Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 8C_505/2021 vom 30.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_505/2021
 
 
Urteil vom 30. Mai 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
 
Gerichtsschreiber Grünenfelder.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Ersatzkasse UVG,
 
c/o Allianz Versicherungsgesellschaft,
 
Richtiplatz 1, 8304 Wallisellen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Kathrin Schläpfer,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Valideneinkommen),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 14. Juni 2021 (UV 2020/24).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Die 1987 geborene A.________ war in der Schweiz als Sexarbeiterin erwerbstätig. Wenige Wochen nach ihrer Einreise aus Spanien ereignete sich am 27. Dezember 2013 an ihrem Arbeitsort ein bewaffneter Raubüberfall, dem sie durch einen Sprung aus dem ersten Stock des Gebäudes entkommen konnte. Dabei zog sie sich Knochenbrüche am Rücken (inkomplette LWK1-Berstungsfraktur) sowie an den Füssen zu, welche zunächst am Kantonsspital B.________ und später in einem Spital in Barcelona versorgt wurden (Rückenoperation vom 14. Februar 2014). Ende Februar 2014 begab sich A.________ wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in psychotherapeutische Behandlung. Die Ersatzkasse UVG richtete die gesetzlichen Leistungen aus. Nach mehrmaliger Konsultation ihres Vertrauensarztes veranlasste sie bei der medizinischen Begutachtungsstelle C.________ eine polydisziplinäre Expertise vom 23. März 2017. Mit Verfügung vom 24. Juli 2018 stellte die Ersatzkasse UVG die Leistungen per Ende November 2017 ein und gewährte A.________ eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 50 %, verneinte jedoch einen Rentenanspruch. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 27. Februar 2020 fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Urteil vom 14. Juni 2021 gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 27. Februar 2020 auf und sprach ihr ab 1. Dezember 2017 eine Invalidenrente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 15 % zu. Die Übersetzungskosten für die in spanischer Sprache eingereichten Aktenstücke in Höhe von Fr. 1089.75 überband es der unterliegenden Ersatzkasse UVG.
C.
Die Ersatzkasse UVG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei der Einspracheentscheid vom 27. Februar 2020 zu bestätigen. Sodann sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde und des Antrags auf Gewährung der aufschiebenden Wirkung schliessen; eventualiter sei Letzterer zumindest für die laufenden Invalidenrenten ab 1. Juli 2021 abzuweisen. Sodann lässt sie die unentgeltliche Rechtspflege beantragen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen zum Anspruch auf eine Invalidenrente bei einer unfallbedingten Invalidität von mindestens 10 % (Art. 18 Abs. 1 UVG) sowie über die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
3.
3.1. Es steht fest und ist letztinstanzlich unbestritten geblieben, dass die Beschwerdegegnerin in Anbetracht des beweiswertigen Gutachtens der medizinischen Begutachtungsstelle C.________ vom 23. März 2017 in adaptierter Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig ist. Alsdann wird von keiner Seite in Abrede gestellt, dass sie auf dieser Grundlage unter Berücksichtigung eines 15 %igen Abzugs vom Tabellenlohn (vgl. BGE 126 V 75) in der Lage ist, für das Jahr 2017 ein Invalideneinkommen von Fr. 46'565.55 (Fr. 54'783.- x 0.85) zu erzielen.
Streitig und zu prüfen ist hingegen, ob die vorinstanzliche Festlegung des hypothetischen Valideneinkommens aus Sicht des Bundesrechts stand hält.
3.2. Bei der Ermittlung des Einkommens, das die versicherte Person verdienen könnte, wäre sie nicht invalid geworden (Art. 16 ATSG), ist in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen, da es empirischer Erfahrung entspricht, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre; Ausnahmen müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 134 V 322 E. 4.1 mit Hinweis). Lässt sich aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse das ohne gesundheitliche Beeinträchtigung realisierbare Einkommen nicht hinreichend genau beziffern, so darf auf statistische Werte wie die vom Bundesamt für Statistik (BfS) herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (nachfolgend: LSE) zurückgegriffen werden. Die für die Entlöhnung im Einzelfall relevanten persönlichen und beruflichen Faktoren sind mitzuberücksichtigen (BGE 139 V 28 E. 3.3.2; Urteil 8C_595/2019 vom 5. November 2019 E. 6.2). Sodann soll die Wahl der massgeblichen Tabellenposition möglichst den überwiegend wahrscheinlichen Verlauf der Einkommensentwicklung ohne Gesundheitsschaden abbilden. Hierbei ist das Valideneinkommen keine vergangene, sondern eine hypothetische Grösse (statt vieler: Urteil 8C_572/2021 vom 19. Januar 2022 E. 3.1 mit weiteren Hinweisen).
4.
4.1. Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen anhand des Totalwerts der LSE-Tabellenlöhne für Frauen in einfachen Tätigkeiten körperlicher oder handwerklicher Art (LSE 2016, Tabelle TA1, Kompetenzniveau 1, Total), indexiert für das Jahr 2017, auf Fr. 54'783.- festgelegt. Diesbezüglich hat das kantonale Gericht erwogen, die Beschwerdegegnerin würde im hypothetischen Gesundheitsfall jede Tätigkeit als Ungelernte ausüben, vor allem in einem besser bezahlten Sektor wie etwa der Produktion. Denn ihr Ziel sei es gewesen, in Europa möglichst viel Geld zu verdienen respektive anzusparen, um allenfalls später studieren zu können. Auch habe die Beschwerdegegnerin stets versucht, ihre Familie in Paraguay finanziell zu unterstützen.
4.2. Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber im Wesentlichen geltend, mit Blick auf das bisherige Erwerbsleben der Beschwerdegegnerin könne nicht angenommen werden, dass diese ohne den Unfall eine besser bezahlte Stelle gesucht und auch gefunden hätte. Die gegenteilige Auffassung des kantonalen Gerichts beruhe auf reinen Mutmassungen, welche nicht aktenkundig seien. Es werde ausdrücklich am Einspracheentscheid vom 27. Februar 2020 festgehalten, wonach auf die Tätigkeit einer Haushaltshilfe bzw. Raumpflegerin gemäss Position 77-82 der LSE (sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen) abzustellen sei.
 
Erwägung 5
 
5.1. Das kantonale Gericht hat für die Bestimmung des Valideneinkommens richtigerweise nicht die zuletzt ausgeübte Tätigkeit (vgl. E. 3.2 hievor) als Sexarbeiterin herangezogen. Dabei handelte es sich um einen Arbeitsversuch, welchen die Beschwerdegegnerin nach eigenen Angaben als unzumutbar erachtete und daher so oder anders nicht mehr ausführen würde. Dementsprechend hielt sie bei der Begutachtung durch die medizinische Begutachtungsstelle C.________ fest, es seien sehr lange Arbeitstage gewesen. Sie habe kaum schlafen können und immer bereit sein müssen für die Kunden. Abgesehen davon sei sie bei der Arbeit von einem Kunden schwer misshandelt und vergewaltigt worden (Gutachten der medizinischen Begutachtungsstelle C.________, S. 7 und 12). Soweit in der Beschwerde die Frage aufgeworfen wird, ob die Beschwerdegegnerin ohne das Unfallereignis noch längere Zeit als Prostituierte gearbeitet hätte, ist dies nach dem Gesagten offenkundig zu verneinen.
5.2. Auch die weitere Kritik der Beschwerdeführerin greift zu kurz. Allein die Tatsache, dass die Beschwerdegegnerin rund fünfeinhalb Jahre in Spanien im Haushalts- und Familienbereich respektive in der Kinderbetreuung beschäftigt war, bietet keinen hinreichenden Anhaltspunkt, um der Vorinstanz eine Bundesrechtswidrigkeit vorwerfen zu können. Vielmehr bestand die einzige Motivation der Beschwerdegegnerin seit dem Verlassen ihres Heimatlands unbestrittenermassen darin, möglichst viel Geld zu verdienen. Wie in der Vernehmlassung zutreffend dargelegt, ging sie bereits aus diesem Grund nach Spanien. Durch den dortigen Verlust der letzten Arbeitsstelle im Zuge der Wirtschaftskrise sah sich die Beschwerdegegnerin im Jahr 2013 erneut einer finanziellen Notlage gegenüber. Dannzumal fasste sie nach eigenen Angaben den Entschluss, eine Weile in der Schweiz zu arbeiten, Geld zu sparen, ihre Familie finanziell zu unterstützen und später in Paraguay ein Studium aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund wäre es in Anbetracht ihrer Erwerbsbiografie durchaus naheliegend gewesen, wenn die Beschwerdegegnerin im bereits bekannten Berufsfeld (Kinderbetreuung / Haushaltshilfe / Reinigung) versucht hätte, eine Anstellung zu finden. Solche Stellenbemühungen sind jedoch in keiner Weise belegt. Stattdessen war die Beschwerdegegnerin bereit, sich sogar auf eine Tätigkeit als Prostituierte einzulassen. Dies stützt die im angefochtenen Urteil vertretene Sichtweise, wonach sie aufgrund des nach wie vor grossen finanziellen Drucks (hypothetisch) auch im Dezember 2017 zwar nicht mehr für die zuletzt ausgeübte (vgl. E. 5.1 hievor), aber immerhin für sämtliche anderen Tätigkeiten im Kompetenzniveau 1 offen gewesen wäre. Davon ist umso mehr auszugehen, als ihr - wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat - etwa in der Produktion bessere Verdienstmöglichkeiten offenbart worden wären als bei den bisher ausgeübten Tätigkeiten im Dienstleistungssektor. Anders als die Beschwerdeführerin meint, stehen dem insbesondere die mangelnden Sprachkenntnisse der Beschwerdegegnerin nicht entgegen. Denn solche spielen bei den hier interessierenden Erwerbstätigkeiten für Ungelernte naturgemäss eine untergeordnete Rolle (vgl. betreffend Abzug vom Tabellenlohn: Urteil 8C_594/2011 vom 10. Oktober 2011 E. 5 mit Hinweis). Abgesehen davon war die Beschwerdegegnerin bereits früher in der Lage, innert nützlicher Frist die katalanische Sprache zu erlernen (vgl. Gutachten der medizinischen Begutachtungsstelle C.________, S. 14). Dass sie sich im hypothetischen Gesundheitsfall nach einiger Zeit gleichermassen auf Deutsch verständigen könnte, erscheint demzufolge nicht abwegig. Auch anhand der sonstigen Vorbringen vermag die Beschwerdeführerin keine Rechtsverletzung aufzuzeigen.
6.
Nach dem Gesagten hat es mit dem von der Vorinstanz ermittelten Valideneinkommen von Fr. 54'783.- sein Bewenden. Die Gegenüberstellung (Art. 16 ATSG) mit dem Invalideneinkommen von Fr. 46'565.55 (vgl. E. 3.1 hievor) führt zu einem über der Erheblichkeitsgrenze liegenden Invaliditätsgrad von 15 %. Das kantonale Gericht hat einen entsprechenden Rentenanspruch somit zu Recht bejaht. Die Beschwerde ist unbegründet.
7.
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
8.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der Beschwerdegegnerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung III, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 30. Mai 2022
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Wirthlin
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder