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BGer 9C_505/2021 vom 23.03.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
9C_505/2021
 
 
Urteil vom 23. März 2022
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Juni 2021 (IV.2020.00335).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Der 1988 geborene A.________, Recyclist mit Fähigkeitsausweis, war zuletzt vollzeitlich bei der B.________ SA tätig (letzter Arbeitstag: 13. Mai 2014). Im November 2014 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 29. September 2016 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich einen Leistungsanspruch.
A.b. Als A.________ im November 2016 erneut ein Leistungsgesuch einreichte, nahm die IV-Stelle medizinische und erwerbliche Abklärungen vor. Am 12. Dezember 2017 teilte sie A.________ mit, dass aktuell keine Eingliederungsmassnahmen möglich seien, weil er sich gesundheitlich nicht in der Lage fühle, daran teilzunehmen. Sie holte bei Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, ein psychiatrisches Gutachten ein, welches am 16. Juli 2018 erstattet wurde. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte sie einen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (Verfügung vom 2. April 2020).
B.
Beschwerdeweise liess der Versicherte die Aufhebung der Verfügung und die Zusprache einer ganzen Invalidenrente beantragen, eventualiter die Zusprache von Eingliederungs- und Umschulungsmassnahmen. Subeventualiter sei die Verfügung aufzuheben, die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen und ein gerichtliches Obergutachten bei einer unabhängigen Fachperson der Psychiatrie anzuordnen. Mit Urteil vom 30. Juni 2021 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, das Urteil vom 30. Juni 2021 sei aufzuheben und es sei ihm eine Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 100 % zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
 
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
Erwägung 2
 
2.1. Zu prüfen ist, ob die vorinstanzliche Verneinung eines Rentenanspruches Bundesrecht verletzt.
2.2. Im angefochtenen Urteil werden die massgebenden Rechtsgrundlagen (d.h. die hier anwendbaren Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [IVG; SR 831.20], der Verordnung über die Invalidenversicherung [IVV; SR 831.201] und des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1] in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
3.
Die Vorinstanz mass dem psychiatrischen Gutachten vom 16. Juli 2018 Beweiskraft zu. Dr. med. C.________ hielt darin eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode (ICD-10: F33.0), einen Verdacht auf anankastisch-paranoiden Persönlichkeitsakzent (ICD-10: Z73.1) und eine Cannabisabhängigkeit (ICD-10: F12.25) mit Beginn in der Adoleszenz und berichtetem gegenwärtigem Konsum von Substanzen mit niedrigem THC-Gehalt fest. Die bisherige Tätigkeit, bei welcher der Beschwerdeführer mit Chemikalien und Lösungsmitteln hantieren musste und es im Mai 2014 zu einem Unfall gekommen war, sei ihm gesundheitlich bedingt nicht mehr zumutbar. Indessen bestehe seit Mai 2017 in einer angepassten Tätigkeit als Papier- und Metallrecyclist (ohne Arbeiten mit Lösungsmitteln oder Chemikalien) nach einer ein halbes Jahr dauernden Wiedereingliederungsphase (beginnend mit 50 %) eine volle Arbeitsfähigkeit. Die Vorinstanz erachtete diese gutachterliche Arbeitsfähigkeitsbeurteilung im Lichte von BGE 141 V 281 auch als rechtlich relevant. Allerdings sei davon abweichend nicht von einem nur stufenweise möglichen Wiedereinstieg auszugehen, denn der Gutachter Dr. med. C.________ habe diesen mit der seit dem Stellenverlust im Herbst 2014 eingetretenen Dekonditionierung begründet und das Vorliegen erheblicher Funktionsdefizite verneint.
Im Rahmen des Einkommensvergleichs ermittelte das kantonale Gericht den Validenlohn gestützt auf das zuletzt erzielte Gehalt als Recyclist bei der auf Chemiesondermüll-Entsorgung spezialisierten B.________ SA (Fr. 70'590.-). Diese Lohnbasis gelte auch für das Invalideneinkommen, da diesem eine Tätigkeit als Recyclist ohne Umgang mit Chemikalien und Lösungsmitteln bzw. als Metall- und Papierrecyclist zugrunde zu legen sei. Bei dieser Sachlage resultiere ein (dem Arbeitsunfähigkeitsgrad entsprechender) Invaliditätsgrad von 0 %. Damit habe die IV-Stelle einen Rentenanspruch zu Recht verneint.
 
Erwägung 4
 
4.1. In der Beschwerde wird kritisiert, die Vorinstanz habe "aus eigenem Empfinden, ohne direkten Kontakt mit dem Beschwerdeführer oder den Medizinern" bzw. ohne Anberaumung einer öffentlichen Beweisverhandlung ein strukturiertes Beweisverfahren (im Sinne von BGE 141 V 281) durchgeführt. Ihr Vorgehen verletze das Unmittelbarkeitsprinzip nach Art. 6 EMRK und das rechtliche Gehör, welche erforderten, dass der Richter den Versicherten und die Ärzte persönlich anhöre und sich ein eigenes Bild verschaffe.
Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer im kantonalen Prozess keinen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gestellt hat, zeigen seine Ausführungen, dass es ihm lediglich um eine Beweisabnahme durch die Vorinstanz gegangen wäre, auf welche Art. 6 Ziff. 1 EMRK von vornherein keinen Anspruch einräumt (Urteil 9C_260/2021 vom 6. Dezember 2021 E. 3.2 mit Hinweis auf BGE 134 I 331 E. 2.3.2 und 122 V 47 E. 3a). Einer Grundlage entbehrt auch die Rüge, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, denn dieser umfasst kein Recht, sich mündlich zu äussern (BGE 134 I 140 E. 5.3; 130 II 425 E. 2.1).
4.2. Der Beschwerdeführer bestreitet die Beweiskraft des Gutachtens des Dr. med. C.________ vom 16. Juli 2018 unter Hinweis darauf, dass eine Diskrepanz zur Einschätzung durch die Kundenberaterin der IV-Stelle bestehe und der behandelnde Psychiater Dr. med. D.________ den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit ganz anders beurteile. Das kantonale Gericht hat sich mit diesen bereits im kantonalen Verfahren vorgebrachten Einwänden einlässlich auseinandergesetzt und sie mit zutreffender Begründung entkräftet, worauf verwiesen werden kann. Der Beschwerdeführer beschränkt sich darauf, die Beweise abweichend von der Vorinstanz zu würdigen beziehungsweise appellatorische Kritik an ihrer Sachverhaltsfeststellung anzubringen, was nicht genügt (BGE 145 I 26 E. 1.3).
4.3. Betreffend den Einkommensvergleich beanstandet der Beschwerdeführer zu Unrecht, es sei nicht abgeklärt worden, inwieweit ihm die Validen- und die Invalidentätigkeit zumutbar gewesen wären und ob er einen entsprechenden Lohn hätte erzielen können: Für die Festlegung des Validenlohnes wird danach gefragt, welche Tätigkeit die versicherte Person ohne Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung im Zeitpunkt des frühestmöglichen Rentenbeginns überwiegend wahrscheinlich ausüben würde (BGE 134 V 322 E. 4.1). Ohne weitere Abklärungen durfte die Vorinstanz davon ausgehen, dass beim Beschwerdeführer aufgrund seiner Ausbildung und seines beruflichen Werdeganges eine Validentätigkeit als Recyclist naheliegend war. Ebenso zutreffend stützte sie sich hinsichtlich der Invalidentätigkeit auf das Gutachten vom 16. Juli 2018, wonach es dem Beschwerdeführer auch mit der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbar wäre, als (Papier- und Metall-) Recyclist (ohne Umgang mit Chemikalien und Lösungsmitteln) zu arbeiten. Da die beiden Vergleichseinkommen mithin aufgrund derselben Tätigkeit festzusetzen waren, durfte das kantonale Gericht (unabhängig von deren Höhe) aus der festgestellten Arbeitsunfähigkeit von 0 % direkt auf den Invaliditätsgrad schliessen.
4.4. Zusammenfassend ergibt sich, dass die vorinstanzliche Verneinung eines Rentenanspruchs vor Bundesrecht standhält.
5.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 23. März 2022
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann