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Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 6B_543/2021 vom 12.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
6B_543/2021
 
 
Urteil vom 12. Mai 2022
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
 
Bundesrichter Denys,
 
Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Möckli.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Guido Hensch,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Rechtswidriger Aufenthalt; Willkür
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 26. Februar 2021 (SB200335-O/U/gs).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Das Bezirksgericht Dietikon verurteilte A.________ am 12. März 2020 - abgesehen von der Dauer der Untersuchungshaft respektive des vorzeitigen Strafvollzugs (15. Januar 2015 bis 20. Mai 2016) - wegen rechtswidrigen Aufenthalts im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 61 AIG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten (wovon 2 Tage durch Haft erstanden sind). Ferner verwarnte es ihn bezüglich des mit Urteil des Tribunal correctionnel de Genève vom 8. März 2012 bedingt aufgeschobenen Strafanteils von 2 Jahren Freiheitsstrafe und betreffend die mit Entscheid des Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich vom 26. August 2016 gewährte bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug.
B.
Die von A.________ dagegen erhobene Berufung hiess das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 26. Februar 2021 teilweise gut. Es bestätigte den Schuldspruch wegen rechtswidrigen Aufenthalts vom 21. Mai bis 19. Juni 2016, vom 19. Mai 2017 bis 31. Januar 2019 sowie vom 3. Februar 2019 bis 13. Januar 2020 und die Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten (wovon 2 Tage durch Haft erstanden sind). Im Übrigen (Tatzeiträume vom 20. Juni 2016 bis 18. Mai 2017 und 1./2. Februar 2019) sprach es ihn frei. Zudem wurde keine Verwarnung bezüglich des mit Urteil des Tribunal correctionnel de Genève vom 8. März 2012 bedingt aufgeschobenen Strafanteils von 2 Jahren Freiheitsstrafe sowie betreffend die mit Entscheid des Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich vom 26. August 2016 gewährte bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug ausgesprochen.
C.
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 26. Februar 2021 sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf des rechtswidrigen Aufenthalts freizusprechen. Eventualiter sei das Verfahren zur weiteren Sachverhaltsabklärung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung beizumessen. Ferner ersucht A.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Der Beschwerdeführer anerkennt, den Tatbestand des widerrechtlichen Aufenthalts in der Schweiz erfüllt zu haben. Er macht jedoch einen Notstand (Art. 17 und Art. 18 Abs. 2 StGB) geltend. Er halte sich wegen der besonderen äusseren Umstände (verheiratet, vier Kinder, seit 20 Jahren in der Schweiz lebend) weiterhin im Kanton U.________ auf. Ihm sei die Preisgabe des verfassungsmässig geschützten Rechtsguts "Familie" nicht zumutbar (gewesen).
1.2. Die Vorinstanz erwägt, das Migrationsamt des Kantons Zürich habe mit Verfügung vom 14. August 2013 infolge wiederholter und erheblicher Straffälligkeit die Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdeführers nicht verlängert und ihn aus der Schweiz weggewiesen, was vom Bundesgericht mit Urteil vom 15. Januar 2015 bestätigt worden sei. Seine seitherigen Bemühungen um Erlangung einer neuen Aufenthaltsbewilligung seien gescheitert. Im Strafverfahren seien diese rechtskräftigen Wegweisungsentscheide, welche in Würdigung der diesbezüglich relevanten Gesichtspunkte ergangen seien, nicht in Frage zu stellen. Eine "Ersitzung" einer ausländerrechtlichen Bewilligung durch blosse, ununterbrochene Anwesenheit in der Schweiz ergäbe sich weder aus dem Gesetz noch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Zudem verlange der Beschwerdeführer mit dem geltend gemachten "Notstand" lediglich eine unzulässige Neubeurteilung oder gar Missachtung der rechtskräftigen ausländerrechtlichen Entscheide. Ein Notstand im Sinne von Art. 17 bzw. Art. 18 Abs. 2 StGB liege nicht vor.
1.3. Das kantonale Gericht erkennt zutreffend, dass sich die Rügen des Beschwerdeführers indirekt gegen die verwaltungsrechtlichen Entscheide betreffend die Wegweisung richten. Ihm geht es darum, dass er mit einem Freispruch gegenüber den Migrationsbehörden "glaubwürdig werden" kann. Wie die Vorinstanz jedoch zutreffend festhält, kann im Strafverfahren ein rechtskräftiger Wegweisungsentscheid, der in Würdigung der diesbezüglich massgeblichen Gesichtspunkte erging und letztinstanzlich vom Bundesgericht bestätigt wurde, nicht überprüft werden (BGE 147 IV 145 E. 2.2 mit Hinweisen). Eine Verletzung von Bundesrecht ist insoweit nicht ersichtlich. Sofern der Beschwerdeführer vorbringt, die Preisgabe (bzw. zumindest vorübergehende räumliche Trennung von) seiner Familie sei ihm nicht zumutbar, vermag dies zwar seine persönlichen Motive (Ehefrau, vier Kinder, langjähriger Aufenthalt) für einen weiteren Verbleib in der Schweiz nachvollziehbar erscheinen lassen. Diese Umstände sind aber nicht geeignet, eine Notstandslage im Sinne von Art. 17 oder Art. 18 Abs. 2 StGB zu begründen (vgl. Urteil 6B_1069/2014 vom 25. Februar 2015 E. 3). Es kann darauf hingewiesen werden, dass eine Interessenabwägung im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Ziff. 2 EMRK) bereits im nicht vom Strafgericht zu überprüfenden Urteil des Bundesgerichts 2C_519/2014 vom 15. Januar 2015 erfolgte und eine Abänderung betreffend den Wegweisungsentscheid durch die für den verwaltungsrechtlichen Entscheid zuständige (Asyl-) Behörde zu erfolgen hat (Urteil 6B_566/2017 vom 9. November 2017 E. 3.3).
2.
2.1. Im angefochtenen Urteil wird unter Verweis auf das Urteil des Bezirksgerichts Dietikon vom 12. März 2020 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer eine Beschaffung von Reisepapieren und eine Rückkehr in seine Heimat grundsätzlich möglich gewesen wäre, wenn er sich ernsthaft darum bemüht hätte. Der Beschwerdeführer rügt diese Feststellung als willkürlich und verweist auf verschiedene Aktenstücke.
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz fest gestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist eine Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 144 E. 2.1, 88 E. 1.3.1; 143 IV 241 E. 2.3.1; 143 I 310 E. 2.2; je mit Hinweis). Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dass eine andere Lösung ebenfalls möglich oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 143 IV 241 E. 2.3.1; je mit Hinweisen).
2.3. Der Beschwerdeführer kann aus dem von ihm zitierten Urteil 6B_85/2007 vom 3. Juli 2007 betreffend die objektive Möglichkeit, die Schweiz zu verlassen, nichts zu seinen Gunsten ableiten. Denn eine in der Schweiz gelebte stabile familiäre Beziehung macht eine Ausreise für den Beschwerdeführer in sein Heimatland nicht unmöglich. Im Übrigen ergeben sich aus den vom Beschwerdeführer ins Recht gelegten Unterlagen keine hinreichenden Hinweise, dass sein Heimatland nicht bereit wäre, ihn wieder aufzunehmen. Zwar wurde in einer E-Mail vom 9. Juni 2016 die Ausstellung eines Laissz-passer abgelehnt. Dies ist jedoch massgeblich auf die Gegenintervention des Beschwerdeführers bzw. seiner Ehefrau zurückzuführen. Es kann diesbezüglich auf die vorinstanzlichen Erwägungen zu einem Schreiben der Botschaft seines Heimatlandes vom 1. November 2016 verwiesen werden, das ebenfalls diesen Umstand betrifft. Entscheidend ist vielmehr, dass der Beschwerdeführer gemäss der Einschätzung einer Rückreisespezialistin des Staatssekretariats für Migration vom 23. bzw. 24. Mai 2018 die notwendigen Papiere bei der Botschaft seines Heimatlandes beschaffen könnte, falls er bereit wäre, freiwillig dorthin zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund ist die vorinstanzliche Schlussfolgerung nicht willkürlich, dem Beschwerdeführer wäre die Beschaffung von Reisepapieren und die Rückkehr in sein Heimatland möglich. Angesichts dieser willkürfrei festgestellten und deshalb für das Bundesgericht verbindlichen Tatsachenfeststellung besteht kein weiterer Abklärungsbedarf. Das kantonale Gericht verletzt kein Bundesrecht, indem es keine zusätzlichen Beweiserhebungen veranlasste (Art. 139 Abs. 2 StPO; vgl. Urteil 6B_13/2022 vom 23. März 2022 E. 1.1.2 mit Hinweisen).
2.4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Schuldspruch wegen des rechtswidrigen Aufenthalts kein Bundesrecht verletzt und die Beschwerde insofern offensichtlich unbegründet ist.
3.
Die Vorinstanz verurteilt den Beschuldigten wegen des rechtswidrigen Aufenthalts zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten. Nach der Rechtsprechung kann eine Freiheitsstrafe bei diesem Delikt mit Blick auf die Richtlinie 2008/115/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie) lediglich ausgesprochen werden, wenn die erforderlichen Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen ergriffen worden resp. aufgrund des Verhaltens dieser Person gescheitert sind (BGE 147 IV 232; 143 IV 249). Inwiefern diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, legt weder die Vorinstanz noch das erstinstanzliche Gericht dar. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie prüft, ob eine Freiheitsstrafe oder eine andere Sanktion im Hinblick auf die hervor zitierte Rechtsprechung auszusprechen ist.
4.
Aus den genannten Gründen ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG).
Bei dieser Ausgangslage kann auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden (vgl. BGE 133 IV 293 E. 3.4.2 S. 296 i.f.).
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung - die einer Beschwerde gegen eine unbedingte Freiheitsstrafe ohnehin von Gesetzes wegen zukommt (Art 103 Abs. 2 lit. b BGG) - ist infolge des Entscheids in der Sache gegenstandslos.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren im Umfang seines Obsiegens zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter auszurichten. Insofern wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. Soweit der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde unterliegt, ist es zufolge Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Dem Kanton Zürich sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdeführer hat die Gerichtskosten im Umfang seines Unterliegens zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Lage ist bei deren Festsetzung Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 26. Februar 2021 aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist.
 
3.
 
Dem Beschwerdeführer werden Gerichtskosten von Fr. 800.-- auferlegt.
 
4.
 
Der Kanton Zürich hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Guido Hensch, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- zu bezahlen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 12. Mai 2022
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli