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BGer 9C_21/2022 vom 15.06.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
9C_21/2022
 
 
Urteil vom 15. Juni 2022
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Parrino, Präsident,
 
Bundesrichter Stadelmann,
 
Bundesrichterin Moser-Szeless,
 
Gerichtsschreiberin Nünlist.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Sabine Baumann Wey, Vetsch Rechtsanwälte AG,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. November 2021 (IV 2020/114).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Der 1972 geborene A.________, zuletzt Produktionsmitarbeiter, meldete sich nach früheren Verfahren im August 2018 unter Hinweis auf Gelenkprobleme erneut bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen tätigte daraufhin Abklärungen. Am 5. Dezember 2019 erstattete die MEDAS Bern ein polydiszplinäres (psychiatrisch, orthopädisch, internistisches) Gutachten. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle dem Versicherten mit Verfügungen vom 5. und 12. Mai 2020 rückwirkend ab dem 1. Juni 2019 eine Dreiviertelsrente zu (Invaliditätsgrad: 66 %).
B.
Die hiergegen vom Versicherten erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 8. November 2021 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, es sei ihm unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids ab dem 1. Juni 2019 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
Die Beschwerdegegnerin verzichtet auf eine Vernehmlassung, ebenso das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
 
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
Erwägung 2
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem das kantonale Gericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine höhere als eine Dreiviertelsrente verneint hat.
2.2. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sowie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in den bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassungen anwendbar.
 
Erwägung 2.3
 
2.3.1. Die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen rechtlichen Grundlagen wurden im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Es betrifft dies insbesondere die Erwägungen zum entscheidrelevanten Sachverhalt (BGE 143 V 409 E. 2.1; 121 V 362 E. 1b; Urteile 8C_505/2020 vom 6. Oktober 2020 E. 5.1, 9C_24/2008 vom 27. Mai 2008 E. 2.3.1), zur Invalidität (Art. 7 und 8 Abs. 1 ATSG) und zur Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt (BGE 110 V 273 E. 4b; Urteile 9C_898/2017 vom 25. Oktober 2018 E. 3.3.1, 8C_458/2018 vom 23. Oktober 2018 E. 4.2, 9C_910/2011 vom 30. März 2012 E. 3.1). Darauf wird verwiesen.
Hervorzuheben respektive zu ergänzen ist Folgendes: Die Möglichkeit einer versicherten Person, das verbliebene Leistungsvermögen auf dem allgemeinen ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu verwerten, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Massgebend sind rechtsprechungsgemäss die Art und Beschaffenheit des Gesundheitsschadens und seiner Folgen, der absehbare Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand und in diesem Zusammenhang auch die Persönlichkeitsstruktur, vorhandene Begabungen und Fertigkeiten, Ausbildung, beruflicher Werdegang oder die Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich. Beim ausgeglichenen Arbeitsmarkt handelt es sich um eine theoretische Grösse, so dass nicht leichthin angenommen werden kann, die verbliebene Leistungsfähigkeit sei unverwertbar. Er umfasst auch sogenannte Nischenarbeitsplätze, also Stellen- und Arbeitsangebote, bei denen Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen des Arbeitgebers rechnen können. Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die zumutbare Tätigkeit in nur so eingeschränkter Form möglich ist, dass sie der ausgeglichene Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder sie nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich wäre und das Finden einer entsprechenden Stelle daher zum Vornherein als ausgeschlossen erscheint (Urteil 8C_416/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4 mit Hinweisen).
2.3.2. Zu beachten gilt es zudem, dass die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes Rechtsfragen sind (Urteil 9C_899/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1 mit Hinweisen). Gleiches gilt für die Frage, ob dem Versicherten die Verwertung seiner Restarbeitsfähigkeit auf einem (hypothetischen) ausgeglichenen Arbeitsmarkt nach allgemeiner Lebenserfahrung noch zumutbar war (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 145 V 209, veröffentlicht in SVR 2019 IV Nr. 73 S. 233).
Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person sowie bei der konkreten Beweiswürdigung handelt es sich dagegen grundsätzlich um Entscheidungen über Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2), die das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat.
 
Erwägung 3
 
3.1. Das kantonale Gericht hat dem MEDAS-Gutachten vom 5. Dezember 2019 Beweiskraft zuerkannt und gestützt darauf bei der Diagnose einer Diffusen idiopathischen skelettalen Hyperostose (DISH) - die ganze Wirbelsäule betreffend, auf eine Arbeitsfähigkeit von 45 % in leidensangepasster Tätigkeit geschlossen (vollständige Arbeitsunfähigkeit in den bisherigen Tätigkeiten). Zwei vom Beschwerdeführer eingereichte Berichte vom 11. Februar und 5. März 2021 hat es für die Beurteilung des medizinischen Sachverhaltes bis zum Zeitpunkt der Verfügungen vom 5. und 12. Mai 2020 als nicht relevant qualifiziert. Es hat die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bejaht und ist der Beschwerdegegnerin hinsichtlich eines Tabellenabzugs von 25 % gefolgt. Auf dieser Grundlage hat es den von der Beschwerdegegnerin ermittelten Invaliditätsgrad von 66 % und damit den Anspruch auf eine Dreiviertelsrente ab 1. Juni 2019 bestätigt.
 
Erwägung 3.2
 
3.2.1. Aus den Berichten betreffend Orthoradiographie und Magnetresonanztomographie (MRI) der Wirbelsäule vom 11. Februar und 5. März 2021 kann der Beschwerdeführer, insbesondere unter Berücksichtigung der progressiven Natur seines Leidens, nichts zu seinen Gunsten ableiten: Die Unterlagen zeigen den Status der Wirbelsäule im Februar und März 2021 auf. Daraus lassen sich keine Rückschlüsse auf den Zustand im Zeitpunkt der Verfügungserlasse von Mai 2020 ziehen. Die Vorinstanz hat daher kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Eingaben im Rahmen des vorliegenden Verfahrens unberücksichtigt gelassen hat.
3.2.2. Es ist sodann darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer aus medizinischer Sicht in leidensangepasster Tätigkeit während vier Stunden und 15 Minuten präsent sein kann mit einer Leistungsminderung von "allenfalls" 10 %, was einer Leistungsfähigkeit von 45 % entspricht. Dabei bestehen mit Blick auf das MEDAS-Gutachten keine Zweifel daran, dass mit der Einschränkung von 10 % dem "verlängerten" Pausenbedarf Rechnung getragen wird. Dass abgesehen hiervon zusätzliche Pausen notwendig wären, ist dem Gutachten dagegen nicht zu entnehmen (Konsensbeurteilung MEDAS S. 5, Orthopädisches Teilgutachten MEDAS S. 14).
3.2.3. Hinsichtlich der Frage der Verwertbarkeit seiner Restarbeitsfähigkeit dringt der Beschwerdeführer jedoch durch: Gemäss dem im Vordergrund stehenden Zumutbarkeitsprofil von Dr. med. B.________, Fachärztin für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, welchem die Vorinstanz gefolgt ist, ist dem Beschwerdeführer das Heben und Tragen von schweren Lasten von mehr als 3 kg nicht mehr zumutbar, ebenso wenig Arbeiten verbunden mit Zwangshaltungen des Kopfes und Rumpfes und ständige Überkopfarbeiten, wie auch Arbeiten in gebückter, kniender und gehockter Stellung. Gleiches gilt für stehende und sitzende Tätigkeiten. Rein gehende Arbeiten waren im Zeitpunkt der Begutachtung mit verlängerten Pausen noch zumutbar. Die Leistungsfähigkeit betrug 45 % (MEDAS-Gutachten, Konsensbeurteilung S. 4 f., Orthopädisches Teilgutachten S. 14).
Das besagte Profil ist derart eingeschränkt, dass auch unter Berücksichtigung von Nischenarbeitsplätzen (E. 2.3.1 hiervor) keine verwertbare Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt mehr vorliegt: Der Beschwerdeführer ist nicht nur auf eine rein gehende Tätigkeit angewiesen, sondern auch dabei noch weiter eingeschränkt. Dies sowohl hinsichtlich praktisch sämtlicher Körperhaltungen (Zwangshaltung des Kopfes und Rumpfes, ständiges Überkopfarbeiten, gebückt, kniend, gehockt) als auch bezüglich des Hebens und Tragens von Gewichten (Limite: 3 kg). Wie er damit die von der Vorinstanz beispielhaft aufgezählten Tätigkeiten (Hundesitter, "leichtere Tätigkeit" in einem Tierheim, Zusteller etwa von Werbeprospekten, Aufsicht in Museen, Platzzuweisung in Theatern, vorinstanzliche Erwägung 4.3 S. 10) ohne ein unrealistisches Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers ausüben können soll, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen gelten insbesondere Aufsichtstätigkeiten in einem Museum rechtsprechungsgemäss als Tätigkeiten mit der Möglichkeit zu Positionswechseln (vgl. etwa Urteil 8C_926/2011 vom 7. Dezember 2012 E. 2.3).
Fehlt es an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt, liegt eine vollständige Erwerbsunfähigkeit vor (Urteil 9C_766/2019 vom 11. September 2020 E. 4.5 mit Hinweis). Folglich besteht der Anspruch auf eine ganze Invalidenrente ab 1. Juni 2019. Die Beschwerde ist begründet.
4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen (Art. 68 Abs. 5 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. November 2021 und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 5. und 12. Mai 2020 werden aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer ab 1. Juni 2019 eine ganze Invalidenrente auszurichten.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 15. Juni 2022
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist