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BGer 9C_38/2022 vom 24.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
9C_38/2022
 
 
Urteil vom 24. Mai 2022
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Advokatin Larissa Manera,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Basel-Stadt, Aeschengraben 9, 4051 Basel,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 16. November 2021 (IV.2021.96).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.a. Der 1971 geborene A.________ meldete sich im Oktober 2015 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärung der medizinischen und der erwerblichen Verhältnisse sowie Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle Basel-Stadt einen Rentenanspruch (Verfügung vom 21. Dezember 2017). Die von A.________ dagegen eingereichte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Urteil vom 12. Juni 2018 insoweit gut, als es die Sache zur Veranlassung einer polydisziplinären Begutachtung und zum Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückwies.
A.b. Die IV-Stelle zog weitere medizinische Unterlagen bei und holte bei der B.________ AG ein polydisziplinäres (internistisches, neurologisches, neuropsychologisches, psychiatrisches und rheumatologisches) Gutachten ein, welches am 10. November 2019 erstattet wurde. Mit Vorbescheid vom 16. März 2020 stellte sie dem Beschwerdeführer die Ablehnung eines Rentenanspruches in Aussicht, worauf dieser Einwand erhob. Die IV-Stelle liess den Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) Stellung nehmen und zog weitere Unterlagen bei. Nachdem sich der RAD nochmals geäussert hatte, erliess sie am 6. Mai 2021 eine dem Vorbescheid entsprechende Verfügung.
B.
Die von A.________ erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es sei das Verfahren auszusetzen und ein psychiatrisches Gutachten anzuordnen sowie anschliessend über den Leistungsanspruch neu zu entscheiden, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Urteil vom 16. November 2021 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Klärung des medizinischen Sachverhalts und zur Ermittlung seiner Restarbeitsfähigkeit an das kantonale Gericht zurückzuweisen, dies mit der Anweisung, ein Gerichtsgutachten im Fachbereich Psychiatrie einzuholen.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
1.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über Tatfragen, welche das Bundesgericht nur mit eingeschränkter Kognition prüft (BGE 132 V 393 E. 3.2). Gleiches gilt für die konkrete und die antizipierte Beweiswürdigung (BGE 146 V 139 E. 2.2; 144 V 111 E. 3). Demgegenüber stellen die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln frei überprüfbare Rechtsfragen dar (BGE 146 V 240 E. 8.2 mit Hinweisen).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der Invalidenversicherung verneinte.
 
Erwägung 3
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
3.2. Im angefochtenen Urteil werden die hier massgebenden Bestimmungen und Grundsätze über die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG) sowie betreffend die Beweiswürdigung und den Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Erwägung 4
 
4.1. Die Vorinstanz mass dem polydisziplinären Gutachten der B.________ AG vom 10. November 2019 Beweiskraft zu. Darin wurde das Vorliegen einer Depression oder einer Persönlichkeitsstörung ausdrücklich verneint und als einzige Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit ein Ilioinguinal-Syndrom nach Leisten-Operation rechts im November 2014 festgehalten, aufgrund dessen der Beschwerdeführer in einer leidensangepassten Tätigkeit (wechselbelastend, stehend und sitzend) zu 80 % arbeitsfähig sei. Gestützt auf diese gutachterlichen Feststellungen gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer rentenausschliessend erwerbstätig sein könnte.
4.2. Nach der in der Beschwerde vertretenen Auffassung leidet das Gutachten der B.________ AG vom 10. November 2019 insoweit an einem formellen Mangel, als die Teilgutachten zwar von den jeweiligen Fachärzten unterzeichnet wurden, die Konsensbeurteilung aber lediglich die Unterschrift von pract. med. C.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin (D), trägt. Ob die Unterzeichnung des Hauptgutachtens durch alle beteiligten Experten in diesem Sinne ein Formerfordernis darstellt, kann indessen bei den hier gegebenen Verhältnissen offen bleiben (vgl. auch Urteile 8C_348/2013 vom 19. September 2013 E. 4.2 und 8C_904/2012 vom 28. März 2013 E. 4.4) : Wie sich dem Abschnitt "5. Angaben zur Entstehung des Konsens" der interdisziplinären Gesamtbeurteilung entnehmen lässt, oblag die Führung des Konsens pract. med. C.________, die sich mit den Gutachtern im persönlichen Gespräch und auf dem internen elektronischen Weg austauschte, welches Vorgehen nicht zu beanstanden ist. Nachvollziehbar ist auch die auf diesem Weg zustande gekommene Erkenntnis, dass sich die interdisziplinäre Gesamtbeurteilung allein nach der neurologischen Beurteilung zu richten hatte, da diese als einzige eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ergeben hatte. Ein formeller Mangel liegt bei dieser Sachlage nicht vor.
4.3. Als weiteren Grund, weshalb auf die Expertise vom 10. November 2019 nicht abgestellt werden könne, nennt der Beschwerdeführer (wie bereits im kantonalen Verfahren), dass die psychiatrische Gutachterin pract. med. C.________ voreingenommen gewesen sei; von Anfang an habe sie sich ihm gegenüber misstrauisch verhalten und damit ein neutrales, sachliches und unbelastetes Explorationsgespräch verunmöglicht. Umstände, welche den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit der pract. med. C.________ objektiv zu begründen vermöchten, wurden im angefochtenen Urteil indessen zu Recht verneint: Solche können insbesondere nicht darin erblickt werden, dass pract. med. C.________ unter anderem auch schilderte, wie sie das Verhalten des Versicherten (einschliesslich seiner Darstellung der Deutschkenntnisse) wahrnahm. Im Rahmen der klinischen Untersuchung hat sich die Gutachtensperson, welche die Angaben des Exploranden nicht vorbehaltlos als richtig annehmen darf, auch zum beobachteten Verhalten und zur Plausibilität der geklagten Beschwerden zu äussern sowie allfällige Widersprüche aufzuzeigen (Urteile 9C_699/2019 vom 17. Februar 2020 E. 3.2 und 8C_390/2017 vom 9. November 2017 E. 4.1). So musste pract. med. C.________ insbesondere auch begründen, aufgrund welcher Faktoren sie auf Aggravation schloss, wobei sich in diesem Zusammenhang kritische Bemerkungen gegenüber dem Begutachteten kaum vermeiden lassen (vgl. Urteil 9C_846/2007 vom 11. März 2008 E. 3.3). Da sich die entsprechenden Ausführungen im psychiatrischen Teilgutachten allesamt als sachbezogen erweisen, hält der Vorwurf der Voreingenommenheit nicht stand.
4.4. Unbegründet ist sodann auch die beschwerdeführerische Kritik, wonach im psychiatrischen Teilgutachten eine Auseinandersetzung mit den seit Jahren in Anspruch genommenen Therapien fehle, denn pract. med. C.________ trug diesen in den Abschnitten "7.1 Zusammenfassung der bisherigen persönlichen, beruflichen und gesundheitlichen Entwicklung der versicherten Person einschliesslich der aktuellen psychischen, sozialen und gesundheitlichen Situation" und "7.2 Beurteilung des bisherigen Verlaufs von Behandlungen, Rehabilitationen, Eingliederungsmassnahmen etc., Diskussion von Heilungschancen" sehr wohl Rechnung, sah ihre Auffassung in den Vorakten aber gerade bestätigt (so insbesondere in den Berichten der Psychiatrischen Kliniken D.________ vom 26. März 2018 und des Dr. med. E.________ vom 3. Februar 2017). Weiter begründete pract. med. C.________ nachvollziehbar, weshalb sie die von den behandelnden Ärzten gestellten psychiatrischen Diagnosen (Depression, Persönlichkeitsstörung) für nicht gegeben hielt. Entgegen der Darstellung in der Beschwerde trifft es auch nicht zu, dass eine Aggravation gestützt auf die durchgeführten neuropsychologischen Zusatzuntersuchungen ausgeschlossen werden konnte. Diese hatten ergeben, dass entsprechende Tendenzen möglich seien; nach der Neuropsychologin hätte es sich lediglich anders verhalten, wenn die festgestellten kognitiven Einschränkungen in den somatischen, neurologischen oder psychiatrischen Befunden eine Erklärung gefunden hätten, was nach den entsprechenden Teilgutachten nicht der Fall war. Der Beschwerdeführer, der die gutachterlichen Ausführungen pauschal in Frage stellt, vermag nicht darzutun, inwiefern pract. med. C.________ bei ihrer psychiatrischen Exploration nicht lege artis vorgegangen sein soll. In seinen Vorbringen beschränkt er sich darauf, die Beweise abweichend von der Vorinstanz zu würdigen bzw. appellatorische Kritik an ihrer Sachverhaltsfeststellung anzubringen, was nicht genügt (BGE 145 I 26 E. 1.3; Urteil 9C_517/2019 vom 4. November 2019 E. 3.5).
4.5. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz zu Recht auf das Gutachten der B.________ AG vom 10. November 2019 abgestellt. Nicht zu beanstanden ist auch ihr Verzicht auf die vom Beschwerdeführer beantragten weiteren Abklärungen in psychiatrischer Hinsicht, da sich der entscheidwesentliche Sachverhalt aus den Akten mit genügender Klarheit ergab und von einer weiteren psychiatrischen Begutachtung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten waren. Eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes liegt damit nicht vor (antizipierte Beweiswürdigung, vgl. dazu BGE 144 V 361 E. 6.5; Urteil 8C_739/2020 vom 17. Februar 2021 E. 5.4).
4.6. Dem kantonalen Gericht kann schliesslich auch nicht vorgeworfen werden, dass es keine Indikatorenprüfung gemäss BGE 141 V 281 durchführte. Nachdem im Gutachten vom 10. November 2019 lediglich ein somatischer, aber kein psychischer Gesundheitsschaden mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit diagnostiziert worden war, erwies sich eine solche als entbehrlich (vgl. Urteile 9C_587/2021 vom 31. Januar 2022 E. 4.1 und 9C_197/2018 vom 5. Juni 2018 E. 7).
4.7. Es steht demnach im Einklang mit dem Bundesrecht, dass das kantonale Gericht dem Gutachten vom 10. November 2019 Beweiswert zuerkannte, der darin enthaltenen Einschätzung, wonach beim Versicherten eine Arbeitsfähigkeit von 80 % besteht, folgte und weitere medizinische Abklärungen für entbehrlich hielt. Damit hat es mit der Verneinung eines Rentenanspruches sein Bewenden.
5.
Entsprechend dem Verfahrensausgang werden die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 24. Mai 2022
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Parrino
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann