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Informationen zum Dokument  BGer 9C_496/2018  Materielle Begründung
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BGer 9C_496/2018 vom 21.11.2018
 
 
9C_496/2018
 
 
Urteil vom 21. November 2018
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiberin Stanger.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Deecke,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 22. Mai 2018 (5V 17 420).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Verfügung vom 27. Juni 2014 lehnte die IV-Stelle Luzern das Leistungbegehren des 1988 geborenen A.________ ab (bestätigt mit Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 31. März 2016). Mit Schreiben vom 16. September 2015 machte der Versicherte eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes geltend. Nachdem er im Januar 2016 ein weiteres Mal eine Verschlechterung meldete, trat die IV-Stelle auf die Neuanmeldung ein und traf weitere Abklärungen. Mit Verfügung vom 4. August 2017 verneinte sie erneut einen Rentenanspruch.
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B. Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 22. Mai 2018 in dem Sinne gut, dass es die angefochtene Verfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit diese nach weiteren Abklärungen gemäss den Erwägungen neu verfüge.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, Ziffer 1 des Dispositivs des Entscheides des Kantonsgerichts Luzern sei insofern abzuändern, als gemäss den Erwägungen der Bestand eines Anspruchs auf eine ganze Rente per 1. März 2016 festgehalten werde. Ferner beantragt sie die Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
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A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Zudem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen wird und die Rückweisung auch nicht einzig der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient (vgl. dazu Urteil 9C_684/2007 vom 27. Dezember 2007 E. 1.1 mit Hinweisen), um einen - selbstständig eröffneten - Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 133 V 477 E. 4. 2 S. 481 f. mit Hinweisen). Die Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).
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1.2. Grundsätzlich ist nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides anfechtbar. Verweist das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen, werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheids weist die Sache an die IV-Stelle zurück, "damit sie nach weiteren Abklärungen gemäss den Erwägungen neu verfüge". Die Vorinstanz ist in Bezug auf das Rentenbegehren in ihren Erwägungen zum Ergebnis gelangt, dass der Versicherte ab dem 1. März 2016 Anspruch auf eine befristete ganze Rente der Invalidenversicherung habe und die IV-Stelle im Rahmen ihrer Abklärungspflicht das Ende dieses Anspruchs noch zu bestimmen habe. Im Umstand, dass die IV-Stelle dem Versicherten unabhängig vom Ergebnis ihrer Abklärungen eine befristete ganze Rente zuzusprechen hat, ist offenkundig ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne des Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu erblicken. Damit wird der Beurteilungsspielraum der Verwaltung auf die Frage beschränkt, wie lange der Rentenanspruch des Versicherten besteht (vgl. Urteil 8C_535/2018 vom 29. Oktober 2018 E. 1.2). Auf die Beschwerde der IV-Stelle ist daher einzutreten.
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Anspruch des Versicherten auf eine befristete ganze Rente der Invalidenversicherung bejahte. Der Anspruch des Versicherten auf berufliche Massnahmen steht ausser Diskussion (Art. 107 Abs. 1 BGG).
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Erwägung 3
 
3.1. Das Kantonsgericht erwog, die IV-Stelle sei aufgrund der vom Versicherten glaubhaft gemachten Veränderung des Gesundheitszustandes im massgebenden Vergleichszeitraum vom 27. Juni 2014 bis 4. August 2017 auf die Neuanmeldung eingetreten. Es sei anschliessend an ihr gewesen, die notwendigen materiellen Abklärungen zum medizinischen Sachverhalt zu veranlassen, um den Rentenanspruch umfassend zu prüfen. Sie habe zwar einige Arztberichte eingeholt, einzig dem Bericht der Hausärztin sei jedoch eine konkrete Aussage zur Arbeitsfähigkeit zu entnehmen gewesen. Auf diese könne ohnehin nicht abgestellt werden, da die Ärztin unbesehen und ohne Begründung eine durchgehende vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit seit März 2011 attestiert habe. Die Berichte des behandelnden Prof. Dr. med. B.________ enthielten keine konkreten Aussagen zur Arbeitsfähigkeit oder zu einem zumutbaren Belastungsprofil. Von ihm liege lediglich ein Zeugnis über eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit vom 1. März (richtig: 13. März) bis 27. April 2016 vor. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der RAD-Arzt Dr. med. C.________ unter diesen Umständen gestützt auf die Akten und ohne eigene Untersuchung zum Schluss gekommen sei, es sei ein Status quo ante erreicht (Protokolleintrag vom 19. April 2017). Den Akten sei seit der Operation im März 2016 keine durchgängige Beurteilung der Arbeitsfähigkeit eines Facharztes zu entnehmen, der den Versicherten auch tatsächlich klinisch untersucht habe. Die Sache sei daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese ergänzende Abklärungen zur umfassenden Erhebung des Sachverhalts vornehme und anschliessend über den Rentenanspruch neu entscheide.
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3.2. Dem fügte das Kantonsgericht an, es sei "gemäss der gesamten Umstände bereits ein Rentenanspruch eingetreten". Die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG sei erfüllt, da der Versicherte bei der erstmaligen Rentenablehnung gemäss Verfügung vom 27. Juni 2014 unbestrittenermassen für regelmässig mittel- bis schwerbelastende berufliche Tätigkeiten vollumfänglich arbeitsunfähig gewesen sei und sich seither daran nichts geändert habe. Unter diesen Umständen bewirke eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes einen Rentenanspruch, sobald die Invalidität mindestens 40 % betrage und die übrigen Voraussetzungen (insbesondere Art. 29 Abs. 1 IVG) erfüllt seien (vgl. Urteile 9C_878/2017 vom 19. Februar 2018 E. 5.3 und 9C_412/2017 vom 5. Oktober 2017 E. 4.3). Nachdem der Versicherte bereits am 16. September 2015 erstmals eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes geltend gemacht habe und dieses Schreiben folglich als Neuanmeldung entgegenzunehmen gewesen sei, sei die sechsmonatige Karenzfrist nach Art. 29 Abs. 1 IVG am 16. März 2016 abgelaufen. Der Versicherte sei am 14. März 2016 operiert worden, womit zu diesem Zeitpunkt eine vollumfängliche Arbeits- und damit auch Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe. Damit habe per 1. März 2016 ein Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung bestanden, dessen Dauer die IV-Stelle noch abzuklären habe.
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Erwägung 4
 
4.1. Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, so wird eine neue Anmeldung nach Art. 87 Abs. 3 IVV nur geprüft, wenn die Voraussetzungen gemäss Abs. 2 derselben Bestimmung erfüllt sind. Danach ist im Gesuch glaubhaft zu machen, dass sich der Grad der Invalidität in anspruchserheblicher Weise geändert hat (BGE 130 V 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen). Tritt die Verwaltung auf die Neuanmeldung ein, so klärt sie die Sache materiell ab und vergewissert sich, ob die glaubhaft gemachte Veränderung des Invaliditätsgrades auch tatsächlich eingetreten ist. Stellt sie fest, dass der Invaliditätsgrad nach Erlass der früheren rechtskräftigen Ablehnungsverfügung keine Veränderung erfahren hat, so weist sie das Gesuch ab. Andernfalls prüft sie zunächst noch, ob die festgestellte Veränderung genügt, um nunmehr eine anspruchsbegründende Invalidität zu bejahen, und beschliesst danach über den Anspruch. Im Beschwerdefall obliegt die gleiche materielle Prüfungspflicht dem Richter (BGE 117 V 198 E. 3a S. 198; 109 V 108 E. 2 S. 114).
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Im Rahmen einer Neuanmeldung sind die Revisionsregeln analog anwendbar (statt vieler: Urteil 9C_682/2017 vom 6. September 2018 E. 4.2.1). Ändert sich der Invaliditätsgrad eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes revidierbar. Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10f. mit Hinweisen).
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Erwägung 4.2
 
4.2.1. Die Vorinstanz bejahte einen Rentenanspruch des Versicherten und ging damit - zumindest implizit - vom Vorliegen eines Revisionsgrundes im Sinne einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes aus. Dies würde im vorliegenden Fall voraussetzen, dass der Versicherte nicht nur für mittel- bis schwerbelastende Tätigkeiten arbeitsunfähig war, für welche unbestrittenermassen bereits im Zeitpunkt der rechtskräftigen Rentenablehnung am 27. Juni 2014 eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit bestand (vgl. E. 3.2), sondern - in relevantem Ausmass - auch für angepasste Tätigkeiten, und die verschlechterte Situation länger als drei Monate andauerte (vgl. Art. 88a IVV). Eine entsprechende anspruchsrelevante Verschlechterung hat jedoch weder die Vorinstanz festgestellt, noch ergibt sich eine solche aus den Akten. Soweit die Vorinstanz festhielt, der Versicherte sei "ab dem 13. April 2015 aufgrund neu aufgetretener Rückenschmerzen wieder vollumfänglich krankgeschrieben" worden, geht aus den Akten einzig eine vom 13. bis 30. April 2015 dauernde Arbeitsunfähigkeit hervor. In Bezug auf die im März 2016 durchgeführte Operation wurde - wie dargelegt (E. 3.1) - lediglich eine Arbeitsunfähigkeit vom 13. März bis 27. April 2016 bescheinigt. Da die Vorinstanz diesbezüglich den Sachverhalt als nicht genügend erstellt erachtete, wies sie die Sache zwecks ergänzenden Abklärungen an die IV-Stelle zurück. Unter diesen Umständen durfte sie nicht ohne Weiteres vom Vorliegen eines Revisionsgrundes ausgehen.
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4.2.2. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass das Kantonsgericht Bundesrecht verletzte, indem es einen Rentenanspruch des Versicherten ab dem 1. März 2016 bejahte. Auf die weiteren Vorbringen der beschwerdeführenden IV-Stelle, insbesondere betreffend die Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG im Rahmen einer Neuanmeldung, braucht daher nicht näher eingegangen zu werden. Die Verwaltung wird zu prüfen haben, ob die materiellen Revisionsvoraussetzungen vorliegen und gegebenenfalls über das Rentenbegehren neu verfügen. In diesem Sinne ist die Beschwerde begründet.
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5. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch der IV-Stelle um Gewährung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
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6. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.
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In Bezug auf das vorangegangene Verfahren gilt der Beschwerdegegner jedoch nach wie vor als obsiegende Partei. Die vorinstanzliche Kostenverlegung (Dispositiv-Ziffer 2) und die Zusprechung einer Parteientschädigung zu Gunsten des Versicherten (Dispositiv-Ziffer 3) sind daher zu belassen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG; Urteil 9C_515/2009 vom 14. September 2009 E. 5 mit Hinweis).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids des Kantonsgerichts Luzern vom 22. Mai 2018 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 4. August 2017 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Verfügung an die Verwaltung zurückgewiesen.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen, und es wird dem Beschwerdegegner Rechtsanwalt Rainer Deecke als Rechtsbeistand beigegeben.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4. Rechtsanwalt Rainer Deecke wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 21. November 2018
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Die Gerichtsschreiberin: Stanger
 
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