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Informationen zum Dokument  BGer 9C_302/2018  Materielle Begründung
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BGer 9C_302/2018 vom 12.07.2018
 
 
9C_302/2018
 
 
Urteil vom 12. Juli 2018
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiberin Stanger.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Leo Sigg,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 28. Februar 2018 (VBE.2017.439).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die 1972 geborene A.________ meldete sich im Mai 2014 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch, insbesondere veranlasste sie eine psychiatrische Begutachtung bei med. pract. B.________ (Expertise vom 13. Juni 2016). Mit Verfügung vom 31. März 2017 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch.
1
B. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde teilweise gut. Es änderte die Verfügung vom 31. März 2017 dahingehend ab, dass es der Versicherten vom 1. Dezember 2014 bis 31. August 2016 eine halbe Rente zusprach (Entscheid vom 28. Februar 2018).
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C. A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, der Entscheid vom 28. Februar 2018 sei aufzuheben, und es seien ihr auch über den 31. August 2016 hinaus Rentenleistungen nach IVG zuzusprechen.
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Erwägungen:
 
1.1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei willkürlich (BGE 133 II 249 E. 1.2.2 S. 252).
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1.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit sowie bei der konkreten Beweiswürdigung handelt es sich um für das Bundesgericht grundsätzlich verbindliche Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen sind frei überprüfbare Rechtsfragen (Urteil 9C_194/2017 vom 29. Januar 2018 E. 3.2) die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG) und der Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352).
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2. Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht die Invalidenrente bis 31. August 2016 befristet hat bzw. ob die Beschwerdeführerin darüber hinaus Anspruch auf eine halbe Rente hat.
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3. Das kantonale Versicherungsgericht stellte für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf das psychiatrische Gutachten des med. pract. B.________ vom 13. Juni 2016 ab. Danach seien als Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leicht- bis mittelgradige Episode (ICD-10 F33.0/F33.1) und eine Agoraphobie ohne Panikstörung (ICD-10 F40.0) gestellt worden. Ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit habe der psychiatrische Experte ein Alkoholabhängigkeitssyndrom, gegenwärtig abstinent (ICD-10 F10.20) und akzentuierte Persönlichkeitszüge (ICD-10 Z73.1) diagnostiziert. Aktuell (ab der Untersuchung am 12. Mai 2016) sei von einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 30 % auszugehen, wobei sich diese Beurteilung auch auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit beziehe. Es bestehe daher (unter Berücksichtigung von Art. 88a Abs. 1 IVV) ab 1. September 2016 ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 34 %.
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Erwägung 4
 
4.1. Zunächst rügt die Beschwerdeführerin, die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung erweise sich als widersprüchlich bzw. willkürlich. Einerseits habe das kantonale Versicherungsgericht festgestellt, es komme für die Beurteilung der Schwere einer depressiven Episode nicht allein auf die Anzahl der Symptome an, sondern auch auf deren Ausprägung; andererseits habe es dann selber einzig auf die Anzahl der Kriterien nach ICD-10 abgestellt.
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Die Vorinstanz stellte fest, dass der psychiatrische Gutachter leichtere Schwankungen im Beschwerdebild insofern hinreichend berücksichtigt habe, als dass er die Schwere der Depression aktuell als leicht bis mittelgradig qualifiziert habe, obwohl bei seiner Untersuchung lediglich fünf Kriterien nach ICD-10 erfüllt gewesen seien, was definitionsgemäss für eine eher leichtgradige depressive Symptomatik spreche. Daraus darf nun aber nicht geschlossen werden, die Vorinstanz habe einzig auf die Anzahl der Kriterien abgestellt. Vielmehr hat sie im Einklang mit der Rechtsprechung (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.1 S. 298 f.) erwogen, dass es für die Beurteilung des Schweregrades (auch) auf die Ausprägung der Symptome ankomme, und stützte sich hierzu auf die umfassende Beurteilung des med. pract. B.________ (vgl. nachfolgend E. 4.2.2). Eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung liegt damit nicht vor.
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4.2. Sodann werden im Zusammenhang mit dem Beweiswert des psychiatrischen Gutachtens verschiedene Rügen vorgebracht, auf welche nachfolgend einzugehen ist.
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4.2.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, es hätte einer neuropsychologischen Abklärung bedurft. Sie habe über erhebliche kognitive Defizite geklagt, welche vom Gutachter nur marginal berücksichtigt worden seien. Auch die Vorinstanz habe sich mit den geklagten Einschränkungen nicht auseinandergesetzt.
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Die Vorinstanz erwog dazu, solche testpsychologischen Zusatzuntersuchungen stellten gemäss den Qualitätsleitlinien für psychiatrische Gutachten in der Eidgenössischen Invalidenversicherung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) lediglich einen Zusatzbefund dar und seien nicht in jedem Fall indiziert. Nachdem sich med. pract. B.________ aufgrund einer eingehenden, dreieinhalb Stunden dauernden Untersuchung von den geklagten Beschwerden ein umfassendes Bild habe verschaffen können, habe er über die notwendigen Kenntnisse verfügt, um den Gesundheitszustand der Versicherten beurteilen zu können. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass er auf weitergehende Abklärungen im Sinne einer neuropsychologischen Untersuchung verzichtet habe, denn davon seien keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen. Aus dem Gutachten ergibt sich zudem, dass sich kognitive Defizite grobkursorisch nicht hätten eruieren lassen. Die Konzentration hätte insbesondere über die gesamte Gesprächsdauer aufrechterhalten werden können, obschon die Versicherte über subjektive Konzentrationsstörungen berichtet habe. Ebenso fänden sich keine Hinweise für Gedächtnisstörungen oder Schwierigkeiten in der Auffassung. Formal gedanklich hätten sich keine Auffälligkeiten gezeigt. Das Denken sei nicht verlangsamt, gehemmt oder eingeengt gewesen.
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Vor diesem Hintergrund ist es nicht bundesrechtswidrig, dass die Vorinstanz auf eine neuropsychologische Abklärung verzichtete.
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4.2.2. Weiter moniert die Beschwerdeführerin, es fehle in der Expertise eine vertiefte Diskussion über die Ausprägung der Symptome.
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Der psychiatrischen Expertise ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin bei der Untersuchung über einen depressiven Affekt, Insuffizienz- und Schuldgefühle, Erschöpfungsgefühle, eine leicht verminderte Freudfähigkeit und einen Libidoverlust berichtet habe, womit fünf Kriterien nach ICD-10 erfüllt seien, was eher für das Vorhandensein einer leichtgradigen depressiven Symptomatik spreche. Im durchgeführten Beck-Depressions-Inventar (BDI) habe sich hingegen ein Wert gezeigt, der eher für eine schwere depressive Symptomatik spreche. Hier sei darauf hinzuweisen, dass es sich beim BDI um ein Selbstbeurteilungsinstrument handle, welches nicht für Begutachtungssituationen validiert sei und somit mit Vorsicht zu interpretieren sei. Gemäss der Hamilton Depressionsskala (HAMD), einem Fremdbeurteilungsinstrument, habe die Versicherte 15 Punkte erzielt, was eher für eine leichte depressive Symptomatik spreche. Zu berücksichtigen seien hier auch gesamtklinisch die von der Versicherten geschilderten Fremdheitsgefühle und der Verlust des Selbstgefühls sowie die psychotischen Symptome, die aus gutachterlicher Sicht der depressiven Störung zugeordnet werden könnten. In der Gesamtschau sei somit von einer leicht- bis allenfalls mittelgradigen depressiven Symptomatik auszugehen.
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Damit hat sich der psychiatrische Gutachter eingehend mit der Symptomatik auseinandergesetzt und eine umfassende Beurteilung des psychischen Gesundheitszustandes - unter Einbezug von Messinstrumenten - vorgenommen. Es ist nicht bundesrechtswidrig, wenn die Vorinstanz darauf abstellte.
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4.2.3. Unzutreffend erweist sich auch der Einwand, die während der Begutachtung durchgeführten psychiatrischen Tests würden ein erheblich anderes Ergebnis ausweisen als die Einschätzung des Experten. Was die beiden Instrumente BDI und HAMD angeht, kann auf das soeben Dargelegte verwiesen werden (E. 4.2.2). Soweit die Beschwerdeführerin sich auf das (ebenfalls) durchgeführte Mini-ICF-APP (Fremdbeurteilungsinstrument zur quantifizierten Beurteilung des aktuellen Fähigkeitsniveaus) bezieht und geltend macht, bei sechs der 13 "Items" ("Fähigkeitsdimensionen") bestünde eine mittelgradige und nur bei einem eine leichte Beeinträchtigung, lässt sie unerwähnt, dass bei weiteren sechs "Items" (überhaupt) keine Beeinträchtigung vorgelegen hat.
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4.2.4. Ebenso wenig vermag die Rüge zu verfangen, die Expertise habe sich zu wenig mit dem Hometreatment der Psychiatrischen Dienste C.________ auseinandergesetzt, welches die Beschwerdeführerin nicht nur während der Begutachtung im Mai 2016, sondern bereits wieder im August/September 2016 in Anspruch habe nehmen müssen. Das Hometreatment sei ein klarer Hinweis darauf, dass nicht nur eine leichte depressive Episode vorgelegen habe, wie der Gutachter annahm. Die Beschwerdeführerin übersieht mit ihrer Argumentation, dass der psychiatrische Experte nicht von einer leichten depressiven Episode, sondern von einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leicht- bis mittelgradige Episode ausgegangen ist, wobei er gemäss vorinstanzlicher Feststellung auch geringfügige Schwankungen berücksichtigte (vgl. E. 4.1). Anlässlich der Untersuchung am 12. Mai 2016 gab die Beschwerdeführerin sodann an, dass es ihr nun wieder ein wenig besser gehe, nachdem sie aufgrund von verschiedenen Belastungen das Hometreatment "aufgesucht" habe. Gemäss Austrittsbericht der Psychiatrischen Dienste C.________ vom 20. Mai 2016 habe die Beschwerdeführerin in einem stabilisierten Zustand entlassen werden können. Die Stimmung sei aufgehellter gewesen, und sie habe den Umgang mit ihren Emotionen besser regulieren können. Hinzu kommt, dass die Ärzte der Psychiatrischen Dienste C.________ in ihren Berichten vom 20. Mai 2016 und 19. August 2016 eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode sowie einen Verdacht auf akzentuierte Persönlichkeit mit emotional-instabilen Zügen diagnostizierten, ohne sich jedoch zur Auswirkung dieser Diagnosen auf die Arbeitsfähigkeit zu äussern.
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4.2.5. Nicht richtig ist die Behauptung, der Gutachter sei davon ausgegangen, "dass zwar über die Jahre hinweg eine Persönlichkeitsstörung bestand, diese aber keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit hatte." Der Experte hielt vielmehr fest, diese Diagnose liesse sich unter anderem angesichts der guten Funktionsfähigkeit in verschiedenen Bereichen von gutachterlicher Seite nicht abschliessend bestätigen, es könne jedoch zumindest nicht von einer Persönlichkeitsstörung mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden.
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4.2.6. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin handelt es sich sodann nicht um einen Widerspruch, sondern um eine differenzierte Betrachtungsweise, wenn der Gutachter eine Aggressivität und Suizidalität im engeren Sinne verneinte, gleich im Anschluss darauf aber feststellte, dass es seit Mitte 2015 in Anspannungszuständen insofern zu selbstschädigendem Verhalten komme, als dass sich die Beschwerdeführerin blutig kratze.
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4.2.7. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, "an eine allfällige Chronifizierung der gesundheitlichen Probleme" werde im Gutachten "kein Wort verschwendet", legt sie nicht dar, inwiefern eine solche vorliegt. Angesichts ihrer Formulierung scheint sie selbst nicht ohne Weiteres davon auszugehen.
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4.2.8. Nichts zu ihren Gunsten ableiten kann sie schliesslich aus dem Umstand, dass der psychiatrische Experte für seine Feststellung, die Beschwerdeführerin könne sich auf neue Kontakte einlassen, als einziges Beispiel die Begutachtungssituation nannte. Med. pract. B.________ hat eine umfassende versicherungsmedizinische Beurteilung vorgenomme n (Gutachten S. 27 f.). Die besagte Feststellung ist nur ein Element von vielen dargestellten.
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5. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde unbegründet ist.
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6. Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und dem Columna Sammelstiftung Client Invest, Winterthur, schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 12. Juli 2018
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Pfiffner
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Die Gerichtsschreiberin: Stanger
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