 2017 (VBE.2017.21).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1963 geborene A.________ meldete sich am 12. Januar 2000 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 5. Februar 2001 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau rückwirkend ab 1. Dezember 2000 eine halbe Invalidenrente zu.
1
Im Mai 2001 leitete die Verwaltung ein Revisionsverfahren ein und verfügte am 26. November 2002 und 25. September 2003, die Versicherte habe ab 1. September 2001 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. Diesen Anspruch bestätigte die IV-Stelle mit Mitteilungen vom 21. Januar 2005 und 25. September 2008.
2
Im Rahmen eines weiteren Revisionsverfahrens veranlasste die Verwaltung eine interdisziplinäre Begutachtung der Versicherten durch das Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB; Expertise vom 1. Oktober 2015 und Stellungnahme vom 30. Mai 2016). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verfügte die IV-Stelle am 29. November 2016 die Aufhebung der Rente.
3
B. Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 30. Mai 2017 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei ihr unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids weiterhin eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei ihr mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. Es sei vorgängig zur Wiedereingliederung ein Arbeitstraining anzuordnen.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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Erwägung 2
 
2.1. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in der Beschwerde näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395; Urteil 9C_221/2016 vom 21. Juni 2016 E. 1.1). Echte Noven, d.h. Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem vorinstanzlichen Entscheid entstanden sind, sind vor Bundesgericht unzulässig (Urteile 8C_690/2011 vom 16. Juli 2012 E. 1.3 mit Hinweis, nicht publ. in: BGE 138 V 286, aber in: SVR 2012 FZ Nr. 3 S. 7; 9C_185/2016 vom 8. August 2016 E. 2).
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2.2. Die Beschwerdeführerin legt im bundesgerichtlichen Verfahren Operationsberichte des Spitals B.________ vom 20. Juli 2017 und 21. September 2017, einen Austrittsbericht des Spitals B.________ vom 23. September 2017 sowie einen Bericht von Dr. med. C.________ vom 11. Dezember 2017 ins Recht. Dabei handelt es sich um echte Noven, die von vornherein ausser Acht zu bleiben haben, zumal die gerichtliche Prüfung auf die Zeit bis zum Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes (hier: 29. November 2016) beschränkt ist.
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3. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der IV-Stelle am 29. November 2016 verfügte Aufhebung der Rente bestätigte.
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Erwägung 4
 
4.1. Das kantonale Gericht stellte fest, die Rentenverfügungen vom 26. November 2002 und 25. September 2003 seien zufolge fehlender zusätzlicher Abklärungen trotz ärztlicher Hinweise auf deren Erforderlichkeit sowie des direkten Schlusses von der tatsächlich geleisteten Arbeit bzw. Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit auf den Invaliditätsgrad zweifellos unrichtig. Deren Berichtigung sei, da es sich um eine periodische Dauerleistung handle, von erheblicher Bedeutung, weshalb die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) erfüllt seien.
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4.2. Die Beschwerdeführerin macht dagegen einzig geltend, die IV-Stelle habe den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente in den Jahren 2005 und 2008 jeweils bestätigt. Von einer zweifellosen Unrichtigkeit könne daher keine Rede sein. Der Wiedererwägung steht nicht entgegen, dass die IV-Stelle anlässlich der Revisionen in den Jahren 2005 und 2008 einen unveränderten Rentenanspruch feststellte. Die zwischenzeitlichen Bestätigungen der Rente sind wiedererwägungsrechtlich unerheblich, weil ihnen keine materielle Prüfung des Rentenanspruchs zugrunde lag (Umkehrschluss aus BGE 140 V 514 E. 5.2 am Anfang S. 520; Urteile 9C_566/2016 vom 19. April 2017 E. 3.4; 9C_633/2015 vom 3. November 2015 E. 3.2 in fine). Soweit die Versicherte darüber hinaus vage geltend macht, es seien "mehrmals in der Vergangenheit medizinische Gutachten angefordert worden" und diese hätten Eingang "in die IV-Akten gefunden", vermag sie damit nicht darzutun, dass die Feststellungen der Vorinstanz (E. 4.1 hiervor) offensichtlich unrichtig oder sonst wie bundesrechtswidrig sein sollten (E. 1 hiervor). Damit bleiben diese für das Bundesgericht verbindlich.
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Erwägung 5
 
5.1. Sind die Wiedererwägungsvoraussetzungen erfüllt, ist die künftige Anspruchsberechtigung zu prüfen, d.h. auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts der Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der rentenaufhebenden Verfügung vom 29. November 2016 zu ermitteln (Urteile 9C_173/2015 vom 29. Juni 2015 E. 2.2, in: SZS 2015 S. 562 und 9C_11/2008 vom 29. April 2008 E. 4.2.1).
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5.2. Die Vorinstanz mass dem ZMB-Gutachten vom 1. Oktober 2015 Beweiswert bei und stellte in Anlehnung daran fest, die Beschwerdeführerin sei auf der Grundlage der orthopädischen Einschätzung in leichten, wechselbelastenden bis intermittierend mittelschweren Tätigkeiten 80 % arbeitsfähig. Ausserdem hätten die ZMB-Gutachter eine mittelgradige depressive Störung diagnostiziert. Dieser komme jedoch in Anbetracht der Sach- und Rechtslage kein invalidisierender Charakter zu. Der Einkommensvergleich führe zu einem rentenausschliessenden Invaliditätsgrad.
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5.3. Die Beschwerdeführerin rügt, gemäss psychiatrischem Teilgutachten sei ihre Arbeitsfähigkeit aktuell um mindestens 50 % eingeschränkt.
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Erwägung 5.4
 
5.4.1. Das kantonale Gericht erkannte, eine mittelgradige depressive Störung sei in der Regel therapeutisch gut angehbar und falle nur dann als invalidisierende Krankheit in Betracht, wenn sie erwiesenermassen schwer und therapieresistent sei. Dabei verwies es auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu den leichten bis mittelschweren Depressionen (BGE 140 V 193 E. 3.3 S. 197 mit Hinweis), welche mit BGE 143 V 409 und 418 geändert worden ist. Die Vorinstanz erwog jedoch ausserdem, nur in einer seltenen Konstellation sei für eine objektivierende Betrachtungs- und Prüfungsweise den normativen Anforderungen von Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG Genüge getan, wonach eine Erwerbsunfähigkeit nur vorliege, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar sei. Hierzu verwies sie auf BGE 141 V 281 E. 3.7.1 S. 295, was BGE 143 V 418 entspricht, wonach nun sämtliche psychischen Leiden, laut BGE 143 V 409 namentlich auch leichte bis mittelschwere Depressionen, einem strukturierten Beweisverfahren zu unterziehen sind.
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5.4.2. Bei der Beurteilung, ob die diagnostizierte mittelgradige depressive Störung invalidisierend wirkt, zählen als Tatsachenfeststellungen, welche das Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfen kann (vgl. E. 1 hiervor), alle Feststellungen der Vorinstanz, die auf der Würdigung von ärztlichen Angaben und Schlussfolgerungen betreffend Diagnose und Folgenabschätzung beruhen (BGE 141 V 281 E. 7 S. 308 f.). Dass die im Zusammenhang mit dem Prüfprogramm von der Vorinstanz getroffenen Sachverhaltsfeststellungen (vgl. nachfolgende E. 5.4.3) offensichtlich unrichtig sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht. Sie bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).
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5.4.3. Der Verlauf und Ausgang von Therapien sind bei der Anspruchsprüfung nach BGE 141 V 281 wichtige Schweregradindikatoren (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299 f.). So stellte die Vorinstanz in Anlehnung an das ZMB-Gutachten, welches sich an den normativen Vorgaben gemäss BGE 141 V 281 orientierte, fest, die depressive Störung sei nicht therapieresistent. Vielmehr ergebe sich aus der erst 2014 - im Anschluss an den die Rentenaufhebung ankündigenden Vorbescheid vom 25. Februar 2014 - aufgenommenen psychiatrischen Behandlung und der gutachterlichen Empfehlung, diese weiterzuführen, dass die therapeutischen und medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft seien. Dass diese folglich noch zu einer Verbesserung führen können, weist im Rahmen der Indikatoren "Behandlungserfolg oder -resistenz" nicht auf eine negative Prognose hin.
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5.4.4. Das kantonale Gericht stellte ausserdem fest, die Beschwerdeführerin verfüge trotz Selbstlimitierung über hinreichende Ressourcen, um ihre Arbeitsfähigkeit zu erhöhen (Indikator Konsistenz; BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303 f.). Laut Experten des ZMB können diese von der Versicherten denn auch mobilisiert werden. Die Gutachter berichteten ausserdem, die Versicherte habe ihre persönliche Kompetenz wie auch die Sozialkompetenz nicht aufgegeben.
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5.4.5. Die vorinstanzliche Schlussfolgerung, der mittelgradigen depressiven Störung komme kein invalidisierender Charakter zu, stellt nach dem Gesagten im Lichte der Rechtsprechung gemäss BGE 143 V 409 und 418 sowie BGE 141 V 281 keine Verletzung von Bundesrecht dar. Es bleibt bei der vorinstanzlichen Feststellung, dass die Versicherte in leichten, wechselbelastenden bis intermittierend mittelschweren Tätigkeiten 80 % arbeitsfähig ist (E. 5.2 hiervor).
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6. Das kantonale Gericht ermittelte einen Invaliditätsgrad von 17 % bei einem Valideneinkommen (BGE 135 V 58 E. 3.1 S. 59) von Fr. 52'000.- und einem Invalideneinkommen (BGE 139 V 592 E. 2.3 S. 593 f.) von Fr. 43'242.-. Die Vorinstanz nahm keinen leidensbedingten Abzug vom Tabellenlohn (BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80) vor. Soweit die Beschwerdeführerin einen solchen von 20 % resp. den Maximalabzug beantragt, erübrigen sich Weiterungen dazu. Selbst bei einem Abzug von 25 % resultiert ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 38 % (zum Runden vgl. BGE 130 V 121). Die übrigen Faktoren der Invaliditätsbemessung sind unbestritten. Zu einer näheren Prüfung von Amtes wegen besteht kein Anlass.
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Erwägung 7
 
7.1. Im Weiteren moniert die Versicherte, die IV-Stelle hätte die Rente nicht aufheben dürfen, ohne berufliche Wiedereingliederungsmassnahmen anzuordnen, da sie seit über 15 Jahren eine Invalidenrente beziehe.
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7.2. Nach der Rechtsprechung sind bei Personen, deren Rente (revisions- oder) wiedererwägungsweise herabgesetzt oder aufgehoben werden soll, nach mindestens 15 Jahren Bezugsdauer oder wenn sie das 55. Altersjahr zurückgelegt haben, in der Regel vorgängig Massnahmen zur Eingliederung durchzuführen, bis sie in der Lage sind, das medizinisch-theoretisch (wieder) ausgewiesene Leistungspotenzial mittels Eigenanstrengung auszuschöpfen und erwerblich zu verwerten (Urteile 9C_816/2013 vom 20. Februar 2014 E. 2.1; 9C_367/2011 vom 10. August 2011 E. 3.2 mit Hinweisen; vgl. auch Urteile 9C_141/2009 vom 5. Oktober 2009, in: SVR 2010 IV Nr. 9 S. 27 E. 2.3.1 und 8C_24/2012 vom 26. April 2012 E. 4.5).
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7.3. Entgegen der Beschwerdeführerin prüfte die IV-Stelle in der Verfügung vom 29. November 2016 die Frage, ob die medizinisch attestierte Arbeitsfähigkeit auf dem Weg der Selbsteingliederung verwertbar ist und bejahte sie. Sie führte dazu aus, die Versicherte sei immer im Arbeitsprozess integriert gewesen und habe aus ärztlicher Sicht die notwendigen Ressourcen, um das Arbeitspensum zu erhöhen. Die Beschwerdeführerin brachte im kantonalen Verfahren nichts dagegen vor, weshalb die Vorinstanz dazu keine Feststellungen traf. Die Versicherte begründet ihren Antrag denn auch im letztinstanzlichen Verfahren nicht weiter. Dass der Verweis der IV-Stelle auf die Selbsteingliederung bundesrechtswidrig sein soll, ist insbesondere im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin stets im Arbeitsprozess integriert war und die ZMB-Gutachter die von ihr ausgeübte Tätigkeit als angepasst und dabei eine Pensenerhöhung als zumutbar erachteten, nicht ersichtlich. Die Beschwerde ist unbegründet.
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8. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, der Aargauischen Pensionskasse APK, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 19. Juni 2018
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber
 
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