Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 4A_9/2022 vom 06.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
4A_9/2022
 
 
Urteil vom 6. Mai 2022
 
 
I. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
 
Bundesrichterinnen Kiss, May Canellas,
 
Gerichtsschreiber Stähle.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________ AG,
 
vertreten durch
 
Rechtsanwalt Dr. Franz Schenker,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.________ AG,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Remo Busslinger und Rechtsanwältin Andrea Waditschatka,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Rechtshängigkeit,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 24. November 2021 (HG210116-O).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Die A.________ AG (Klägerin, Beschwerdeführerin) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in U.________.
C.________ war vom 7. August 2018 bis am 23. Februar 2021 zunächst Mitglied und anschliessend Präsident des Verwaltungsrats der B.________ AG (Beklagte, Beschwerdegegnerin).
A.b. Nach Auffassung der Klägerin ist sodann von Folgendem auszugehen:
Per 1. Februar 2021 habe die Beklagte C.________ Fr. 636'156.67 für noch nicht bezahltes Verwaltungsratshonorar geschuldet (nachfolgend: Honorarforderung).
An diesem Tag (1. Februar 2021) habe C.________ ihr (der Klägerin) eine "Teilforderung" in Höhe von Fr. 250'000.-- von seiner Honorarforderung abgetreten. Damit sei sie Gläubigerin der Beklagten (über den Betrag von Fr. 250'000.--) geworden.
Ebenfalls am 1. Februar 2021 habe sie (die Klägerin) von der Beklagten verschiedene Gegenstände zum Preis von Fr. 71'178.80 gekauft.
Die Beklagte schulde ihr nach Verrechnung dieser beiden Forderungen folglich Fr. 178'821.20 (teilweise abgetretene Honorarforderung in Höhe von Fr. 250'000.-- abzüglich des Kaufpreises für die Gegenstände von Fr. 71'178.80). Für diesen Betrag habe sie der Beklagten am 25. Februar 2021 Rechnung gestellt. Die Bezahlung sei indes bis heute ausgeblieben.
A.c. Die Beklagte bestritt das Bestehen der Honorarforderung von C.________ und aus diesem Grund auch das Bestehen der abgetretenen "Teilforderung" der Klägerin. Die Abtretung als solche kritisiert sie nicht.
A.d. Am 24. März 2021 reichte C.________ ein Schlichtungsgesuch beim Friedensrichteramt U.________ ein. Er verlangte darin von der Beklagten die Bezahlung von Fr. 386'156.67, entsprechend der ursprünglichen Honorarforderung von Fr. 636'156.67 abzüglich des der Klägerin abgetretenen Teils von Fr. 250'000.--. Nachdem die Schlichtungsverhandlung ohne Einigung geendet hatte, erhob C.________ beim Bezirksgericht Meilen Klage gegen die Beklagte auf Bezahlung von Fr. 386'156.67.
 
B.
 
Mit Eingabe vom 26. Mai 2021 reichte die Klägerin beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage ein. Sie beantragte, die Beklagte sei zu verurteilen, ihr Fr. 178'821.20 (abgetretener Teil der Honorarforderung abzüglich Kaufpreis für die Gegenstände) nebst Zins zu bezahlen.
Die Beklagte erhob die Einrede der anderweitig rechtshängigen Sache (Art. 59 Abs. 2 lit. d in Verbindung mit Art. 64 Abs. 1 lit. a ZPO).
Mit Beschluss vom 24. November 2021 trat das Handelsgericht auf die Klage nicht ein. Es erwog, die Sache sei bereits beim Bezirksgericht Meilen rechtshängig, weshalb es an einer Prozessvoraussetzung fehle.
Oberrichterin Helen Kneubühler gab einen abweichenden Minderheitsantrag zu Protokoll.
 
C.
 
Die Klägerin verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, der Beschluss des Handelsgerichts sei aufzuheben. Die Vorinstanz sei anzuweisen, auf die Klage einzutreten. Eventualiter sei die Sache zur weiteren Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Das Handelsgericht verzichtete auf Vernehmlassung. Die Beschwerdeführerin replizierte, worauf die Beschwerdegegnerin eine Duplik eingereicht hat.
 
 
Erwägung 1
 
Das angefochtene Urteil des Handelsgerichts ist ein Endentscheid (Art. 90 BGG) einer einzigen kantonalen Instanz im Sinne von Art. 75 Abs. 2 lit. b BGG. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Zivilsachen offen, gemäss Art. 74 Abs. 2 lit. b BGG unabhängig vom Streitwert (BGE 139 III 67 E. 1.2; siehe auch BGE 138 III 799 E. 1.1, 2 E. 1.2.2 S. 5).
 
Erwägung 2
 
Das Handelsgericht erwog, das Bundesgericht habe in BGE 147 III 345 entschieden, dass die rechtskräftige Abweisung einer bloss betragsmässig beschränkten Teilklage die Einklagung eines weiteren Teilbetrags derselben Forderung ausschliesse.
Die Vorinstanz führte weiter aus, die von C.________ am Bezirksgericht Meilen eingeklagte Forderung von Fr. 386'156.67 und die von der Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren zum Thema gemachte Forderung von Fr. 250'000.-- respektive - nach Verrechnung - von Fr. 178'821.20 seien jeweils "bloss betragsmässig individualisierte Teile" derselben Gesamtforderung. Es handle sich folglich um "Teilklagen". Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung werde das Bezirksgericht Meilen "den gesamten von C.________ behaupteten Anspruch prüfen müssen, um beurteilen zu können, ob ihm eine Forderung gegen die Beklagte in der Höhe von Fr. 386'156.67 zusteht". Dasselbe habe das Handelsgericht bei der von der Beschwerdeführerin eingereichten Klage zu tun. Der Streitgegenstand der beiden Klagen sei "somit identisch". Es bestehe "die Gefahr von sich widersprechenden Entscheiden", was es "zu verhindern" gelte. Nach dem Konzept der "zuständigkeitskoordinierenden Rechtshängigkeitssperre" dürfe in solchen Fällen die zweite Klage nur bei jenem Gericht eingegeben werden, bei dem bereits die erste Klage rechtshängig sei.
Zwar stünden sich vorliegend nicht dieselben Parteien gegenüber wie im Verfahren vor dem Bezirksgericht Meilen. Indes wirke die Rechtskraft "im Falle einer Abtretung auch gegenüber dem Zessionar als Rechtsnachfolger [...], was bei der Rechtshängigkeitssperre ebenso zu gelten" habe.
C.________ habe die Sache am 24. März 2021 mit Einreichung des Schlichtungsgesuchs beim Friedensrichteramt U.________ rechtshängig gemacht und damit eine "zuständigkeitskoordinierende Rechtshängigkeitssperre für den Gesamtanspruch" begründet. Die Beschwerdeführerin habe ihre Klage später - am 26. Mai 2021 - erhoben. Wegen vorbestehender Litispendenz sei darauf nicht einzutreten.
 
Erwägung 3
 
Die Argumentation des Handelsgerichts geht fehl:
Die Rechtshängigkeit hat die Wirkung, dass der Streitgegenstand zwischen den gleichen Parteien nicht anderweitig rechtshängig gemacht werden kann (Art. 59 Abs. 2 lit. d in Verbindung mit Art. 64 Abs. 1 lit. a ZPO). Im Verfahren vor dem Bezirksgericht Meilen sind C.________ und die Beschwerdegegnerin Partei, während sich im Prozess vor Handelsgericht die Beschwerdeführerin und die Beschwerdegegnerin streiten. Es stehen sich unterschiedliche Parteien gegenüber. Es besteht keine Rechtshängigkeitssperre.
Wohl entspricht es der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Rechtskraft bei Abtretung eines bereits rechtskräftig beurteilten Anspruchs gegenüber der Zessionarin als Rechtsnachfolgerin wirkt. Dies gilt indes nicht, wenn die (behauptete) Forderung - wie hier - vor Rechtshängigkeit abgetreten wurde: Ein vom Zedenten nach der Abtretung eingeleitetes Verfahren berührt die prozessuale Stellung der Zessionarin nicht, und zwar selbst dann nicht, wenn der Zedent - materiellrechtlich zu Unrecht - die ganze Forderung, samt abgetretenem Teil, einklagen sollte (BGE 125 III 8 E. 3a/aa und 3a/cc; vgl. auch Urteil 4A_449/2020 vom 23. März 2021 E. 5.3.2, nicht publ. in: BGE 147 III 345). Bereits aus diesem Grund zielen die vorinstanzlichen Erwägungen ins Leere und erweist sich die Beschwerde als begründet.
Der Vollständigkeit halber ist anzufügen, dass durch die Abtretung bloss eines Teils einer noch nicht vor Gericht gebrachten Forderung (sog. "Partialzession") zwei Forderungen entstehen, die in gewissem Mass unabhängig voneinander sind: Sie können verschiedene Schicksale haben und selbständig eingeklagt werden (siehe Urteile 4A_59/2017 vom 28. Juni 2017 E. 3.5.1; 5A_527/2012 vom 21. Februar 2013 E. 2.3.1; 4A_125/2010 vom 12. August 2010 E. 2.2). Aus BGE 147 III 345 - von Vorinstanz und Parteien wiederholt zitiert - ergibt sich nichts anderes. Die Möglichkeit, dass das Bezirksgericht Meilen und das Handelsgericht des Kantons Zürich die jeweiligen Klagen je verschieden beurteilen, bedeutet keineswegs, dass "sich widersprechende Entscheide" drohen, sondern ist folgerichtige Konsequenz daraus, dass sich jeweils unterschiedliche Parteien gegenüberstehen, die Forderungen mit je eigenem Schicksal geltend machen.
Alles andere käme einer nicht begründbaren Rechtsverweigerung zu Lasten der Zessionarin gleich, wie die Beschwerdeführerin zu Recht rügt (siehe auch BGE 125 III 8 E. 3a/cc).
 
Erwägung 4
 
Das beim Bezirksgericht Meilen zwischen C.________ und der Beschwerdegegnerin rechtshängige Verfahren steht der Klage der Beschwerdeführerin am Handelsgericht des Kantons Zürich unter dem Gesichtspunkt der anderweitigen Rechtshängigkeit (Art. 59 Abs. 2 lit. d und Art. 64 Abs. 1 lit. a ZPO) nicht entgegen. Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Beschluss ist aufzuheben. Die Einrede der anderweitig rechtshängigen Sache ist abzuweisen. Die Sache ist zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen, entsprechend dem Eventualantrag der Beschwerdeführerin (vgl. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 BGG). Ausgangsgemäss wird die Beschwerdegegnerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 24. November 2021 wird aufgehoben und die Einrede der anderweitig rechtshängigen Sache wird abgewiesen. Die Sache wird zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 6'000.-- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 7'000.-- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. Mai 2022
 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Hohl
 
Der Gerichtsschreiber: Stähle