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Informationen zum Dokument  BGer 9C_126/2018  Materielle Begründung
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BGer 9C_126/2018 vom 06.07.2018
 
 
9C_126/2018
 
 
Urteil vom 6. Juli 2018
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Huber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Wyss,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 1. Dezember 2017 (IV.2016.01248).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1967 geborene A.________ meldete sich am 13. Juli 2012 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Zürich eine Abklärung beim Zentrum C.________ AG veranlasst hatte (Gutachten vom 2. September 2013), ordnete sie in der Folge bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Medexperts AG, St. Gallen, eine polydisziplinäre Expertise der Versicherten an (Gutachten vom 27. Mai 2016). Mit Verfügung vom 6. Oktober 2016 wies die Verwaltung das Leistungsbegehren von A.________ nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren ab.
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B. Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 1. Dezember 2017 ab.
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids, es seien ihr die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen, insbesondere eine Invalidenrente. Ferner ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
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Erwägungen:
 
1. Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung. Vorweg stellt sich die Frage, ob dieser gestützt auf die vorhandene medizinische Aktenlage beantwortet werden kann.
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Erwägung 2
 
2.1. Die Vorinstanz erkannte, das psychiatrische Teilgutachten des Zentrums C.________ AG vom 27. Mai 2013 sei zwar ohne Kenntnis wichtiger Vorakten erstattet worden. Es bestehe jedoch kein Grund, die darin gemachten Feststellungen zu den rheumatologischen und psychischen klinischen Befunden im Zeitpunkt der Exploration in Frage zu stellen. Im Weiteren stützte sich das kantonale Gericht auf das polydisziplinäre Gutachten der Medexperts AG vom 27. Mai 2016, welchem sie Beweiswert zuerkannte. Die Experten diagnostizierten mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine rezidivierende depressive Störung, aktuell mittelgradig mit somatischem Syndrom (ICD-10: F33.0), eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und körperlichen Faktoren (ICD-10: F45.41), eine Benzodiazepinabhängigkeit bei ständigem Substanzgebrauch (ICD-10: F13.25), chronische rezidivierende zervikospondylogene und lumbospondylogene Schmerzen, eine Dekonditionierung bei chronischen generalisierten myofascialen Schmerzen sowie einen Ganzkörperschmerz. In einer leidensangepassten Tätigkeit bescheinigten die Gutachter der Versicherten eine Arbeitsfähigkeit von 50 %.
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Erwägung 2.2
 
2.2.1. Für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei psychischen Störungen (vgl. BGE 143 V 418 und 409) definiert das für somatoforme Leiden entwickelte strukturierte Beweisverfahren systematisierte Indikatoren, die - unter Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und von Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits - erlauben, das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen einzuschätzen (BGE 141 V 281 E. 2 S. 285 ff., E. 3.4 bis 3.6 und 4.1 S. 291 ff.).
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2.2.2. Neben den durch den Rechtsanwender zu prüfenden allgemeinen beweisrechtlichen Vorgaben (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis) ergibt sich aus BGE 141 V 281 Folgendes: Die ärztliche Arbeitsfähigkeitsschätzung, zumindest ohne einlässliche Befassung mit den spezifischen normativen Vorgaben und ohne entsprechende Begründung, kann zwar den rechtlich geforderten Beweis des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 2 ATSG) nicht erbringen, weil sie weitgehend vom Ermessen des medizinisch-psychiatrischen Sachverständigen abhängt. Die medizinische Einschätzung der Arbeitsfähigkeit ist aber eine wichtige Grundlage für die anschliessende juristische Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistung der versicherten Person noch zugemutet werden kann (BGE 140 V 193 E. 3.2 S. 195). Hinsichtlich der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit haben sich sowohl die medizinischen Sachverständigen als auch die Organe der Rechtsanwendung bei ihrer Einschätzung des Leistungsvermögens an den normativen Vorgaben zu orientieren; die Gutachter im Idealfall gemäss der entsprechend formulierten Fragestellung (BGE 141 V 281 E. 5.2 S. 306 f.). Die Rechtsanwender prüfen die medizinischen Angaben frei insbesondere daraufhin, ob die Ärzte sich an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben und ob und in welchem Umfang die ärztlichen Feststellungen anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen (BGE 143 V 418 E. 6 S. 426 f.). Im Rahmen der Beweiswürdigung obliegt es den Rechtsanwendern zu überprüfen, ob in concreto ausschliesslich funktionelle Ausfälle bei der medizinischen Einschätzung berücksichtigt wurden und ob die Zumutbarkeitsbeurteilung auf einer objektivierten Grundlage erfolgte (BGE 141 V 281 E. 5.2.2; Art. 7 Abs. 2 ATSG). Eine rentenbegründende Invalidität ist nur dann anzunehmen, wenn funktionelle Auswirkungen medizinisch anhand der Indikatoren schlüssig und widerspruchsfrei festgestellt sind und somit den versicherungsmedizinischen Vorgaben Rechnung getragen wurde (BGE 141 V 281 E. 6 S. 307 f.; Urteil 8C_260/2017 vom 1. Dezember 2017 E. 4.2.4).
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2.3. Med. pract. B.________, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, diagnostizierte im psychiatrischen Teilgutachten der Medexperts AG vom 6. April 2016 unter anderem eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und körperlichen Faktoren (ICD-10: F45.41) einzig mit dem Hinweis, die geklagten Beschwerden der Versicherten könnten weder physiologisch noch körperlich vollständig erklärt werden. Eine körperliche Ursache gebe es zwar, das Ausmass der Schmerzen sei aber nicht nachvollziehbar. Damit äusserte er sich hinsichtlich des Komplexes "Gesundheitsschädigung" nicht zur Ausprägung der Befunde und Symptome und begründete die Diagnose nicht weiter. Das Gutachten erweist sich ausserdem in Bezug auf psychosoziale und soziokulturelle Umstände und die Frage, ob davon psychiatrisch unterscheidbare Befunde vorliegen (vgl. Urteil 9C_648/2017 vom 20. November 2017 E. 2.3.1 mit Hinweisen), als nicht schlüssig. Der Experte berichtete, ein Teil der psychischen Symptome sei von psychosozialen Belastungen und emotionalen Konflikten sowie vom Benzodiazepinkonsum überlagert. Da bei der Beschwerdeführerin eine langjährige Symptomatik vorliege, gehe er nicht davon aus, dass sie einzig auf die psychosozialen Belastungen und emotionalen Konflikte zurückzuführen sei. Es müsse berücksichtigt werden, dass eine Dekonditionierung und viele invaliditätsfremde Faktoren eine Rolle spielten. Gleichzeitig hielt er sinngemäss fest, die diskutierten psychosozialen Faktoren (sehr belastender Ehekonflikt) würden nicht mehr bestehen, indem die Versicherte "in der Zwischenzeit ausgezogen sei" und "einen neuen Freund" habe. Aus dem Gutachten geht nicht hervor, ob nun eine verselbstständigte Störung mit Auswirkung auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit vorliegt oder nicht und wie die vom Psychiater attestierte 50%ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit begründet wird. Des Weiteren fehlen Angaben hinsichtlich der übrigen Indikatoren (BGE 141 V 281 E. 4.3 S. 298 ff. und E. 4.4 S. 303 f.), welche ein Vorgehen im Sinne eines strukturierten Beweisverfahrens bei somatoformen Leiden für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei psychischen Störungen (vgl. BGE 143 V 418; 143 V 409) ermöglichen würden.
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2.4. Nichts anderes ergibt sich für die Expertise des Zentrums C.________ AG vom 2. September 2013. Gestützt darauf kann ebenfalls nicht beurteilt werden, wie es sich hinsichtlich der Indikatoren (BGE 141 V 281 E. 4.3 S. 298 ff. und E. 4.4 S. 303 f.) verhält; zumal die Experten den Gesundheitszustand bei der Erstattung des Gutachtens im Jahr 2013 noch nicht unter Berücksichtigung von BGE 141 V 281 bewerten konnten (vgl. Urteil 8C_676/2017 vom 28. Februar 2018 E. 6.3).
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2.5. Es ist deshalb notwendig, ein neues Gutachten einzuholen, welches den Anforderungen von BGE 141 V 281 entspricht. Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG), damit diese ein Gutachten im Sinne der Erwägungen einhole und hernach über den Leistungsanspruch befinde. Dabei wird sie die Rechtsprechungsänderung gemäss BGE 143 V 409 und 418 zu berücksichtigen haben.
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3. Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an die Vorinstanz zu weiteren Abklärung (mit noch offenem Ausgang) oder neuer Entscheidung gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie überhaupt beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder Eventualantrag gestellt wird (vgl. BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Dementsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 1. Dezember 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 6. Oktober 2016 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 6. Juli 2018
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber
 
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