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Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 1B_510/2021 vom 07.06.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
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1B_510/2021
 
 
Urteil vom 7. Juni 2022
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Jametti, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Haag,
 
nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Kaspar Noser,
 
gegen
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, Postfach, 9016 St. Gallen,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
 
Kantonales Untersuchungsamt,
 
Spisergasse 15, 9001 St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Zulassung der Sozialversicherungsanstalt als Privatklägerin,
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 18. August 2021 (AK.2021.247-AK (ST.2017.40524), AK.2021.248-AP).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Kantonales Untersuchungsamt) führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen des Verdachts des Betrugs, des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung und der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung. Sie wirft ihm vor, ein Leiden zumindest in seinem Ausmass vorgetäuscht und damit zu Unrecht Leistungen der Invalidenversicherung bezogen zu haben.
 
B.
 
Am 18. März 2021 konstituierte sich die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (Kantonale IV-Stelle) als Privatklägerin und ersuchte um Zulassung als Partei zum Strafverfahren sowie um Akteneinsicht.
Mit Verfügung vom 17. Mai 2021 liess die Staatsanwaltschaft die Sozialversicherungsanstalt als Privat- bzw. Strafklägerin zu. Eine Zivilklägerschaft der Sozialversicherungsanstalt als öffentlich-rechtliche Anstalt schloss die Staatsanwaltschaft aus. Diese eröffnete der Sozialversicherungsanstalt zudem die gesamten bisher aufgelaufenen Strafverfahrensakten in elektronischer Form ohne ein bestimmtes Dossier.
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 18. August 2021 ab (Dispositiv Ziffer 1). Die Verfahrenskosten auferlegte es A.________ und befreite ihn einstweilen von deren Bezahlung (Dispositiv Ziffer 2).
 
C.
 
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Ziffern 1 und 2 des Dispositivs des Entscheids der Anklagekammer aufzuheben und festzustellen, dass die Sozialversicherungsanstalt nicht berechtigt sei, am Strafverfahren als Privatklägerin teilzunehmen.
 
D.
 
Die Anklagekammer hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die Staatsanwaltschaft hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen; ebenso die Sozialversicherungsanstalt mit dem Antrag, auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventualiter sie abzuweisen. A.________ hat dazu Stellung genommen.
 
E.
 
Mit Verfügung vom 12. Oktober 2021 hat das präsidierende Mitglied der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung das Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren nicht ab. Er stellt unstreitig einen Zwischenentscheid nach Art. 93 BGG dar. Dagegen ist gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung die Beschwerde zulässig, (a) wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann, oder (b) wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde.
1.2. Die Variante nach Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt hier ausser Betracht.
Nach der Rechtsprechung muss es sich im Strafrecht beim nicht wieder gutzumachenden Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG um einen solchen rechtlicher Natur handeln. Ein derartiger Nachteil liegt vor, wenn er auch durch einen für den Beschwerdeführer günstigen späteren Entscheid nicht mehr behoben werden kann (BGE 147 IV 188 E. 1.3.2 mit Hinweis). Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens genügt nicht (BGE 147 III 159 E. 4.1 mit Hinweisen).
Nach ständiger Rechtsprechung verursacht ein Entscheid, mit dem einem Dritten die Stellung als Privatkläger im Strafverfahren zuerkannt wird, dem Beschuldigten in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur. Der blosse Umstand, dass der Beschuldigte einer zusätzlichen Partei gegenübersteht, begründet keinen solchen Nachteil; ebenso wenig für sich allein, dass der Privatkläger Zugang zum Dossier des Strafverfahrens erhält (BGE 128 I 215 E. 2.1; Urteil 1B_183/2021 vom 21. September 2021 E. 2.1 f.; je mit Hinweisen).
1.3. Der Beschwerdeführer bringt vor, es drohe ihm ein nicht wieder gutzumachender Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, weil damit zu rechnen sei, dass es die Sozialversicherungsanstalt nicht bei einer blossen Parteistellung bewenden lasse, sondern in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft mittels Parteianträgen darauf hinwirken werde, dass er im Sinne der Strafanzeige schuldig gesprochen werde (Beschwerde S. 3). Dies begründet nach der dargelegten Rechtsprechung, welche der Beschwerdeführer übergeht, keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur. Ein solcher ist auch sonst nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer legt insbesondere nicht substanziiert dar, weshalb ihm aufgrund des Rechts der Sozialversicherungsanstalt auf Akteneinsicht (Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO) ein derartiger Nachteil drohen soll. Dies ist umso weniger auszumachen, als es sich bei der Sozialversicherungsanstalt nicht um einen Privaten handelt, sondern eine öffentlich-rechtliche Anstalt, deren Mitarbeiter dem Amtsgeheimnis unterstehen (vgl. Art. 320 StGB; BGE 135 IV 198 E. 3.3 f.).
Mangels nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG kann demnach auf die Beschwerde nicht eingetreten werden.
 
Erwägung 2
 
Da die Beschwerde aus formellen Gründen aussichtslos war, kann die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG nicht bewilligt werden. In Anbetracht der finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers werden ihm jedoch keine Gerichtskosten auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Sozialversicherungsanstalt, der Staatsanwaltschaft (Kantonales Untersuchungsamt) und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 7. Juni 2022
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Jametti
 
Der Gerichtsschreiber: Härri