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BGer 1B_180/2022 vom 05.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
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1B_180/2022
 
 
Urteil vom 5. Mai 2022
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
 
Bundesrichter Chaix, Haag,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, 3013 Bern,
 
vertreten durch die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland, Hodlerstrasse 7, 3011 Bern.
 
Gegenstand
 
Anordnung von Sicherheitshaft,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts
 
des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen,
 
vom 2. März 2022 (BK 22 78).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Die regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen mehrfacher (teilweise versuchter) schwerer Körperverletzung und weiterer Delikte. Er wurde am 23. Dezember 2021 festgenommen und befindet sich seither in strafprozessualer Haft. Die Staatsanwaltschaft erhob am 31. Januar 2022 Anklage und am 4. Februar 2022 ordnete das kantonale Zwangsmassnahmengericht Sicherheitshaft an. Eine dagegen gerichtete Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Bern mit Beschluss vom 2. März 2022 ab.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 1. April 2022 beantragt A.________, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und er selbst umgehend aus der Haft zu entlassen, eventualiter mit Ersatzmassnahmen.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft haben auf eine Stellungnahme verzichtet.
 
1.
Die Eintretensvoraussetzungen nach Art. 78 ff. BGG sind erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Unter Vorbehalt einer hinreichenden Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) ist auf die Beschwerde einzutreten.
2.
Der Beschwerdeführer rügte im vorinstanzlichen Verfahren eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), weil das Zwangsmassnahmengericht seine Stellungnahme, die er am 3. Februar 2022 via IncaMail versandt habe, beim Erlass des Entscheids vom 4. Februar 2022 inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen habe. Das Obergericht hielt dazu fest, die Stellungnahme befinde sich bei den Haftakten und sei zudem im Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts explizit erwähnt worden. Massgebend sei für die Wahrung des rechtlichen Gehörs im Übrigen die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten des Beschwerdeführers und in dieser Hinsicht sei der Haftentscheid des Zwangsmassnahmengerichts nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer wiederholt in seiner Beschwerde ans Bundesgericht seine Rüge und bringt vor, seine Stellungnahme hätte auch inhaltlich berücksichtigt werden müssen. Mit welchen in dieser Stellungnahme enthaltenen Vorbringen sich das Zwangsmassnahmengericht nicht auseinandergesetzt haben soll, legt er jedoch nicht dar. Mangels hinreichender Begründung ist auf die Rüge nicht einzutreten (Art. 106 Abs. 2 BGG).
3.
Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a). An Stelle der Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO).
Das Obergericht bejahte den dringenden Tatverdacht. Zudem ging es von Fluchtgefahr aus. Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen beider Haftvoraussetzungen. Zumindest könnte der Fluchtgefahr seiner Ansicht nach mit Ersatzmassnahmen begegnet werden.
 
Erwägung 4
 
4.1. Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das Bundesgericht bei der Überprüfung des allgemeinen Haftgrundes des dringenden Tatverdachts (Art. 221 Abs. 1 StPO) keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Es genügt der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte (s. im Einzelnen: BGE 143 IV 316 E. 3.1 mit Hinweisen).
4.2. Das Obergericht führt aus, dem Beschwerdeführer würden unter anderem zwei (teilweise versuchte) schwere Körperverletzungen vorgeworfen. So solle er am 5. Juni 2019 im Rahmen einer Polizeikontrolle einen Beamten mit der Faust aufs Auge geschlagen haben, was einen Augenhöhlenbodenbruch mit Netzhautriss zur Folge gehabt habe. Am 14. November 2019 solle er im Verlauf eines verbalen Streits mit seiner brasilianischen Ehefrau deren Schwester durch den Schlag oder den Wurf mit einem Trinkglas eine massive Schnittwunde knapp oberhalb des rechten Auges zugefügt und sie mit Fäusten traktiert haben. Das Opfer habe eine Rissquetschwunde am linken Ohr und einen Nasenbeinbruch davongetragen.
4.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe beim ersten Vorfall seine in Lebensgefahr befindliche Freundin ins Spital fahren wollen und seine Arme seien bei der Polizeikontrolle reflexartig zur Seite geschnellt. Der in den Akten befindliche Bericht des Inselspitals vom 22. April 2020 sei fast ein Jahr später erstellt worden, so dass ungewiss sei, ob die Augenverletzung nicht später eingetreten sei. Beim zweiten Vorfall habe seine Ehefrau, von der er sich habe scheiden lassen wollen, ein Küchenmesser auf ihn gerichtet und geschrien: "Dich Sau mache ich fertig!" Er habe zurückgeschrien: "Verschwindet, ihr Räuberinnen und Mörderinnen!" Daraufhin seien seine Ehefrau und deren Schwester aus dem Haus gerannt, wobei Letztere auf den Stufen der Eingangstreppe ausgerutscht sei und sich selber verletzt habe. Draussen habe sie sich im Dunkeln am Auto nochmals den Kopf angeschlagen. Er habe die Polizei verständigen wollen, jedoch keine Verbindung zum Netz gehabt. Später hätten die beiden Frauen von Aussen eine Scheibe eingeschlagen und seien eingebrochen, wobei die Schwester seiner Ehefrau sich im Gesicht geschnitten habe. Die Schnittwunde sei viel zu sauber, als dass sie in der Hitze des Gefechts von ihm hätte zugefügt worden sein können.
4.4. Diese Ausführungen des Beschwerdeführers sind nicht geeignet, den vom Obergericht bejahten dringenden Tatverdacht der mehrfachen, teilweise versuchten schweren Körperverletzung in Frage zu stellen. In Bezug auf den ersten Vorfall stützt sich dieser auf die Aussagen zweier Polizisten, die beide von einem Faustschlag des sich heftig wehrenden und unberechenbar auftretenden Beschwerdeführers berichteten. Die Verletzungen am Auge sind zudem in mehreren, in den Akten befindlichen ärztlichen Berichten dokumentiert, etwa im Operationsbericht des Inselspitals Bern vom 7. Juni 2019 und im Austrittsbericht vom 8. Juni 2019. Daraus und aus dem vom Beschwerdeführer erwähnten Bericht des Inselspitals vom 22. April 2020 ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Verletzungen auch auf ein späteres Ereignis zurückgeführt werden könnten. In Bezug auf den zweiten Vorfall stützt sich der dringende Tatverdacht insbesondere auf die Aussagen der Ehefrau des Beschwerdeführers und deren Schwester. Die Schilderung eines alternativen Ereignisablaufs durch den Beschwerdeführer lässt den angefochtenen Entscheid in diesem Punkt ebenfalls nicht als bundesrechtswidrig erscheinen. Im Übrigen widerspricht sich der Beschwerdeführer selbst, wenn er vorbringt, er habe versucht, die Polizei zu verständigen, aber keine Verbindung zum Netz gehabt. In seiner Einvernahme vom 14. November 2019 gab er noch an, der Akku sei leer gewesen.
 
Erwägung 5
 
5.1. Die Annahme von Fluchtgefahr setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entziehen könnte. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Bei der Bewertung, ob Fluchtgefahr besteht, sind die gesamten konkreten Verhältnisse zu berücksichtigen. Es müssen Gründe bestehen, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe ist zwar ein Indiz für Fluchtgefahr, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Miteinzubeziehen sind die familiären und sozialen Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und die Kontakte zum Ausland. Selbst bei einer befürchteten Reise in ein Land, welches die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer ab, da sich auch die Dauer des allenfalls noch zu verbüssenden strafrechtlichen Freiheitsentzugs mit der bereits geleisteten prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (zum Ganzen: BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3; je mit Hinweisen).
5.2. Das Obergericht legt dar, dem Beschwerdeführer drohe im Falle eines Schuldspruchs eine teil- oder unbedingt zu vollziehende Freiheitsstrafe, zumal er einschlägig vorbestraft sei (einfache Körperverletzung sowie Hinderung einer Amtshandlung). Im Zusammenhang mit den beiden genannten Vorfällen sei er gemäss den Schilderungen der Anwesenden ausserdem durch ein unbeherrschtes bzw. explosives Verhalten aufgefallen. Ins Gewicht falle auch, dass er sich im vergangenen Jahr tatsächlich dem Strafverfahren entzogen habe. Sein Einwand, er habe wegen Corona nicht in die Schweiz reisen können, sei nicht einleuchtend, da im vergangenen Jahr trotzdem regelmässig Flüge von Brasilien in die Schweiz und zurück durchgeführt worden seien. Weiter habe er gegenüber der Staatsanwaltschaft ausgesagt, er sei nur kurz in der Schweiz und kehre bald nach Brasilien zurück. Aus den Akten ergäben sich zahlreiche Hinweise darauf, dass er seinen Lebensmittelpunkt nach Brasilien verschoben habe und auch mittel- bis langfristig seine Zukunft dort sehe, zumal er sich namentlich ins Ausland abgemeldet habe, seine Geschäfte in der Schweiz schon seit 2017 per Generalvollmacht durch die Eltern regeln lasse und seine Freundin ein Medizinstudium in Brasilien begonnen habe. Seine Vermögensverhältnisse seien nicht vollends geklärt, insbesondere betreffend die beiden Liegenschaften in der Schweiz. Er habe bereits mehrere hunderttausend Schweizer Franken nach Brasilien transferiert und könne sich - obwohl seit 2019 in der Schweiz arbeitslos - augenscheinlich in Brasilien über Wasser halten. Dass er mittlerweile ein Kind anerkannt habe, wie er vorbringe, ändere an der Fluchtgefahr nichts. Die Existenz dieser Tochter scheine ihn im Jahr 2021 nicht daran gehindert zu haben, in Brasilien zu leben. Auch die Anwesenheit seiner Freundin und ihrer beiden Töchter, die im Februar in die Schweiz gekommen seien, stellten offensichtlich keinen Garanten für seinen Verbleib in der Schweiz dar, da sie jederzeit wieder abreisen könnten.
5.3. Der Beschwerdeführer wendet im Wesentlichen ein, er sei Schweizer und habe in der Schweiz Familie, Verwandte und Grundeigentum. Er wolle noch ein Doktorat an der Uni Bern absolvieren und auf dem Immobilienmarkt arbeiten. Wenn er hätte flüchten wollen, hätte er dazu eineinhalb Jahre Zeit gehabt, nämlich vom 5. Juni 2019 bis zum 6. Dezember 2020, als er wegen seiner Scheidung nach Brasilien gereist sei. Ausser in Bezug auf einen Einvernahmetermin, für den er sich wegen seiner Scheidung habe entschuldigen müssen, sei er stets kooperativ gewesen. Er habe auch noch andere Termine und eine Scheidung könne nicht Jahre warten.
5.4. Die dem Beschwerdeführer drohende Freiheitsstrafe stellt einen erheblichen Anreiz zur Flucht dar. Ins Gewicht fällt zudem, dass er während des laufenden Strafverfahrens für etwa ein Jahr nach Brasilien reiste und dort selbst für seinen Verteidiger unerreichbar war. Nach seinen eigenen Angaben hätte er zudem selbst nach seiner Rückkehr im Dezember 2021 nur kurz hier verweilt, wäre er nicht verhaftet worden. Seine vom Obergericht in Zweifel gezogene Behauptung, wonach er wegen der Corona-Pandemie nicht habe reisen können, erwähnt er nicht mehr; stattdessen weist er darauf hin, neben dem Strafverfahren eben noch andere unvermeidliche Termine zu haben. Vor diesem Hintergrund durfte das Obergericht von einer mangelhaften Bereitschaft des Beschwerdeführers ausgehen, sich für das Strafverfahren zur Verfügung zu halten. Angesichts der intensiven Beziehungen zu Brasilien hat es zudem der Verankerung des Beschwerdeführers in der Schweiz zu Recht keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Die zitierten Erwägungen im angefochtenen Entscheid überzeugen vollumfänglich. Insgesamt verstösst es nicht gegen Bundesrecht, wenn das Obergericht die Fluchtgefahr bejahte und darüber hinaus davon ausging, sie könne auch mit Ersatzmassnahmen nicht hinreichend gebannt werden.
6.
Die Beschwerde ist aus diesen Gründen abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bei diesem Ausgang sind die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, sowie Rechtsanwalt B.________, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 5. Mai 2022
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kneubühler
 
Der Gerichtsschreiber: Dold