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BGer 1B_218/2022 vom 18.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
1B_218/2022
 
 
Urteil vom 18. Mai 2022
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
 
Bundesrichter Chaix,
 
Bundesrichterin Jametti,
 
Gerichtsschreiberin Dambeck.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, Schwere Gewaltkriminalität,
 
Güterstrasse 33,
 
Postfach, 8010 Zürich.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug/Anordnung Sicherheitshaft,
 
Beschwerde gegen die Verfügung und den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 14. April 2022 (UB220066-O/Antrag).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führte gegen A.________ eine Strafuntersuchung wegen Erpressung etc. Am 8. März 2021 wurde er verhaftet und mit Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Bezirks Zürich vom 10. März 2021 in Untersuchungshaft versetzt. Die Staatsanwaltschaft bewilligte ihm mit Verfügung vom 22. Juni 2021 den vorzeitigen Strafvollzug.
Am 29. März 2022 wurde A.________ vom Bezirksgericht Bülach zu einer Freiheitsstrafe von 45 Monaten verurteilt wegen gewerbsmässiger Erpressung, Betrugs, Betrugsversuchs, Veruntreuung, Nötigung, Nötigungsversuchs, mehrfacher Sachentziehung, mehrfacher Sachbeschädigung, Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte, Verleumdung, Widerhandlung gegen das UWG und Beschimpfung. Das Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug wies das Bezirksgericht Bülach mit Beschluss vom 29. März 2022 ab und versetzte A.________ bis zum 29. Juni 2022 in Sicherheitshaft; den vorzeitigen Strafvollzug hob es auf den Zeitpunkt des Antritts der Sicherheitshaft auf.
Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde samt dessen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wies das Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, am 14. April 2022 ab.
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 27. April 2022 gelangte A.________ an das Bundesgericht und beantragt die umgehende Haftentlassung, eventualiter unter Anordnung von Ersatzmassnahmen. In prozessualer Hinsicht ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft verzichteten auf eine Vernehmlassung, worüber der Beschwerdeführer in Kenntnis gesetzt wurde. Am 11. Mai 2022 reichte der Beschwerdeführer dem Bundesgericht eine Beschwerdeergänzung ein.
 
 
Erwägung 1
 
Gegen den angefochtenen kantonal letztinstanzlichen Entscheid steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich nach wie vor in Haft. Er hat folglich ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und ist somit gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
 
Erwägung 2
 
Sicherheitshaft ist gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist (allgemeiner Haftgrund) und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Fluchtgefahr; lit. a). Überdies muss die Haft verhältnismässig sein (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 197 Abs. 1 lit. c und d sowie Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO). Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 237 Abs. 1 StPO).
Die Vorinstanz erachtete sowohl den dringenden Tatverdacht als auch den Haftgrund der Fluchtgefahr sowie die Verhältnismässigkeit der Haft als gegeben. Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen des dringenden Tatverdachts nicht, macht jedoch geltend, es sei keine Fluchtgefahr gegeben.
 
Erwägung 3
 
3.1. Die Annahme von Fluchtgefahr als besonderer Haftgrund setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass sich die beschuldigte Person dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts darf die Schwere der drohenden Sanktion zwar als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um einen Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falls, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse der beschuldigten Person, in Betracht gezogen werden (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3; 125 I 60 E. 3a; je mit Hinweisen). So ist es zulässig, ihre familiären und sozialen Bindungen, ihre berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen, ebenso besondere persönliche Merkmale (wie z.B. eine Tendenz zu überstürzten Aktionen, ausgeprägte kriminelle Energie etc.), die auf eine Fluchtneigung schliessen lassen könnten. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, fiele die Annahme von Fluchtgefahr nicht dahin (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 123 I 31 E. 3d). Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer ab, da sich auch die Dauer des allenfalls noch zu verbüssenden strafrechtlichen Freiheitsentzugs mit der bereits erstandenen prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (vgl. Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (BGE 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweis). Anklageerhebungen oder gerichtliche Verurteilungen können allerdings, je nach den Umständen des Einzelfalls, im Verlaufe des Verfahrens auch neue Fluchtanreize auslösen (vgl. BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.1).
3.2. Die Vorinstanz begründet das Vorliegen der Fluchtgefahr dahingehend, dass der Beschwerdeführer die Schweiz im Frühling 2020 verlassen habe, im Wissen um das laufende Strafverfahren, ohne die Behörden über seine Ausreise zu informieren und mit dem Ziel, sich in Namibia niederzulassen. Dadurch habe er gezeigt, dass ihn ein laufendes Strafverfahren nicht davon abhalte, das Land zu verlassen. Allein angesichts dieser präzisen und von langer Hand geplanten Ausreise und Niederlassung in Namibia (die mittels eines vom Beschwerdeführer eingestandenen Covid 19-Kreditbetrugs finanziert worden sei) spreche eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Annahme, der Beschwerdeführer werde sich durch eine erneute Ausreise aus der Schweiz der Verantwortung entziehen. Als zusätzliche Indizien für die Fluchtgefahr seien die Schwere der drohenden Sanktionen sowie die wirtschaftlichen Lebensumstände des Beschwerdeführers (der über hohe Schulden und kein regelmässiges Erwerbseinkommen in der Schweiz verfüge) zu werten. Zudem seien die familiären Bindungen des Beschwerdeführers zur Schweiz nicht derart intensiv, dass sie ihn von einer Flucht abhalten würden: Einerseits habe er sich in Namibia von seiner damaligen Ehefrau getrennt (und sei in der Zwischenzeit die Scheidung erfolgt) und habe er versucht, die gepachtete Farm (anstatt zusammen mit seiner damaligen Ehefrau) zusammen mit der Mutter seiner in Namibia geborenen Kinder zu betreiben, und andererseits hätten ihn die geltend gemachten familiären Bindungen zu seinen Eltern und seinem Bruder nicht davon abgehalten, die Schweiz mit dem Ziel zu verlassen, in Namibia eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Es sei daher eine ausgeprägte Fluchtgefahr zu bejahen.
3.3. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, führt zu keinem anderen Schluss. Insbesondere kann er daraus, dass er vor seiner Ausreise nach Namibia von der Staatsanwaltschaft angeblich während mehreren Monaten nichts mehr gehört und auch danach keine E-Mail erhalten habe und er sich nach seiner Ankunft in Namibia bei der Schweizer Vertretung in Südafrika gemeldet habe, nichts zu seinen Gunsten ableiten, zumal er selber einräumt, die Staatsanwaltschaft über seine Ausreise nicht informiert zu haben.
Aus den Vorbringen des Beschwerdeführers ergibt sich, dass seine Rückkehr aus Namibia in erster Linie aus persönlichen Gründen erfolgt ist: Gemäss den unbestritten gebliebenen Ausführungen der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer anlässlich seiner Hafteinvernahme vom 9. März 2021 angegeben, seine beiden Kinder aus Namibia in die Schweiz holen zu wollen, wofür er in die Schweiz habe zurückkehren müssen. Während ungefähr sechs Monaten habe er sich in Namibia aufgehalten und zusammen mit seiner (damaligen) Ehefrau eine Farm mit einer Lodge gepachtet und betrieben. Nachdem seine (damalige) Ehefrau in die Schweiz zurückgekehrt sei, habe er versucht, die Farm zusammen mit der Kindsmutter zu betreiben, was nicht funktioniert habe. Das Geld, das er nach Namibia mitgenommen habe, sei aufgebraucht gewesen, er habe den Pachtvertrag aufgelöst und entschieden, in die Schweiz zurückzukehren. Ursprünglich sei es sodann seine Idee gewesen, sich von seiner damaligen Ehefrau scheiden zu lassen, weil er in Namibia habe bleiben wollen, während sie in die Schweiz habe zurückkehren wollen. Er sei wieder in die Schweiz zurückgekommen, weil seine Ehefrau wieder hier sei. Sie sei ja wirklich eine tolle Frau, und so eine finde er nie mehr.
Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer am 29. März 2022 erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 45 Monaten verurteilt worden ist, die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage jedoch eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- beantragt hatte und gemäss ihrer Vernehmlassung an die Vorinstanz vom 5. April 2022 gegen das bezirksgerichtliche Urteil Berufung angemeldet hat. Damit hat sich die Ausgangslage gegenüber März 2021, als der Beschwerdeführer in die Schweiz zurückgekehrt ist, erheblich geändert. Während damals noch unklar war, ob der Standpunkt der Staatsanwaltschaft vor Gericht standhalten würde und deshalb das Risiko einer langen Freiheitsstrafe noch recht theoretisch erschien, muss der Beschwerdeführer nunmehr konkret damit rechnen, zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt zu werden. Der Fluchtanreiz hat mithin erheblich zugenommen.
Auch wenn der Beschwerdeführer bekräftigt, arbeiten und seine Lebenspartnerin sowie seine Kinder aus Namibia in die Schweiz holen zu wollen und für diese bereits die Reisepässe besorgt zu haben, vermag er damit nicht darzutun, dass entgegen der vorinstanzlichen Erwägungen keine Fluchtgefahr besteht. Einerseits lassen seine Ausführungen, wonach er im Haus seiner Mutter seinen Wohnsitz habe - im Kleiderschrank in seinem Zimmer würden seine Kleider hängen - und die Arbeitsstelle als Chauffeur immer noch auf ihn warten würde, vorliegend nicht den Schluss zu, dass sich sein Lebensmittelpunkt aktuell in der Schweiz befindet. Gemäss den Ausführungen der Staatsanwaltschaft im vorinstanzlichen Verfahren ist es unbestritten, dass der Beschwerdeführer die Schweiz im Frühling 2020 mit seinem gesamten Hab und Gut sowie einem frisch bezogenen Covid 19-Kredit von rund einer Viertelmillion Schweizer Franken verlassen habe und nach Namibia gegangen sei. Dabei habe er sich bei der Gemeinde abgemeldet und ein Leasingfahrzeug verschifft. Andererseits verfügt seine Lebenspartnerin gemäss den Ausführungen des Bezirksgerichts nicht nur über die namibische, sondern auch über die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch mit seinen Versprechungen und mit seinen Vorbringen, wonach die Vorliebe, an einem fernen Ort Ferien zu machen, noch lange nicht bedeute, dass man für immer dort leben möchte, wonach er in Namibia nichts habe - seine Verlobte und seine Kinder würden beim Vater bzw. Grossvater wohnen - und wonach er zu seiner Familie in der Schweiz einen sehr engen und innigen Kontakt pflege, vermag er die überzeugenden Darlegungen der Vorinstanz, die er im Übrigen nicht bestreitet, nicht zu widerlegen; es kann darauf verwiesen werden.
Es ist demnach nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Vorliegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO bejaht hat. Eine Befragung der Lebenspartnerin oder der Mutter des Beschwerdeführers erübrigt sich unter den gegebenen Umständen sowie mangels erheblicher, bestrittener Tatsachen (vgl. Art. 55 Abs. 1 BGG i.V.m. Art. 36 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess [SR 273]).
 
Erwägung 4
 
In Bezug auf die Verhältnismässigkeit der Haft erwog die Vorinstanz unter Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, aufgrund der vorliegend ausgeprägten Fluchtgefahr falle die Anordnung von Ersatzmassnahmen ausser Betracht. Angesichts der von der ersten Instanz ausgefällten Freiheitsstrafe sei die Fortdauer der Sicherheitshaft bis einstweilen am 29. Juni 2022 auch in zeitlicher Hinsicht verhältnismässig; insbesondere drohe noch keine Überhaft.
Mit diesen Erwägungen der Vorinstanz setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Sie sind nicht zu beanstanden.
 
Erwägung 5
 
Nach diesen Erwägungen ist die Beschwerde abzuweisen.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist abzuweisen, da sich die Beschwerde als aussichtslos erweist (Art. 64 BGG). Auf eine Kostenauflage ist ausnahmsweise zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, und Rechtsanwalt Dr. iur. Michael Aepli, Zug, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 18. Mai 2022
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kneubühler
 
Die Gerichtsschreiberin: Dambeck