Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Bearbeitung, zuletzt am 08.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 6B_1034/2019 vom 10.09.2020
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
 
6B_1034/2019
 
 
Urteil vom 10. September 2020
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichterin van de Graaf,
 
Gerichtsschreiber Moses.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Nicole Fässler,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
1. Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
2. B.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Giusto,
 
Beschwerdegegnerinnen.
 
Gegenstand
 
Sexuelle Nötigung, Beweiswürdigung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, vom 17. Mai 2019 (SST.2018.197 / II / CM).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Das Jugendgericht Baden erklärte A.________ am 12. Dezember 2017 der sexuellen Nötigung schuldig. Es bestrafte ihn mit einer persönlichen Leistung von 5 Tagen, deren Vollzug es bedingt aufschob. Die Zivilklage von B.________ verwies es auf den Zivilweg.
B. Gegen das Urteil des Jugendgerichts erhob A.________ Berufung. Das Obergericht des Kantons Aargau wies diese am 17. Mai 2019 ab.
C. A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, er sei vom Vorwurf der sexuellen Nötigung freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
B.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Das Obergericht und die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten auf eine Vernehmlassung. A.________ replizierte.
 
1. Der Beschwerdeführer reichte erstmals vor Bundesgericht eine Stellungnahme von Prof. Dr. C.________ ein. Soweit der Beschwerdeführer darauf Bezug nimmt, ist auf seine Vorbringen nicht einzugehen (Art. 99 Abs. 1 BGG).
 
Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe seinen Antrag, den Austrittsbericht des Aufenthalts der Beschwerdegegnerin 2 in der Psychiatrischen Klinik Königsfelden einzuholen, zu Unrecht abgelehnt. Er macht geltend, verschiedene psychiatrische Erkrankungen seien geeignet, einen Einfluss auf die Aussagequalität zu haben. Die Beschwerdegegnerin 2 habe anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung gesagt, dass sie Flashbacks habe und bei Erinnerungsfetzen nicht mehr unterscheiden könne, was von damals und was aktuell die Realität sei. Sie schildere damit Umstände, die geeignet seien, ihre Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit zu beeinträchtigen (Beschwerde, S. 31 f.).
Die Vorinstanz erwägt, es sei nicht ersichtlich, was der Beschwerdeführer aus dem Austrittsbericht herleiten wolle. Es würden keine Indizien dafür bestehen, dass die Beschwerdegegnerin 2 wegen einer ernsthaften geistigen Störung oder sonstiger Umstände in ihrer Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit beeinträchtigt und zur wahrheitsgemässen Aussage nicht fähig oder nicht willens sein sollte. Die Beschwerdegegnerin 2 habe anlässlich der Berufungsverhandlung selbst ausgeführt, dass bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden sei, mit den Aspekten die dazu gehören würden: Depression, Angst und Panikattacken (Urteil, S. 22).
 
Erwägung 2.2
 
2.2.1. Gemäss Art. 3 Abs. 1 der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 (JStPO, SR 312.1) sind die Bestimmungen der Strafprozessordnung anwendbar, sofern dieses Gesetz keine besondere Regelung enthält. Gemäss Art. 6 Abs. 1 StPO klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab. Über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig, der Strafbehörde bekannt oder bereits rechtsgenügend erwiesen sind, wird nicht Beweis geführt (Art. 139 Abs. 2 StPO). Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 107 StPO) räumt dem Betroffenen das persönlichkeitsbezogene Mitwirkungsrecht ein, erhebliche Beweise beizubringen, mit solchen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise mitzuwirken. Dem Mitwirkungsrecht entspricht die Pflicht der Behörden, die Argumente und Verfahrensanträge der Parteien entgegenzunehmen und zu prüfen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Untersuchungsgrundsatzes im Sinne von Art. 6 StPO liegt nicht vor, wenn eine Behörde auf die Abnahme beantragter Beweismittel verzichtet, weil sie aufgrund der bereits abgenommenen Beweise ihre Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener (antizipierter) Beweiswürdigung annehmen kann, dass ihre Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde (BGE 143 III 297 E. 9.3.2; BGE 141 I 60 E. 3.3; Urteil 6B_811/2019 vom 15. November 2019 E. 1.5.2).
2.2.2. Autosuggestive Prozesse haben - nach der Literatur - ihren Ausgangspunkt häufig in einem schlechten psychischen Befinden des Betroffenen. Oft besteht das Bedürfnis, eine Erklärung für die eigenen Beschwerden zu finden. Vermeintliche Erklärungen, bei denen erkennbare äussere Umstände oder - wie dies bei Sexualdelikten der Fall ist - schuldige Dritte identifiziert werden, können in dieser Situation der Unsicherheit erleichternd wirken (RENATE VOLBERT, Suggestion, in: Ludewig/Baumer/Tavor [Hrsg.], Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, 2017, S. 413 ff., 418). Erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen unterscheiden sich nicht zwingend bezüglich ihrer Qualität, jedoch in ihrem Verlauf, weshalb eine Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung notwendig ist (LUDEWIG/BAUMER/TAVOR, Einführung in die Aussagepsychologie, in: Ludewig/Baumer/Tavor [Hrsg.], Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, 2017, S. 17 ff., 76). Liegen suggestive Bedingungen vor, ist zu prüfen, ob auch die Erstaussage durch diese beeinflusst worden ist oder ob suggestive Befragungen erst als Reaktion auf eine erste Aussage erfolgten. Lässt sich in letzterem Fall keine wesentliche Veränderung der Aussage feststellen, kann gegebenenfalls ein Erlebnisbezug substantiiert werden. Lagen hingegen gravierende suggestive Bedingungen bereits vor der Erstbekundung vor, wird eine Aussage nicht zu substantiieren sein; eine merkmalorientierte Inhaltsanalyse ist in diesem Fall überflüssig (VOLBERT, a.a.O, S. 423 f.).
Die Beschwerdegegnerin 2 erstatte am 1. April 2015 Anzeige für eine Straftat, die im August 2008 stattgefunden haben soll. Über den angeblichen Übergriff redete sie aber bereits ab dem Jahr 2012 mit mindestens vier Personen. Sie befand sich in psychologischer Behandlung und hielt sich in einer psychiatrischen Klinik auf. Darüber hinaus berichtete sie selber, dass sie Flashbacks habe und bei Erinnerungsfetzen nicht mehr unterscheiden könne, was von damals und was aktuell die Realität sei (Akten Bezirksgericht, pag. 39). Die Frage einer allfälligen (Auto-) Suggestion kann unter diesen Umständen nicht offenbleiben.
Der angefochtene Entscheid entbehrt einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob suggestive Umstände bestanden, welche das Aussageverhalten der Beschwerdegegnerin 2allenfalls beeinflusst haben könnten. Der Antrag, den Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik Königsfelden einzuholen, stand im Zusammenhang mit dieser Frage, weshalb die Vorinstanz ihn nicht ablehnen durfte, ohne den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zu verletzen. Bei der Aussage der Beschwerdegegnerin 2, sie leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich - wie der Beschwerdeführer zutreffend rügt - um eine blosse Parteibehauptung. Der angefochtene Entscheid ist bereits aus diesem Grund aufzuheben, womit es sich erübrigt, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen.
3. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Für das bundesgerichtliche Verfahren sind die Kosten der unterliegenden Partei, jedoch nicht dem Kanton, aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau und die Beschwerdegegnerin 2 haben dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteient schädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 17. Mai 2019 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
2. Der Beschwerdegegnerin 2 werden Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- auferlegt.
 
3. Die Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- an den Beschwerdeführer tragen je zur Hälfte der Kanton Aargau und die Beschwerdegegnerin 2 unter solidarischer Haftung.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 10. September 2020
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Moses