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Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 9C_365/2021 vom 19.01.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
9C_365/2021
 
 
Urteil vom 19. Januar 2022
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
handelnd durch B.________, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Michael Walder,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 28. April 2021 (VV.2020.218).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Die am 7. Dezember 1954 geborene A.________ bezieht seit 1. Januar 2019 eine Altersrente. Am 31. Juli 2019 ersuchte sie die IV-Stelle des Kantons Thurgau um Verlängerung der Kostengutsprache für orthopädische Massschuhe unter Beilage eines Kostenvoranschlages der C.________ AG vom 30. Juli 2019 im Betrag von Fr. 5513.15. Die zuständige Ausgleichskasse des Kantons Thurgau verneinte einen Anspruch (Verfügung vom 26. August 2019, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 12. August 2020).
B.
Beschwerdeweise liess A.________, vertreten durch ihre Beiständin, beantragen, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und die Ausgleichskasse zu verpflichten, die Kosten für orthopädische Massschuhe zu übernehmen. Eventualiter sei die Angelegenheit zu weiteren Abklärungen an die Kasse zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 28. April 2021 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Verwaltung zu verpflichten, die Kosten für orthopädische Massschuhe zu übernehmen. Eventualiter sei die Sache zu ergänzenden Abklärungen an die Vorinstanz oder an die Kasse zurückzuweisen.
Die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf orthopädische Massschuhe verneinte.
 
Erwägung 3
 
3.1. Gemäss Art. 43quater AHVG bestimmt der Bundesrat, unter welchen Voraussetzungen Bezügerinnen und Bezüger von Altersrenten oder Ergänzungsleistungen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz, die für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedürfen, Anspruch auf Hilfsmittel haben (Abs. 1). Er bezeichnet die Hilfsmittel, welche die Versicherung abgibt oder an welche sie einen Kostenbeitrag gewährt; er regelt die Abgabe sowie das Verfahren und bestimmt, welche Vorschriften des IVG anwendbar sind (Abs. 3).
3.2. Das Departement des Innern regelt die Voraussetzungen für die Abgabe von Hilfsmitteln an Altersrentner, die Art der abzugebenden Hilfsmittel sowie das Abgabeverfahren (Art. 66ter Abs. 1 AHVV). Die Art. 14bis und 14ter IVV gelten sinngemäss (Abs. 2).
3.3. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung (HVA; SR 831.135.1) sieht vor, dass in der Schweiz wohnhafte Bezüger von Altersrenten der AHV, die für die Tätigkeit in ihrem Aufgabenbereich, für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder für die Selbstsorge auf Hilfsmittel angewiesen sind, Anspruch auf die in der Liste im Anhang angeführten Leistungen haben; die Liste umschreibt Art und Umfang der Leistungen für jedes Hilfsmittel abschliessend. Ziff. 4.51 der Liste der Hilfsmittel im Anhang der HVA erwähnt orthopädische Massschuhe und orthopädische Serienschuhe einschliesslich Fertigungskosten, sofern sie einer pathologischen Fussform oder Fussfunktion individuell angepasst sind oder einen orthopädischen Apparat ersetzen (wobei die Leistung höchstens alle zwei Jahre beansprucht werden kann und ein früherer Ersatz auf ärztliche Begründung hin möglich ist).
3.4. Für die in der Schweiz wohnhaften Bezüger von Altersrenten, die bis zum Entstehen des Anspruchs auf eine Altersrente Hilfsmittel oder Ersatzleistungen nach den Art. 21 oder 21bis IVG erhalten haben, bleibt gemäss Art. 4 HVA der Anspruch auf diese Leistungen in Art und Umfang bestehen, solange die massgebenden Voraussetzungen weiterhin erfüllt sind und soweit die vorliegende Verordnung nichts anderes bestimmt; im Übrigen gelten die entsprechenden Bestimmungen der Invalidenversicherung sinngemäss.
4.
Das kantonale Gericht verneinte einen Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin mit der Begründung, die orthopädischen Massschuhe dienten nicht der Fortbewegung und ebenso wenig der Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder der Selbstsorge. Die Beschwerdeführerin sei nicht mehr gehfähig und könne auch mit den beantragten orthopädischen Massschuhen nicht gehen. Darüber hinaus sei sie auch nicht in der Lage, selbst zu stehen. Die Transfers vom bzw. in den Elektrorollstuhl könne sie nicht selbstständig vornehmen. Sie sei dafür auf die Hilfe von zwei Pflegepersonen angewiesen; die eine stabilisiere den "Eulenburg" und die andere positioniere die Füsse. Ein auf diese Weise von Drittpersonen vorgenommener Transfer stelle keine Fortbewegung im Sinne von Art. 43quater Abs. 1 AHVG bzw. Art. 21 Abs. 2 IVG dar.
5.
Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr selber gehen kann, auch nicht einzelne Schritte (vgl. dazu Stellungnahme des Dr. med. D.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 22. August 2019; Bericht der Universitätsklinik E.________ vom 14. Juli 2020). Wie sie zu Recht geltend macht, wurde im angefochtenen Entscheid indessen offensichtlich unrichtig festgehalten, dass sie auch nicht mehr selber stehen kann. So bestätigte Dr. med. D.________ am 22. August 2019 eine (nicht näher präzisierte) erhaltene Stehfähigkeit. Auch die Ärzte der Universitätsklinik E.________ äusserten sich in ihrem Bericht vom 14. Juli 2020 dahingehend, dass mit orthopädischen Massschuhen das aufgrund der vorliegenden Fussdeformität, der konsekutiven Instabilität und der Schmerzen nicht mehr gegebene Stehvermögen für den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl wieder hergestellt werden könne. Die in der Beschwerde kritisierte vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung ist mithin dahingehend zu korrigieren, dass die Versicherte mit den orthopädischen Massschuhen, wenn auch nur für kurze Zeit, in der Lage ist, selbstständig zu stehen.
 
Erwägung 6
 
6.1. Im Rahmen der im Anhang zur HVI und zur HVA angeführten Listen besteht Anspruch auf Hilfsmittel, soweit sie für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder die Selbstsorge notwendig sind. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der versicherten Person nicht zugemutet werden kann, sich ohne den beanspruchten Gegenstand fortzubewegen, mit der Umwelt in Kontakt zu bleiben oder für sich zu sorgen, und wenn die versicherte Person willens und fähig ist, mit Hilfe des beanspruchten Gegenstandes einen dieser Zwecke zu erreichen (Urteile 9C_70/2013 vom 30. Dezember 2013 E. 3.2 und 8C_531/2009 vom 23. Oktober 2009 E. 4.2, je mit Hinweis auf EVGE 1968 S. 2018 E. 3d).
6.2. Die Beschwerdeführerin lässt vorbringen, die orthopädischen Massschuhe dienten bei ihr insofern der Fortbewegung, als die mit ihnen für kurze Zeit wiederhergestellte Stehfähigkeit (vgl. dazu E. 5) den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl erst ermögliche. In diesem Sinne stellten sie eine "conditio sine qua non" bzw. ein "Puzzleteil" für die Fortbewegung dar. So habe auch das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass ein Hilfsmittel, welches ein Versicherter für den Transfer zwischen Dusche und Schwimmbad benötige, der Fortbewegung diene (ZAK 1985 S. 168 ff.). Es könne sich bei den orthopädischen Massschuhen nicht anders verhalten. Da die Notwendigkeit zur Erfüllung eines gesetzlich geschützten Zweckes damit erstellt sei, bestehe Anspruch auf eine entsprechende Hilfsmittelversorgung.
6.3. Dem von der Beschwerdeführerin zitierten, in ZAK 1985 S. 168 ff. publizierten Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 26. September 1984 lag der Fall eines Versicherten zugrunde, der (zur Schonung seines im Alltag verwendeten Gehapparates aus Metall und Leder) Kunststoffschienen beantragte. Diese befähigten ihn, den Weg von der Dusche zum Schwimmbassin selbstständig zurückzulegen, und ermöglichten ihm damit die Fortbewegung, womit sie sich innerhalb der Zielrichtung des Art. 21 Abs. 2 IVG bewegten (E. 2b und 3). Da die Beschwerdeführerin indessen auch mit den orthopädischen Massschuhen nicht gehen kann und insbesondere auch die kurze Strecke zwischen dem Bett und dem Rollstuhl nicht ohne fremde Hilfe zu überwinden vermag, ergibt sich aus diesem Urteil nichts zu ihren Gunsten.
6.4. Das Bundesgericht hatte indessen bereits zwei Fälle zu entscheiden, die ähnlich gelagert waren wie der hier zu beurteilende (wobei sich die Vergleichbarkeit der Sachverhalte erst bei einem Blick in die den entsprechenden bundesgerichtlichen Urteilen zugrunde liegenden vorinstanzlichen Entscheide zeigt). Diese betrafen zwar nicht orthopädische Schuhe, sondern Beinorthesen, doch haben die damals dargelegten Grundsätze für beide Hilfsmittelkategorien Gültigkeit.
Im Urteil 8C_531/2009 vom 23. Oktober 2009 ging es um eine Versicherte, welche mit den als Hilfsmittel beantragten Ober- und Unterschenkelorthesen nicht selber gehen, aber selber stehen konnte. Die mittels Orthesen wiederhergestellte Stehfähigkeit wirkte sich (nach den Feststellungen im zugrunde liegenden kantonalen Entscheid) unter anderem insofern positiv auf die Fortbewegung aus, als die Versicherte für den Transport vom Bett in den Rollstuhl nicht mehr angehoben werden musste. Das Urteil 9C_70/2013 vom 30. Dezember 2013 befasste sich mit dem Fall eines Versicherten, bei welchem die beanspruchten Unterschenkelorthesen zwar weder eine Geh- noch eine Stehfähigkeit herbeiführten, aber eine stabile Positionierung der deformierten Füsse im Rollstuhl erlaubten (nach den Feststellungen im zugrunde liegenden kantonalen Entscheid) und damit die Fortbewegung im Rollstuhl erst ermöglichten oder erheblich erleichterten.
Das Bundesgericht verneinte in beiden Fällen einen Leistungsanspruch. Es begründete dies damit, dass die beantragten Hilfsmittel die versicherten Personen nicht befähigten, einen der gesetzlichen Zwecke zu erreichen. Es verwarf damit die in den angefochtenen Entscheiden vertretene (auf eine nicht einschlägige Stelle in der Botschaft vom 27. Februar 1967 zur 1. IV-Revision [BBl 1967 I 653, 676 f.] gestützte) Auffassung, wonach es für den Anspruch genügt hätte, dass das Hilfsmittel im Rahmen des Transfers zwischen dem Bett und dem Rollstuhl eine gewisse Selbstständigkeit herbeiführte (Urteil 8C_531/2009 vom 23. Oktober 2009 E. 4) bzw. die Fortbewegung im Rollstuhl ermöglichte oder erleichterte (Urteil 9C_70/2013 vom 30. Dezember 2013 E. 3).
6.5. Die als Hilfsmittel beantragten orthopädischen Massschuhe befähigen die Beschwerdeführerin lediglich, während kurzer Zeit zu stehen, so insbesondere für den von zwei Hilfspersonen vorzunehmenden Transfer zwischen Bett und Rollstuhl (vgl. E. 5 hiervor). Sie verleihen der Beschwerdeführerin damit zwar eine gewisse Selbstständigkeit bzw. ermöglichen oder erleichtern die Fortbewegung im Rollstuhl, versetzen sie aber nicht in die Lage, einen der gesetzlichen Zwecke zu erreichen. Es verhält sich nicht anders als in den genannten Präjudizien (E. 6.4). Bei dieser Sachlage fällt eine Leistungszusprache ausser Betracht.
6.6. Zusammenfassend ergibt sich, dass der angefochtene Entscheid im Einklang mit dem Bundesrecht steht. Dies führt zur Abweisung der Beschwerde.
7.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung) kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Michael Walder als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4.
 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urtei l wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 19. Januar 2022
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann