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BGer 8C_602/2021 vom 11.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_602/2021
 
 
Urteil vom 11. Mai 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiber Wüest.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Erich Züblin,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung
 
(Invalidenrente; Invalideneinkommen),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. Juli 2021 (VBE. 2021.163).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
A.a. Der 1976 geborene A.________ arbeitete zuletzt als Maurer. Am 26. März 2009 meldete er sich unter Hinweis auf einen Morbus Crohn zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Gestützt auf ein bidisziplinäres Gutachten der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim), Basel, vom 7. Juni 2011 sowie deren ergänzenden Stellungnahmen vom 3. Oktober und 22. Dezember 2011 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 9. Februar 2012 mit Wirkung ab dem 1. Januar 2010 eine Dreiviertelsrente zu. Dieser Anspruch wurde mit Mitteilung vom 31. Oktober 2014 bestätigt.
A.b. Im Rahmen eines im April 2018 eingeleiteten Revisionsverfahrens liess die IV-Stelle A.________ erneut durch die asim bidisziplinär (psychiatrisch und gastroenterologisch) begutachten. Gestützt auf die am 7. Dezember 2020 erstattete Expertise hob sie die bisherige Rente mit Verfügung vom 15. Februar 2021 auf den 31. März 2021 auf.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 7. Juli 2021 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, es sei die IV-Stelle unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zu verpflichten, ihm weiterhin mindestens eine Viertelsrente auszurichten.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
 
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
2.1. Strittig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der IV-Stelle am 15. Februar 2021 revisionsweise in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ATSG verfügte Aufhebung der Invalidenrente schützte. Umstritten ist dabei einzig das der Invaliditätsgradbemessung zu Grunde liegende Invalideneinkommen.
2.2. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
3.
3.1. Die Vorinstanz mass dem asim-Gutachten vom 7. Dezember 2020 volle Beweiskraft zu. Danach bestehe beim Beschwerdeführer aufgrund der gastrointestinalen Residualbeschwerden und vor allem des Erfordernisses einer ständig verfügbaren Toilette keine Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf als Maurer. Geeignet sei aber eine körperlich leichte, vorwiegend sitzende, intellektuell einfache Tätigkeit mit der Möglichkeit, jederzeit und rasch eine Toilette aufzusuchen sowie aufgrund der Durchfälle und gelegentlichen Bauchkrämpfe Arbeitspausen einzulegen. Der Beschwerdeführer sollte zudem wenig resp. wenig wechselnde Kontakte mit Menschen haben, da er immunsupprimiert sei und Angst vor Ansteckungen sowie Schwierigkeiten in der Selbstbehauptung habe. In einer solchen leidensangepassten Tätigkeit bestehe aus gesamtmedizinischer, insbesondere gastroenterologisch begründeter Sicht eine 20 %ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit wegen des vermehrten Pausenbedarfs. Diese Einschätzung gelte seit Anfang 2020. Ausgehend von diesem Zumutbarkeitsprofil ermittelte die Vorinstanz das Invalideneinkommen, wobei sie die Tabellenlöhne gemäss Schweizerischer Lohnstrukturerhebung 2018 des Bundesamtes für Statistik heranzog. Sie stützte sich konkret auf den Medianlohn der Tabelle TA1_tirage_skill_level (Kompetenzniveau 1, Total, Männer) und passte diesen an die betriebsübliche Arbeitszeit sowie die Nominallohnentwicklung an. Sodann bestätigte sie den von der IV-Stelle gewährten Abzug vom Tabellenlohn in der Höhe von 10 % und damit auch das von dieser ermittelte Invalideneinkommen von Fr. 49'210.-, was in Gegenüberstellung mit dem unbestritten gebliebenen Valideneinkommen von Fr. 75'485.- einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 35 % ergab.
3.2. Der Beschwerdeführer rügt eine fehlerhafte Bemessung des Invaliditätsgrades (Art. 28a IVG i.V.m. Art. 16 ATSG), eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots nach Art. 8 Abs. 1 BV sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 EMRK. Er macht geltend die Vorinstanz sei von einer falschen statistischen Annahme betreffend die Lohnhöhe einer gesundheitlich eingeschränkten Person ausgegangen, welche nur noch körperlich leichte Tätigkeiten (vorwiegend sitzend) ausüben könne. Er beruft sich dabei auf das statistische Gutachten "Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung" des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG vom 8. Januar 2021 (nachfolgend: BASS-Gutachten), auf das Rechtsgutachten "Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung" vom 22. Januar 2021 von Prof. Dr. iur. Gächter, Dr. iur. Egli, Dr. iur. Meier und Dr. iur. Filippo sowie auf einen Jusletter-Beitrag von Prof. em. Riemer-Kafka et al. (Invalideneinkommen Tabellenlöhne, in: Jusletter vom 22. März 2021). Schliesslich rügt er in Bezug auf den gewährten Abzug vom Tabellenlohn eine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung der Vorinstanz.
4.
4.1. Mit Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022, zur Publikation vorgesehen, hat das Bundesgericht unter anderem mit Bezugnahme auf das BASS-Gutachten und den inzwischen in der SZS 2021 S. 287 ff. publizierten Beitrag "Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn" von Prof. em. Riemer-Kafka und Dr. phil Schwegler entschieden, dass im heutigen Zeitpunkt kein ernsthafter sachlicher Grund für die Änderung der Rechtsprechung bestehe, wonach Ausgangspunkt für die Bemessung des Invalideneinkommens anhand statistischer Werte grundsätzlich die Zentral- bzw. Medianwerte der LSE darstelle (vgl. auch Urteile 8C_323/2021 vom 14. April 2022 E. 6; 8C_250/2021 vom 31. März 2022 E. 4.2.2). Es wies darauf hin, dass einerseits der Medianlohn teilweise auch von Personen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung erzielt werde und andererseits mit den heutigen Korrekturinstrumenten, namentlich mit der Möglichkeit eines Abzugs vom Medianwert von bis zu 25 %, ein Invalideneinkommen unterhalb des untersten Quartils Q1 ermittelt werden könne (Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 E. 9.2.3, zur Publikation vorgesehen).
4.2. Es besteht demnach auch vorliegend kein Anlass, das Invalideneinkommen anhand des untersten Quartils Q1 zu berechnen. Dem Anspruch auf rechtsgleiche Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) ist mit den heutigen Korrekturinstrumenten (Parallelisierung; Abzug vom Tabellenlohn) Rechnung zu tragen. Inwiefern der Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) verletzt sein soll, begründet dieser nicht und ist auch nicht ersichtlich. Darauf ist nicht weiter einzugehen.
4.3. Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz ihr Ermessen in Bezug auf den von der IV-Stelle festgelegten Abzug vom Tabellenlohn rechtsfehlerhaft ausgeübt hat (vgl. BGE 137 V 71 E. 5.1; Urteil 9C_475/2019 vom 15. November 2019 E. 5.2.1 am Ende mit Hinweisen).
4.3.1. Die Vorinstanz bestätigte den von der IV-Stelle gewährten Abzug von 10 % mit der Begründung, das Kompetenzniveau 1 basiere auch auf einer Vielzahl von (körperlich) leichten Tätigkeiten, welche sitzend ausgeübt werden könnten und dem Beschwerdeführer zumutbar seien. Die gesundheitlich bedingte Unmöglichkeit, körperlich schwere Arbeit zu verrichten, führe rechtsprechungsgemäss nicht automatisch zu einem leidensbedingten Abzug. Dem erhöhten Pausenbedarf sei sodann im gutachterlich definierten Anforderungsprofil bereits Rechnung getragen worden, weshalb dieser Faktor nicht zusätzlich zu einem leidensbedingten Abzug führen könne. Die weiteren geltend gemachten Anforderungen an einen Arbeitsplatz (hoher hygienischer Standard und Liegemöglichkeit, Mittagessen zu Hause) seien fachärztlich nicht hinreichend ausgewiesen. Hingegen sei dem Umstand, dass der Beschwerdeführer wenig zwischenmenschliche Kontakte haben sollte, mit einem Abzug vom Tabellenlohn Rechnung zu tragen. Nach einer Gesamtwürdigung aller Faktoren kam die Vorinstanz zum Schluss, dass ein Abzug von 10 % angemessen sei.
4.3.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe ihr Ermessen unterschritten, indem sie die für ihn unverzichtbare Möglichkeit, jederzeit innert Kürze eine Toilette aufsuchen zu können, als Aspekt des leidensbedingten Abzugs ausser Acht gelassen habe. Eine angepasste Tätigkeit müsse so ausgestaltet sein, dass er die Arbeit - wann immer nötig - unverzüglich ohne Konsequenzen für den Arbeitsablauf unterbrechen könne. Dieser Aspekt sei entgegen der Vorinstanz nicht bereits im erhöhten Pausenbedarf berücksichtigt. Aufgrund des erforderlichen Entgegenkommens des Arbeitgebers sei damit zu rechnen, dass er nicht den gleichen Lohn erhalte wie ein gesunder Arbeitnehmer. Diesem Umstand sei mit einem zusätzlichen Abzug von 10 % Rechnung zu tragen. Insgesamt sei demnach mit Blick auf die gutachterlich umschriebene Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit (wenig Kontakte zu Menschen resp. wenig wechselnder Kontakt mit Kollegen; intellektuell einfache Arbeit; körperlich leichte, vorwiegend sitzende Tätigkeit; Möglichkeit, jederzeit innert Kürze eine Toilette aufsuchen zu können) ein gesamthafter Abzug von 20 % gerechtfertigt.
4.3.3. Damit dringt der Beschwerdeführer nicht durch. Gemäss asim-Gutachten besteht in einer leidensangepassten Tätigkeit (körperlich leichte, vorwiegend sitzende Tätigkeit mit der Möglichkeit, jederzeit innert Kürze eine Toilette aufsuchen und Pausen einlegen zu können; wenig Kontakt zu Menschen) aufgrund des vor allem gastroenterologisch begründeten erhöhten Pausenbedarfs eine 20%ige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (vgl. E. 3.1 hiervor). Es ist demnach mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass die Notwendigkeit der ständigen Verfügbarkeit einer Toilette von der gutachterlich attestierten 20%igen Leistungseinschränkung bereits erfasst wird, sodass ein zusätzlicher Abzug vom Tabellenlohn aufgrund der gastroenterologischen Einschränkungen nicht angezeigt ist. Weitere Aspekte, welche die Vorinstanz in rechtsfehlerhafter Ermessensausübung unberücksichtigt gelassen hätte, macht der Beschwerdeführer nicht geltend. Damit hat es beim vorinstanzlich bestätigten Abzug von 10 % und einem Invaliditätsgrad von 35 % sein Bewenden. Die Rentenaufhebung hält damit vor Bundesrecht stand.
5.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, 4. Kammer, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Sammelstiftung B.________ schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 11. Mai 2022
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Wirthlin
 
Der Gerichtsschreiber: Wüest