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Bearbeitung, zuletzt am 05.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 1B_363/2022 vom 25.07.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
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1B_363/2022
 
 
Urteil vom 25. Juli 2022
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
 
Bundesrichter Haag, Merz,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel.
 
Gegenstand
 
Haftentlassung,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Appellationsgerichts Basel-Stadt, Präsidentin,
 
vom 9. Juni 2022 (SB.2021.73).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Das Strafgericht Basel-Stadt verurteilte A.________ am 6. November 2020 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren wegen mehrfachen gewerbsmässigen Betrugs sowie weiterer Delikte und sprach gegen ihn eine Landesverweisung von acht Jahren aus. A.________ erhob dagegen beim Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt Berufung. Er befindet sich seit dem 1. November 2018 in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft und war zudem schon in einer frühen Phase der Strafuntersuchung vom 6. März 2013 bis zum 7. April 2014 inhaftiert.
Mit Eingabe vom 23. Mai 2022 verlangte A.________ seine Haftentlassung. Mit Verfügung vom 9. Juni 2022 wies die Präsidentin des Appellationsgerichts das Haftentlassungsgesuch ab.
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 7. Juli 2022 beantragt A.________, die Verfügung des Appellationsgerichts vom 9. Juni 2022 sei aufzuheben und er selbst sofort aus der Haft zu entlassen, wenn nötig unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen.
Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
 
Erwägung 1
 
Die Sachurteilsvoraussetzungen sind grundsätzlich erfüllt (vgl. das ebenfalls den Beschwerdeführer betreffende Urteil 1B_177/2021 vom 22. April 2021 E. 1).
 
Erwägung 2
 
Nach Art. 42 Abs. 2 BGG ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt. Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten gilt gestützt auf Art. 106 Abs. 2 BGG eine qualifizierte Rügepflicht (BGE 136 I 65 E. 1.3.1 mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer listet am Anfang seiner Beschwerdeschrift verschiedenste Rechtsnormen auf, die seiner Ansicht nach durch den angefochtenen Entscheid verletzt werden. Allerdings unterlässt er es teilweise, seine Behauptungen zu begründen, weshalb insoweit auf seine Beschwerde nicht einzutreten ist. Dies betrifft etwa die geltend gemachte Verletzung der Unschuldsvermutung, des Grundsatzes der Gewaltenteilung oder der Garantie einer wirksamen Verteidigung.
 
Erwägung 3
 
Der Beschwerdeführer befindet sich in Sicherheitshaft (vgl. Art. 220 Abs. 2 StPO). Sicherheitshaft ist gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (lit. a: Fluchtgefahr) oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (lit. c: Wiederholungs- bzw. Fortsetzungsgefahr).
Die Präsidentin des Appellationsgerichts bejahte unter Verweis auf die Haftentscheide vom 15. Juli 2021 und vom 5. Oktober 2021 sowie das Urteil des Bundesgerichts 1B_177/2021 vom 22. April 2021 sowohl den dringenden Tatverdacht als auch die Flucht- und Wiederholungsgefahr. Zudem bejahte sie die Verhältnismässigkeit der Haft.
 
Erwägung 4
 
Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt der dringende Tatverdacht bei einer erstinstanzlichen Verurteilung grundsätzlich ohne Weiteres als erstellt und kann nicht mit einer pauschalen Kritik in Zweifel gezogen werden (Urteil 1B_98/2022 vom 16. März 2022 E. 4.4 mit Hinweis). Wer den dringenden Tatverdacht im Widerspruch zur erstinstanzlichen Verurteilung bestreitet, hat darzulegen, weshalb das betreffende Urteil klarerweise fehlerhaft erscheint und eine entsprechende Korrektur im Berufungsverfahren mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Urteil 1B_106/2021 vom 19. März 2021 E. 3.2 mit Hinweis). Der Beschwerdeführer bezeichnet das erstinstanzliche Urteil als willkürlich, behauptet aber nicht, dass deswegen der dringende Tatverdacht entfallen würde. Er kritisiert vielmehr das Strafmass und führt zum Vergleich eine Reihe von in der Presse rapportierten Strafurteilen an, die andere Personen betreffen. Eine konkrete Auseinandersetzung mit der Begründung der Strafzumessung im Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt vom 6. November 2020 lässt sich seiner Beschwerde jedoch nicht entnehmen. Auf dieses Urteil ist somit für die Zwecke des Haftverfahrens sowohl hinsichtlich des dringenden Tatverdachts als auch der zu erwartenden Dauer der Freiheitsstrafe abzustellen. Die Kritik des Beschwerdeführers am angefochtenen Entscheid ist in diesem Punkt unbegründet, soweit darauf einzutreten ist.
 
Erwägung 5
 
Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, es bestehe keine Wiederholungsgefahr. Er behauptet, dies ergebe sich aus vier von ihm zitierten Urteilen des Bundesgerichts, legt jedoch nicht dar, weshalb. Auf die Beschwerde ist in diesem Punkt deshalb ebenfalls nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 2 BGG). Dies hat zur Folge, dass im bundesgerichtlichen Verfahren mangels rechtsgenüglicher Bestreitung vom Vorliegen von Wiederholungsgefahr auszugehen ist.
Da ein besonderer Haftgrund ausreicht, erübrigt sich damit eine Prüfung der von der Vorinstanz ebenfalls bejahten, vom Beschwerdeführer aber bestrittenen Fluchtgefahr. Lediglich der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesgericht diese Gefahr in seinem bereits erwähnten Urteil vom 22. April 2021 als ausgeprägt bezeichnet hat (a.a.O., E. 5.2). Dabei trug es auch den vom Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren erneut vorgebrachten familiären Bindungen in der Schweiz Rechnung (a.a.O., E. 4.2). Aus welchen in den Akten befindlichen Dokumenten folgen soll, dass er sich - entgegen der damaligen Annahme des Bundesgerichts - in den Jahren 2011 bis 2013 nicht dem Vollzug einer Reststrafe entzogen hatte, ist unklar. Schliesslich vermögen auch seine Hinweise auf zuverlässiges Verhalten (Wahrnehmen von Terminen für Bewährungshilfe und strafprozessuale Einvernahmen) die Beurteilung der Fluchtgefahr durch das Bundesgericht im Urteil vom 22. April 2021 nicht in Frage zu stellen. Eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse, welche damals zur Bejahung der Fluchtgefahr führten und heute eine andere Beurteilung erfordern könnten, ist nicht erkennbar.
 
Erwägung 6
 
Der Beschwerdeführer rügte im vorinstanzlichen Verfahren seine Haftbedingungen. Die Präsidentin des Appellationsgerichts hielt dazu fest, sie sei für diese Fragen nicht zuständig. Inhaltlich liegt in diesem Punkt ein Nichteintretensentscheid vor, obgleich die Vorinstanz es versäumte, dies im Dispositiv ihres Entscheids korrekt festzuhalten.
In seiner Beschwerde ans Bundesgericht kritisiert der Beschwerdeführer, die Präsidentin des Appellationsgerichts sei zu Unrecht nicht auf seine Vorbringen eingegangen. Er trägt zudem konkret vor, weshalb die Haftbedingungen seines Erachtens gegen Art. 3 EMRK verstossen. Nach dieser Bestimmung darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Insbesondere weist der Beschwerdeführer auf die Hitze in seiner Zelle, unzureichende Frischluft und verschmutztes Wasser hin und unterlegt seine Behauptungen mit Berichten der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) und Zeitungsartikeln.
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist das die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft beurteilende Gericht über die Haftvoraussetzungen hinaus auch zuständig zu prüfen, ob eine glaubhaft gemachte Behauptung, wonach die Haftbedingungen Art. 3 EMRK verletzen, zutrifft (BGE 139 IV 41 E. 3.1; Urteil 1B_607/2021 vom 25. November 2021 E. 2.2; je mit Hinweisen). Dies gilt unbesehen des Umstands, dass unzulässige Haftbedingungen keine Haftentlassung rechtfertigen (BGE 139 IV 41 E. 2.2; vgl. auch Urteil 1B_146/2022 vom 6. April 2022 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Indem die Vorinstanz von dieser Rechtsprechung abwich, verletzte sie das Gebot der formellen Rechtsverweigerung (Art. 29 Abs. 1 BV). Die Rüge des Beschwerdeführers erweist sich somit als begründet, weshalb der angefochtene Entscheid insoweit aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen ist.
 
Erwägung 7
 
Die Präsidentin des Appellationsgerichts erachtete sich weiter für unzuständig, auf die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung des Beschleunigungsgebots einzugehen. Dies sei Gegenstand des ordentlichen Berufungsprozesses. Auch in dieser Hinsicht wich sie von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ab. Danach ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebots sehr wohl im Haftverfahren zu prüfen (statt vieler: BGE 137 IV 92; Urteile 1B_443/2016 vom 12. Dezember 2016 E. 3.3; 1B_138/2021 vom 9. April 2021 E. 2.3; je mit Hinweisen). Die Weigerung, die betreffende Rüge des Beschwerdeführers zu behandeln, bedeutet eine zusätzliche Rechtsverweigerung.
 
Erwägung 8
 
Die Beschwerde ist aus den genannten Gründen gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Da die Voraussetzungen der Haft nicht offensichtlich fehlen, ist jedoch keine Haftentlassung anzuordnen. Vielmehr ist die Sache zur beförderlichen Neubeurteilung unter Beachtung der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV) an die Vorinstanz zurückzuweisen. Damit erübrigt es sich, auf die Rüge des Beschwerdeführers betreffend die Berücksichtigung der Voraussetzungen der bedingten Entlassung einzugehen.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der obsiegende Beschwerdeführer ist im bundesgerichtlichen Verfahren nicht anwaltlich vertreten, weshalb keine Parteientschädigung zuzusprechen ist (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der angefochtene Entscheid wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen ans Appellationsgericht Basel-Stadt, Präsidentin, zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht Basel-Stadt, Präsidentin, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 25. Juli 2022
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Kneubühler
 
Der Gerichtsschreiber: Dold