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BGer 1B_313/2021 vom 10.03.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
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1B_313/2021
 
 
Urteil vom 10. März 2022
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Jametti, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Haag, Müller,
 
Gerichtsschreiberin Kern.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Artan Sadiku,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern, Eichwilstrasse 2, Postfach 1662, 6011 Kriens.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Entsiegelung und Durchsuchung,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Luzern, Einzelrichterin, vom 3. Mai 2021 (ZMG 20 504).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Am 31. Dezember 2019 wurden beim Polizeiposten Reussbühl sieben USB-Sticks sowie ein Notizbuch abgegeben. Die Staatsanwaltschaft Abteilung 2 Emmen ordnete deren Durchsuchung an, woraufhin die Datenträger durch die Kriminalpolizei ausgewertet und ein detaillierter Fundbericht erstellt wurde. Aus diesem ergab sich eine Verbindung zum Strafverfahren, das die Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern zurzeit gegen A.________ wegen Verleumdung, Irreführung der Rechtspflege, falscher Anschuldigung, Drohung, Missbrauch von Lohnabzügen und weiteren Delikten führt. Am 19. Februar 2020 bestätigte deshalb die Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern auf entsprechende Anfrage der Staatsanwaltschaft Abteilung 2 Emmen die Verfahrensübernahme. In der Folge wurde A.________ über den Fund der Datenträger informiert. Er beantragte daraufhin deren vorsorgliche Siegelung. Am 22. Dezember 2020 ersuchte die Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern um Entsiegelung der fraglichen Datenträger. A.________ beantragte die Abweisung des Entsiegelungsgesuchs und eventualiter dessen Gutheissung nach Aussonderung diverser Inhalte.
B.
Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Luzern trat mit Verfügung vom 3. Mai 2021 auf das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft nicht ein und gab die sichergestellten und durchsuchten Gegenstände der Staatsanwaltschaft zur weiteren Verwendung frei.
C.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 4. Juni 2021 beantragt A.________, die Verfügung der Vorinstanz sei aufzuheben und diese sei anzuweisen, auf das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft einzutreten. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen. Zudem ersucht der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung sowie auf eine Stellungnahme zum Gesuch um aufschiebende Wirkung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Das präsidierende Mitglied der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hat der Beschwerde mit Verfügung vom 28. Juni 2021 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Am 12. Juli 2021 hat der Beschwerdeführer repliziert.
 
1.
Gegen den angefochtenen Entscheid steht gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen offen.
Die Vorinstanz hat gemäss Art. 248 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 380 StPO als einzige kantonale Instanz entschieden. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG zulässig.
 
Erwägung 2
 
2.1. Die angefochtene Verfügung schliesst das Strafverfahren nicht ab. Sie stellt einen Zwischenentscheid dar. Sie betrifft weder die Zuständigkeit noch den Ausstand. Es geht somit um einen anderen Zwischenentscheid gemäss Art. 93 BGG. Dagegen ist die Beschwerde nach Absatz 1 dieser Bestimmung prinzipiell nur zulässig, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Die zweite Variante kommt vorliegend nicht in Betracht (vgl. BGE 144 IV 127 E. 1.3; 141 IV 284 E. 2).
Nach der Rechtsprechung ist bei einer Entsiegelung ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur dann anzunehmen, wenn der Beschwerdeführer ein rechtlich geschütztes Geheimnisinteresse ausreichend substanziiert anruft (vgl. BGE 143 IV 462 E. 1; Urteil 1B_435/2021 vom 8. Dezember 2021 E. 1.2 mit Hinweis).
Der Beschwerdeführer muss, wenn das nicht offensichtlich ist, im Einzelnen darlegen, inwiefern ihm ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur drohen soll. Andernfalls kann auf die Beschwerde mangels hinreichender Begründung (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) nicht eingetreten werden (BGE 142 III 798 E. 2.2; 141 III 80 E. 1.2; Urteil 1B_465/2021 vom 11. Oktober 2021 E. 1.2; je mit Hinweisen).
2.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, auf den fraglichen Datenträgern befänden sich Geschäftsgeheimnisse, persönliche Daten von Arbeitnehmern sowie Aufnahmen, die den Beschwerdeführer beim Geschlechsverkehr mit einer Dritten zeigen würden. Er bringt vor, ihm würde ein nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen, wenn die gesiegelten Gegenstände ausgewertet werden würden, da die Auswertung nicht rückgängig gemacht werden könne.
2.3. Der Beschwerdeführer ruft ausreichend substanziiert rechtlich geschützte Geheimhaltungsinteressen an (vgl. Art. 264 Abs. 1 StPO). Da nach der unbestrittenen Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz die Datenträger von den Strafbehörden bereits durchsucht und ausgewertet wurden (vgl. Sachverhalt lit. A vorstehend), ist allerdings nicht offensichtlich, inwiefern dem Beschwerdeführer ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur drohen soll, ist doch davon auszugehen, dass allfällige rechtlich geschützte Geheimnisse bereits offenbart wurden. Die Frage, ob dem Beschwerdeführer unter diesen besonderen Umständen aus dem angefochtenen Entscheid ein nicht wieder gutzumachender Nachteil droht, fällt im vorliegenden Fall mit der Frage nach seiner Beschwerdelegitimation (vgl. E. 3 nachfolgend) zusammen.
 
Erwägung 3
 
3.1. Zur Beschwerde in Strafsachen ist berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (Art. 81 Abs. 1 lit. a BGG) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b), insbesondere die beschuldigte Person (Ziff. 1). Der Beschwerdeführer muss ein aktuelles und praktisches Interesse an der Behandlung der Beschwerde haben. Es muss nicht nur im Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung, sondern auch noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung bestehen (BGE 137 I 296 E. 4.2 mit Hinweisen; Urteil 1B_172/2021 vom 24. Juni 2021 E. 1.2). Mit diesem Erfordernis soll sichergestellt werden, dass das Gericht konkrete und nicht bloss theoretische Fragen entscheidet. Es dient damit der Prozessökonomie (BGE 140 IV 74 E. 1.3.1; 136 I 274 E. 1.3 mit Hinweisen). Nach Art. 42 Abs. 1 BGG muss der Beschwerdeführer die Tatsachen darlegen, aus denen sich seine Beschwerdeberechtigung ergeben soll, sofern sie nicht offensichtlich sind (BGE 141 IV 1 E. 1.1; 138 IV 86 E. 3; je mit Hinweisen).
Als am kantonalen Verfahren beteiligte Partei kann der Beschwerdeführer die Verletzung von Verfahrensrechten rügen, deren Missachtung einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt (sog. "Star-Praxis", vgl. BGE 141 IV 1 E. 1.1 mit Hinweisen). Voraussetzung jeder Beschwerdeführung vor Bundesgericht ist jedoch ein hinreichendes Rechtsschutzinteresse, das nur in Bezug auf solche Anliegen anerkannt werden kann, die mit der Beschwerde überhaupt erreicht werden können (BGE 137 II 313 E. 3.3.1 mit Hinweisen; Urteil 1C_89/2019 vom 19. Mai 2020 E. 6.2). Mangelt es an der Aktualität des erforderlichen schutzwürdigen Interesses, ist die Rechtslage nicht vergleichbar mit dem Fall, in dem es an der Legitimation in der Sache fehlt, Rechtsverweigerungsbeschwerden aber dennoch zulässig sind, soweit sie nicht auf eine inhaltliche Prüfung der Streitsache hinauslaufen (Urteil 1C_30/2019 vom 21. Mai 2019 E. 1.5 mit Hinweis).
3.2. Der Beschwerdeführer führt zur Frage der Legitimation aus, dass er am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen habe und somit ohne Weiteres zur Erhebung der Beschwerde ans Bundesgericht legitimiert sei.
3.3. Der Beschwerdeführer verkennt, dass er nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung substanziiert darzulegen hat, inwiefern er ein aktuelles rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde hat. Vorliegend wurden zwar ausreichend substanziiert Geheimhaltungsinteressen geltend gemacht (vgl. E. 2.2 f.); es ist jedoch nicht offensichtlich, inwiefern diese Interessen noch aktuell sind, da die USB-Sticks nach der unbestrittenen Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz bereits von den Strafverfolgungsbehörden durchsucht und ausgewertet wurden (vgl. Sachverhalt lit. A vorstehend). Der Beschwerdeführer erfüllt die gesetzlichen Begründungsanforderungen (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) jedenfalls im Rahmen seiner Ausführungen zur Beschwerdeberechtigung nicht. Wie in den nachfolgenden Erwägungen dargelegt wird, erschliesst sich seine Beschwerdelegitimation auch nicht aus der materiellen Begründung der Beschwerde.
3.4. In der Sache erklärt der Beschwerdeführer, eine Siegelung sei zwar nicht mehr möglich, wenn die Strafverfolgungsbehörde die fraglichen Inhalte bereits zur Kenntnis genommen habe. Dabei komme es aber mit Blick auf Art. 248 StPO einzig darauf an, ob die in der Sache tätige Strafverfolgungsbehörde Kenntnis davon genommen habe. Im gegen ihn geführten Strafverfahren seien mittlerweile nicht nur unterschiedliche Personen, sondern sogar unterschiedliche Staatsanwaltschaften und Polizeidienststellen mit der Sache befasst. Die "Behauptung" der Vorinstanz, dass die Strafverfolgungsbehörde bereits Kenntnis vom Inhalt der USB-Sticks genommen habe, sei deshalb falsch (vgl. Rz. 18 der Beschwerdeschrift).
3.5. Nach Art. 248 Abs. 1 StPO sind Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden. Stellt die Strafbehörde nicht innert 20 Tagen ein Entsiegelungsgesuch, so werden die versiegelten Aufzeichnungen und Gegenstände der berechtigten Person zurückgegeben (Abs. 2). Stellt die Strafbehörde ein Entsiegelungsgesuch, so entscheidet im Vorverfahren das Zwangsmassnahmengericht innerhalb eines Monats darüber (Abs. 3).
Sinn und Zweck der Siegelung ist es, dass die Strafverfolgungsbehörden keine Kenntnis des fraglichen Beweismittels erhalten können, solange das zuständige Entsiegelungsgericht nicht über die Zulässigkeit der Verwertung der beschlagnahmten Gegenstände zu Untersuchungszwecken entschieden hat (Urteil 1B_412/2021 vom 29. November 2021 E. 3.3.3 mit Hinweisen). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung widerspricht die Siegelung bereits durchsuchter Aufzeichnungen und Gegenstände dem Zweck dieses Instituts, bzw. vermag diesen gar nicht mehr zu ermöglichen (BGE 114 Ib 357 E. 4; Urteil 1B_24/2019 vom 27. Februar 2019 E. 2.2; vgl. auch Urteil 1B_29/2019 vom 2. August 2019 E. 2.2; CATHERINE HOHL-CHIRAZI, in: Commentaire Romand, Code de procédure pénale suisse, Jeanneret/Kuhn/Perrier Depeursinge [Hrsg.], 2. Aufl. 2019, N. 6 zu Art. 248 StPO; vgl. auch SCHMID/JOSITSCH, Praxiskommentar StPO, 3. Aufl. 2018, N. 4 zu Art. 248 StPO).
3.6. Nach dem Vorangegangenen kann den Ausführungen des Beschwerdeführers, wonach es nur darauf ankomme, ob die aktuell in der Sache zuständige Strafverfolgungsbehörde bereits Kenntnis der durch Geheimnisrechte geschützten Inhalte erlangt habe, nicht gefolgt werden. Die oben zitierte Rechtsprechung differenziert nicht zwischen der im Verfahren aktuell tätigen und der früher mit der Sache befassten Strafbehörde. Für die Frage, ob die Strafbehörden vom Inhalt der USB-Sticks des Beschwerdeführers bereits Kenntnis erhalten haben, ist es auch unerheblich, welche Personen innerhalb der mit der Sache befassten Strafbehörde im Einzelnen die Durchsuchung der USB-Sticks vorgenommen und dadurch Kenntnis von deren Inhalt erlangt haben. Massgeblich ist vorliegend allein, dass die fraglichen Datenträger bereits eingehend durchsucht und ausgewertet wurden. Nachdem die Ergebnisse der Durchsuchung somit bereits aktenkundig sind, lässt sich auch über den Handwechsel des Strafverfahrens kein aktuelles Rechtsschutzinteresse begründen.
3.7. Das Bundesgericht verzichtet ausnahmsweise auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses, wenn sich die aufgeworfenen Fragen unter gleichen oder ähnlichen Umständen jederzeit wieder stellen können, eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre und die Beantwortung wegen deren grundsätzlicher Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt (BGE 142 I 135 E. 1.3.1 mit Hinweisen; Urteil 1B_172/2021 vom 24. Juni 2021 E. 1.2).
Der Beschwerdeführer macht vorliegend nicht geltend, dass es sich um einen solchen Fall grundsätzlicher Bedeutung handle. Dies ist auch sonst nicht ersichtlich.
4.
Nach dem Erwogenen ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er beantragt jedoch die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Dem Gesuch kann entsprochen werden, zumal der Beschwerdeführer glaubhaft dargelegt hat, dass die Voraussetzungen von Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG erfüllt sind.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2.
 
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen:
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
2.2. Rechtsanwalt Artan Sadiku wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern und dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Luzern, Einzelrichterin, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 10. März 2022
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Jametti
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern