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Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 1C_52/2022 vom 08.06.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
1C_52/2022
 
 
Urteil vom 8. Juni 2022
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
 
Bundesrichter Haag,
 
nebenamtliche Bundesrichterin Pont Veuthey,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Advokat Dr. Christian von Wartburg,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft, Regierungsgebäude, Rathausstrasse 2, 4410 Liestal.
 
Gegenstand
 
Warnungsentzug des Führerausweises,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, vom 24. November 2021 (810 21 84).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Anlässlich einer Verkehrskontrolle vom 10. März 2014 führte A.________ mit einem zu hohen Blutalkoholwert einen Personenwagen. In der Folge wurde ihm der Führerausweis mit dem Hinweis vorläufig abgenommen, dass es ihm bis zu dessen Rückgabe untersagt sei, ein Fahrzeug zu führen. Am 16. März 2014 wurde er von einem Polizisten beobachtet, wie er trotzdem einen Personenwagen lenkte. Die Polizei Basel-Landschaft, Abteilung Administrativmassnahmen,entzog ihm daraufhin am 29. April 2014 den Führerausweis wegen einer schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften für die Dauer von fünf Monaten.
Am 17. Januar 2016 missachtete A.________ in Basel ein Stopp-Signal und übersah ein von links herankommendes, vortrittsberechtigtes Tram. In der Folge wurde er mit Strafbefehl vom 3. August 2016 wegen einfacher Verletzung von Verkehrsregeln zu einer Busse verurteilt. Die Polizei qualifizierte den Vorfall als mittelschwere Widerhandlung und entzog ihm am 5. Dezember 2016 den Führerausweis für die Dauer von vier Monaten. Aufgrund der verspäteten Zustellung des Führerausweises verlängerte sie die Entzugsdauer bis am 16. September 2017. Am 14. September 2017stellte sie ihm den Führerausweis wieder zu, wies ihn jedoch gleichzeitig schriftlich darauf hin, dass der Führerausweisentzug noch bis und mit dem 16. September 2017 andauere.
Am 16. September 2017 verursachte A.________ in Basel einen Auffahrunfall. Die zum Unfallort herbeigerufene Polizeipatrouille nahm ihm den Führerausweis an Ort und Stelle vorläufig ab. Die Polizei eröffnete daraufhin ein Administrativverfahren, das sie auf Gesuch von A.________ bis zum Abschluss des wegen des gleichen Vorfalls eröffneten Strafverfahrens mit Schreiben vom 29. November 2017 sistierte. Gleichzeitig hob sie den vorläufigen Ausweisentzug auf. Mit rechtskräftigem Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt vom 22. November 2019 wurde A.________ wegen des fahrlässigen Führens eines Motorfahrzeugs trotz Verweigerung, Entzug oder Aberkennung des Ausweises und der Verletzung der Verkehrsregeln zu einer unbedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen à Fr. 30.-- und einer Busse von Fr. 200.-- verurteilt. In der Folge nahm die Polizei das Administrativverfahren wieder auf und ordnete mit Verfügung vom 4. November 2020 einen Führerausweisentzug für die Dauer von zwölf Monaten an, abzüglich der bereits vollzogenen 74 Tage. Zur Begründung hielt sie fest, dass aufgrund des Führens eines Fahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis am 16. März 2014 und am 16. September 2017 zwei schwere Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsrecht innerhalb von fünf Jahren vorlägen und die Entzugsdauer dem gesetzlichen Minimum entspreche.
Die von A.________ in der Folge erhobenen Beschwerden wurden vom Regierungsrat mit Beschluss vom 23. März 2021 und vom Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, mit Urteil vom 24. November 2021 abgewiesen.
 
B.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht vom 28. Januar 2022 beantragt A.________, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und es sei lediglich eine Verwarnung auszusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Kantonsgericht hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. Der Regierungsrat beantragt deren Abweisung, ebenso das Bundesamt für Strassen (ASTRA).
 
C.
 
Mit Präsidialverfügung vom 22. Januar 2022 hat das Bundesgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
 
 
1.
 
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (Art. 82 ff. BGG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
 
Erwägung 2
 
2.1. Wer ein Motorfahrzeug trotz Ausweisentzug führt, begeht eine schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften (Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG). Der Führerausweis wird nach einer schweren Widerhandlung für mindestens zwölf Monate entzogen, wenn in den vorangegangenen fünf Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren Widerhandlung entzogen war (Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG). Bei der Festsetzung der Dauer des Lernfahr- oder Führerausweisentzugs sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, namentlich die Gefährdung der Verkehrssicherheit, das Verschulden, der Leumund als Motorfahrzeugführer sowie die berufliche Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen. Die Mindestentzugsdauer darf jedoch nicht unterschritten werden, ausser wenn die Strafe nach Art. 100 Ziff. 4 Satz 3 SVG gemildert wurde (Art. 16 Abs. 3 SVG).
2.2. Das Kantonsgericht legte dar, der Beschwerdeführer habe innerhalb von fünf Jahren zwei schwere Widerhandlungen im Sinne von Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG begangen und es liege kein Fall vor, in dem gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG die Mindestentzugsdauer ausnahmsweise unterschritten werden dürfe. Aus seinem vorgebrachten Irrtum könne er nichts zu seinen Gunsten ableiten. So sei er in der mittels A-Post versendeten Mitteilung vom 14. September 2017 von der Polizei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der Führerausweis erst nach Ablauf des Entzugs verwendet werden dürfe, andernfalls er sich des Führens eines Motorfahrzeugs trotz Entzugs schuldig machen würde. Hervorgehoben worden sei der Hinweis mit dem in grosser und fetter Schrift verfassten Titel "Der Entzug dauert noch bis und mit 16.09.2017". Der Führerausweis sei unmittelbar unterhalb dieses Hinweises befestigt gewesen. Hinzu komme, dass es sich für den Beschwerdeführer um den zweiten Führerausweisentzug gehandelt habe und er hinsichtlich des Rücksendevorgangs des Führerausweises bereits sachkundig gewesen sei. Zudem sei es durchaus nachvollziehbar, dass der Führerausweis kurz vor dem Ablauf der Entzugsdauer wieder zugestellt werde, damit er unmittelbar nach dem Entzugsende wieder zur Verfügung stehe. Wenn der Beschwerdeführer sich am 16. September 2017 dennoch ans Steuer eines Motorfahrzeuges gesetzt habe, liege darin zumindest eine grobfahrlässige schwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG. Die Ansicht, das Strafgericht habe ihm nur ein leichtes Verschulden vorgeworfen, finde in den Akten keine Stütze. Die Erwägung im Strafurteil, wonach das Verschulden eher leicht wiege, habe sich nicht auf die Qualifikation des subjektiven Tatbestandes, sondern auf die Strafzumessung bezogen. Davon abgesehen, führe bereits ein besonders leichtes Verschulden zu einem Führerausweisentzug wegen schwerer Widerhandlung mit der entsprechenden Mindestentzugsdauer. Einem geringfügigen Verschulden könnte höchstens im Rahmen der Bemessung der Entzugsdauer - oberhalb der Mindestentzugsdauer - Rechnung getragen werden. Der Beschwerdeführer sei allerdings bereits in den Genuss der tiefsten zulässigen Entzugsdauer gekommen.
2.3. Der Beschwerdeführer bringt zunächst vor, der Führerausweis sei ihm mit der Rücksendung durch die Polizei "faktisch" bzw. "materiell" zurückgegeben worden. Die Feststellung des Kantonsgerichts, dass der Ausweisentzug am 16. September 2017, als der Beschwerdeführer ein Fahrzeug lenkte und einen Unfall verursachte, noch andauerte, stellt er jedoch nicht in Frage. Eine offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG) oder eine Verletzung von schweizerischem Recht (Art. 95 BGG) ist denn insoweit auch nicht erkennbar.
2.4. Weiter macht er geltend, im Strafurteil vom 22. November 2019 sei festgestellt worden, dass er sich in einem fahrlässigen Sachverhaltsirrtum befunden habe, weil er das Begleitschreiben nicht sorgfältig gelesen habe. Diesen Umstand habe das Kantonsgericht nicht berücksichtigt. Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG setze jedoch Vorsatz voraus. Es liege aus diesen Gründen lediglich eine leichte Widerhandlung im Sinne von Art. 16a SVG vor. Auch dieser Einwand verfängt nicht. Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG setzt keinen Vorsatz voraus, Fahrlässigkeit ist ausreichend (BGE 129 II 92 E. 2.1 mit Hinweisen; Urteil 1C_275/2007 vom 16. Mai 2008 E. 3.9.4; je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 141 II 220 E. 3.1.2).
2.5. Das Verschulden ist, zusammen mit den weiteren Umständen des Einzelfalls, bei der Festsetzung der Dauer des Führerausweisentzugs zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer ist insofern der Ansicht, es sei unverhältnismässig, ihm den Führerausweis für zwölf Monate zu entziehen, nur weil er einen Begleitbrief in der Euphorie nicht sorgfältig gelesen habe. Die Mindestentzugsdauer sei auch gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausnahmslos zwingend. Es lägen ganz besondere Umstände im Sinne dieser Rechtsprechung vor, die ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindestentzugsdauer rechtfertigten. Diese lägen zum einen darin, dass er aufgrund der Rücksendung vom Ende des Fahrverbots habe ausgehen dürfen. Zum andern liege eine Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist vor, wenn ihm vier Jahre nach dem fahrlässigen Irrtum über die Fahrberechtigung der Ausweis entzogen werde. Hinzu komme, dass er neu als Nachtbetreuer in einem Wohnheim für Suchtkranke arbeite und im Notfall das Auto brauche, um jemanden ins Spital oder zu einem Arzt zu bringen.
Abgesehen von dem hier nicht gegebenen Ausnahmefall gemäss Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG darf die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden. Dies gilt auch bei lediglich leichter Fahrlässigkeit (Urteil 1C_102/2016 vom 20. Dezember 2016 E. 2.5). Das Kantonsgericht hat somit zu Recht erwogen, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände nicht zu einer milderen Administrativmassnahme führen könnten, da es sich bei der Entzugsdauer von zwölf Monaten bereits um das gesetzliche Minimum handelt. Zwar hat das Bundesgericht in seiner nach Inkrafttreten des revidierten Administrativmassnahmenrechts am 1. Januar 2005 ergangenen Rechtsprechung offengelassen, ob bei einer schweren Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist, der nicht in anderer Weise Rechnung getragen werden kann, ausnahmsweise gänzlich auf eine Massnahme verzichtet werden könnte (BGE 135 II 334 E. 2.3 mit Hinweisen). Von einer derartigen schweren Verletzung kann jedoch hier keine Rede sein.
Im Übrigen ist auch keine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist zu erkennen. Entgegen dem pauschalen Vorwurf des Beschwerdeführers ist insofern nicht einzig die Gesamtdauer des Verfahrens ausschlaggebend. Vielmehr ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass das Administrativverfahren auf sein Gesuch hin sistiert wurde, er gegen den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Einsprache erhob und nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens im wieder aufgenommenen Administrativverfahren sowohl beim Regierungsrat als auch beim Kantonsgericht Beschwerde erhob. Dass bei den einzelnen Verfahrensabschnitten unangemessene Verzögerungen entstanden wären, behauptet er nicht. Zudem durfte er ab der erwähnten Sistierung sein Fahrzeug bis zum Abschluss des Verfahrens weiterhin lenken, was ebenfalls zu berücksichtigen ist (vgl. zum Ganzen: Urteil 1C_190/2018 vom 21. August 2018 E. 5.1 mit Hinweis). Die Rüge ist somit unbegründet, soweit sie hinreichend substanziiert wurde (Art. 106 Abs. 2 BGG).
 
Erwägung 3
 
Der Führerausweisentzug für die Dauer von zwölf Monaten ist somit nicht bundesrechtswidrig. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 BGG). Da sich das Kantonsgericht in sämtlichen vom Beschwerdeführer vorgetragenen Kritikpunkten in zutreffender Weise auf die bestehende bundesgerichtliche Rechtsprechung stützte, ist die Beschwerde jedoch als aussichtslos anzusehen. Das Gesuch ist deshalb abzuweisen und die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 8. Juni 2022
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kneubühler
 
Der Gerichtsschreiber: Dold