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Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 6B_1434/2021 vom 08.06.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
6B_1434/2021, 6B_1436/2021
 
 
Urteil vom 8. Juni 2022
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, als präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichterin van de Graaf,
 
Bundesrichterin Koch,
 
Gerichtsschreiberin Rohrer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
1. A.A.________,
 
2. B.A.________,
 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christoph Good,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
6B_1434/2021
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern,
 
2. C.C.________,
 
Beschwerdegegner,
 
und
 
6B_1436/2021
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern,
 
2. D.C.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Ganden Tethong,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Einstellung (Verleumdung, falsche Anschuldigung etc.),
 
Beschwerden gegen die Beschlüsse des Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 26. Oktober 2021 (2N 21 54 und 2N 21 55).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
A.A.________ und B.A.________ reichten am 21. August 2020 Strafantrag bzw. Strafanzeige gegen C.C.________ und D.C.________ wegen falscher Anschuldigung, Irreführung der Rechtspflege sowie Verleumdung ein. Die Staatsanwaltschaft Abteilung 2 Emmen stellte die beiden daraufhin eröffneten Verfahren je mit Verfügung vom 18. Februar 2021 ein.
B.
Die gegen die Einstellungsverfügungen erhobenen Beschwerden vom 8. März 2021 wies das Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, je mit Beschluss vom 26. Oktober 2021 ab.
C.
A.A.________ und B.A.________ gelangen mit Beschwerden in Strafsachen andas Bundesgericht. Sie beantragen, die Beschlüsse des Kantonsgerichts vom 26. Oktober 2021 seien vollumfänglich aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Weiteren seien die beiden Verfahren zu vereinigen sowie den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern und D.C.________ verzichten auf eine Stellungnahme. C.C.________ lässt sich innert Frist nicht vernehmen. Die Vorinstanz reichte in beiden Verfahren am 20. Dezember 2021 eine Vernehmlassung ein und beantragt jeweils die kostenfällige Abweisung der Beschwerden. Die Beschwerdeführer halten in ihren Repliken vom 11. Januar 2022 und vom 13. Januar 2022 an ihren Anträgen fest.
 
1.
Das Bundesgericht vereinigt mehrere Verfahren, wenn sie in einem engen sachlichen Zusammenhang stehen, namentlich wenn sie sich gegen denselben Entscheid richten und die gleichen Parteien oder ähnliche Rechtsfragen betreffen (vgl. Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. b BZP; BGE 133 IV 215 E. 1; 126 V 283 E. 1 mit Hinweisen).
Im zu beurteilenden Fall richten sich die beiden nahezu identischen Beschwerden in der Sache gegen die inhaltlich überwiegend gleichlautenden Beschlüsse.Sie betreffen die gleiche Rechtsfrage und es liegt ihnen dieselbe Argumentation und Zielsetzung zugrunde. Die beiden Verfahren 6B_1434/2021 und 6B_1436/2021 sind daher zu vereinigen und die jeweiligen Anträge und Vorbringen in einem einzigen Urteil zu behandeln.
 
Erwägung 2
 
2.1. Die Beschwerdeführer rügen, die Vorinstanz habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Sie habe ihnen die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern vom 3. Mai 2021 weder im Verfahren 2N 21 54 noch im Verfahren 2N 21 55 zugestellt und ihnen auch nicht mitgeteilt, dass diese eingegangen sei. Die Stellungnahme sei ihnen erst übermittelt worden, nachdem die beiden Beschlüsse der Vorinstanz gefällt worden seien. Insofern hätten sie keine Möglichkeit gehabt, zu dieser Eingabe Stellung zu nehmen und von ihrem rechtlichen Gehör Gebrauch zu machen.
2.2. Die Vorinstanz führt in ihren Vernehmlassungen an, sie habe die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft den Beschwerdeführern am 7. Mai 2021 zur Orientierung zugestellt. Nach Erlass der beiden Beschlüsse vom 26. Oktober 2021 sei die Stellungnahme den Beschwerdeführern auf ihr telefonisches Ersuchen hin am 10. November 2021 sodann nochmals übermittelt worden.
2.3. Die Privatklägerschaft kann mit Beschwerde in Strafsachen ungeachtet der Legitimation in der Sache im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG eine Verletzung ihrer Parteirechte rügen, die ihr nach dem Verfahrensrecht, der Bundesverfassung oder der EMRK zustehen und deren Missachtung auf eine formelle Rechtsverweigerung hinausläuft. Zulässig sind Rügen, die formeller Natur sind und von der Prüfung der Sache getrennt werden können. Das nach Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich diesfalls aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen (sog. "Star-Praxis"; BGE 146 IV 76 E. 2; 141 IV 1 E. 1.1; 138 IV 78 E. 1.3; je mit Hinweisen). Die Rüge der Beschwerdeführer, die Vorinstanz habe ihr rechtliches Gehör verletzt, ist hier zulässig. Auf die Beschwerden ist insofern einzutreten.
 
Erwägung 2.4
 
2.4.1. Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien eines Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst insbesondere das Recht, von jeder dem Gericht eingereichten Stellungnahme Kenntnis zu nehmen und sich dazu äussern zu können (sog. Replikrecht). Die Wahrnehmung des Replikrechts setzt voraus, dass jede dem Gericht eingereichte Stellungnahme oder Vernehmlassung den Beteiligten zugestellt wird, sodass sie selbst entscheiden können, ob sie sich dazu äussern wollen oder nicht. Dies gilt unabhängig davon, ob in diesen Eingaben neue und erhebliche Gesichtspunkte enthalten sind oder nicht (zum Ganzen: BGE 144 III 117 E. 2.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 138 I 484 E. 2.1; 137 I 195 E. 2.3.1; je mit Hinweisen).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur (BGE 144 IV 302 E. 3.1 mit Hinweisen). Eine Verletzung des Replikrechts führt ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (Urteile 6B_959/2020 vom 22. Oktober 2020 E. 4; 1B_25/2020 vom 27. Mai 2020 E. 3.2 mit Hinweis).
2.4.2. Art. 85 StPO regelt die Form der Mitteilungen und der Zustellung. Demnach bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Abs. 1). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Abs. 2).
Der Beweis ordnungsgemässer Zustellung bzw. Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die daraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (BGE 145 IV 252 E. 1.3.1; 144 IV 57 E. 2.3; 142 IV 125 E. 4.3; Urteil 6B_271/2021 vom 12. Mai 2021 E. 4.1; je mit Hinweisen).
Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Zustellung ungeachtet der Verletzung von Art. 85 Abs. 2 StPO grundsätzlich auch dann gültig erfolgt, wenn die Kenntnisnahme des Empfängers auf andere Weise bewiesen werden kann und die zu schützenden Interessen des Empfängers (Informationsrecht) gewahrt werden (vgl. BGE 145 IV 252 E. 1.3.2; 144 IV 57 E. 2.3.2; 142 IV 125 E. 4.3; Urteil 6B_271/2021 vom 12. Mai 2021 E. 4.1; je mit Hinweisen). Den gesetzlich vorgeschriebenen Zustellformen kommt insofern ausschliesslich eine Beweisfunktion zu (Urteil 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2).
2.5. Die Beschwerdeführer bringen vor, dass ihnen die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft erst nach Erlass der vorinstanzlichen Beschlüsse zugestellt worden sei. Die Vorinstanz stellt dies in Abrede und verweist dabei auf ihr Schreiben vom 7. Mai 2021. Das besagte Schreiben, welches sich nur in den Verfahrensakten zum Strafverfahren gegen C.C.________ befindet (KG 2N 21 54 amtl.Bel. 8), führt als Adressaten einerseits die beiden Beschwerdeführer und andererseits C.C.________ auf. Das Schreiben hat die orientierungshalbe Zustellung der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft an die Adressaten zum Inhalt und weist die Zustellform A-Post auf, was sich aus der Adresszeile ergibt. Die zu den Akten gelegte Kopie des Schreibens beweist die effektive Zustellung der Stellungnahme allerdings noch nicht. Hält die Strafbehörde, wie vorliegend, die gesetzlichen Zustellformen nach Art. 85 StPO nicht ein und wird für die Zustellung eine Zustellform gewählt, bei welcher der Eingang beim Adressaten nicht genau nachweisbar ist, obliegt es der Behörde, den Beweis dafür zu erbringen, dass und an welchem Tag das Schreiben zugestellt worden ist (vgl. E. 2.4.2 hiervor). Auf einen effektiven Zustellnachweis wird indes weder von der Vorinstanz hingewiesen noch ergibt sich ein solcher aus den Akten.
Ebensowenig kann aus den weiteren Indizien oder aus der Gesamtheit der Umstände auf eine Zustellung der staatsanwaltschaftlichen Stellungnahmen vor Erlass der angefochtenen Beschlüsse geschlossen werden. Das bereits erwähnte Schreiben vom 7. Mai 2021 ist zwar an die Beschwerdeführer sowie C.C.________ adressiert. Die Zustellung dieses Schreibens inklusive Stellungnahme wurde jedoch durch die Vorinstanz auf den beiden Instruktionsformularen "Anweisungsformular StPO Beschwerde" nicht vermerkt bzw. die Zustellung zur Orientierung wurde zwar zunächst notiert, im Nachhinein aber mit Korrekturfolie wieder rückgängig gemacht. Gemäss den Ausführungen der Vorinstanz im bundesgerichtlichen Verfahren sei die Zustellung dieser Vernehmlassung ausserdem auch in der gerichtsinternen Geschäftsverwaltungssoftware nicht eingetragen worden. Darüber hinaus führte schliesslich auch die Vorinstanz in ihrem Schreiben vom 3. Dezember 2021 gegenüber den Beschwerdeführern an, dass die Anweisung zur Zustellung der Vernehmlassung versehentlich unterblieben sei (KG 2N 21 55 amtl.Bel. 21).
Damit verbleiben in Bezug auf die Zustellung insgesamt Zweifel und vermag die Vorinstanz den Nachweis, dass den Beschwerdeführern die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vor Erlass der beiden angefochtenen Beschlüsse übermittelt wurde, nicht zu erbringen. Folglich ist der Erklärung der Beschwerdeführer zu folgen und davon auszugehen, dass die zeitgerechte Zustellung der staatsanwaltschaftlichen Stellungnahme unterblieben ist. Die Beschwerdeführer hatten insofern keine Möglichkeit, sich zur Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft zu äussern und ihr Replikrecht wahrzunehmen. Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist damit begründet.
 
Erwägung 3
 
Die Beschwerden sind folglich gutzuheissen. Die angefochtenen Beschlüsse sind aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese hat den Beschwerdeführerneine angemessene Frist anzusetzen, damit sie zur Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern vom 3. Mai 2021 Stellung nehmen können.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Luzern hat die Beschwerdeführer für die bundesgerichtlichen Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss ihrem Rechtsvertreter auszurichten. Mit dem Entscheid in der Sache sind die Gesuche um aufschiebende Wirkung der Beschwerden gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verfahren 6B_1434/2021 und 6B_1436/2021 werden vereinigt.
 
2.
 
Die Beschwerden in den Verfahren 6B_1434/2021 und 6B_1436/2021 werden gutgeheissen. Die Beschlüsse des Kantonsgerichts Luzern vom 26. Oktober 2021 (2N 21 54 und 2N 21 55) werden aufgehobenund die Sache wird zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.
 
Der Kanton Luzern hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführer, Rechtsanwalt Dr. Christoph Good, für die bundesgerichtlichen Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 8. Juni 2022
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Rohrer