des Zweiten Senats vom 24. März 1981
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-- 2 BvR 215/81 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Dr. C... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Helmut Meyer, Seehoferstraße 9, München 21 - unmittelbar gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 23. Januar 1981 - 3 StR 467/80 (L) -, b) das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 16. Mai 1980 - 3 St 11/79 -, mittelbar gegen § 99 Abs.1 StGB, hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
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Entscheidungsformel:
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Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
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Gründe: | |
A. -- I. | |
1. Der Beschwerdeführer, der seit dem Jahr 1960 Abgeordneter des Bayerischen Landtags ist, das Amt des ehrenamtlichen ersten Bürgermeisters in seiner Heimatgemeinde bekleidete und sich daneben in vielfältiger Weise parteipolitisch betätigte, wurde durch Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 16. Mai 1980 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit (§ 99 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zugleich erkannte ihm das Gericht auf die Dauer von drei Jahren die Fähigkeit ab, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen.
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Dem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts liegen folgende Feststellungen zugrunde: In der Zeit von 1974 bis zu seiner Festnahme im Januar 1979 traf der Beschwerdeführer regelmäßig -- insgesamt mindestens elfmal -- mit einem Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) zusammen und teilte ihm Wissen aus dem Bereich der Politik der Bundesrepublik Deutschland mit. Obwohl der Beschwerdeführer spätestens bei der vierten Begegnung Anfang 1976 erkannt hatte, daß er es mit einem Agenten des MfS zu tun hatte, ließ er es zu mindestens sieben weiteren Zusammenkünften kommen, zu denen er Außenstehende nicht hinzuzog und über die er, so gut es ging, Stillschweigen bewahrte. Mitte 1978 reiste der Beschwerdeführer nach Stockholm, wo er mit dem Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS und stellvertretenden Minister für Staatssicherheit sowie einem anderen hohen Geheimdienstoffizier der DDR Gespräche führte. Auch hiervon unterrichtete er niemanden. Er hielt vielmehr trotz der Erkenntnis, mit einer maßgeblichen Persönlichkeit aus dem nachrichtendienstlichen Bereich der DDR zusammengeführt worden zu sein, den Kontakt zu dem auf ihn angesetzten Agenten des MfS unverändert aufrecht. Das Gericht gewann nach alledem die Überzeugung, daß sich der Beschwerdeführer in den Dienst einer gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Ausforschungstätigkeit eines fremden Geheimdienstes gestellt hat.
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Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Beschwerdeführers hat der Bundesgerichtshof durch Beschluß vom 23. Januar 1981 als unbegründet verworfen.
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2. a) Durch den Verlust der Wahlfähigkeit hat der Beschwerdeführer die Mitgliedschaft beim Bayerischen Landtag verloren (§ 45 Abs. 4 StGB, Art. 19 der Verfassung des Freistaates Bayern [BV]). Die im bayerischen Landeswahlgesetz hierzu vorgesehene Beschlußfassung des Landtags steht bevor (Art. 65 Abs. 3 des Gesetzes über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid [Landeswahlgesetz] in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. März 1974 [GVBl. S. 133] -- LWG -).
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b) Mit der Rechtskraft des Strafurteils ist der Beschwerdeführer aus dem Amt des ehrenamtlichen ersten Bürgermeisters ausgeschieden. Sein Nachfolger ist binnen drei Monaten zu wählen (Art. 32 Abs. 1 des bayerischen Gesetzes über die Wahl der Gemeinderäte und der Bürgermeister [Gemeindewahlgesetz] in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. September 1977 [GVBl. S. 601] -- GWG -). Die Neuwahl ist auf den 5. April 1981 festgesetzt.
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II.
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1. Der Beschwerdeführer hat Verfassungsbeschwerde erhoben und zur Begründung im wesentlichen vorgetragen: Der Straftatbestand des § 99 Abs. 1 StGB habe vor der Verfassung keinen Bestand. Er sei nicht hinreichend bestimmt, mit dem Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit unvereinbar und verletze den allgemeinen Gleichheitssatz sowie das Übermaßverbot. Die angegriffenen Entscheidungen seien nicht mehr verständlich und verstießen deshalb gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Das Strafverfahren sei zudem rechtsstaatswidrig gewesen. Die Gesamtheit der verfahrensrechtlichen Einschränkungen widerspreche der Bedeutung der Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). In der Hauptverhandlung habe es an der Kontrolle durch die Öffentlichkeit gemangelt, die weitgehend ausgeschlossen gewesen sei. Seine Verteidigung sei behindert worden, weil ihm aufgegeben worden sei, die Anklageschrift vertraulich zu behandeln. Das Urteil stütze sich ferner auf die Bekundung eines Zeugen, der von staatlichen Stellen verborgen gehalten worden sei und nur schriftlich habe befragt werden können. Wegen der mit der Verurteilung verbundenen schwerwiegenden Folgen müsse es dem Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise gestattet sein, die Tatsachenfeststellungen des Strafgerichts in seine Überprüfung einzubeziehen. Deren Ergebnis nötige zu einer Aufhebung des Urteils.
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2. Der Beschwerdeführer beantragt den Erlaß einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, die Vollziehung des Urteils des Bayerischen Obersten Landesgerichts bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen, hilfsweise mit der Maßgabe, daß er das Abgeordnetenmandat im Bayerischen Landtag und das Amt des ersten Bürgermeisters nicht ausüben dürfe. Zur Begründung trägt er vor, die Vollziehung einer Freiheitsstrafe aufgrund eines Urteils, das mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei, stelle für ihn einen nicht mehr zu behebenden Schaden dar, dessen Abwendung zum gemeinen Wohl dringend geboten sei. Er würde darüber hinaus aufs schwerste in seinen Rechten als Volksvertreter beeinträchtigt, wenn ein solches Strafurteil zum Verlust des Abgeordnetenmandats führe. Die Entfernung eines gewählten Volksvertreters aus der gesetzgebenden Körperschaft durch ein verfassungswidriges Urteil würde ferner dem Demokratieprinzip schweren Abbruch tun, da sie die Willensentscheidung des Volkes mißachte. Diese Erwägung lasse es auch dringend geboten erscheinen, die Auswirkungen des Urteils auf die Besetzung des Bürgermeisteramts zu suspendieren. Eine Aufhebung der angegriffenen Verurteilung würde der Neuwahl des ehrenamtlichen ersten Bürgermeisters die Grundlage entziehen. In diesem Fall verdanke der neugewählte Bürgermeister seine Wahl einem verfassungswidrigen Strafurteil und der von diesem ausgehenden Beeinflussung der Meinungsbildung der Aktivbürger, womit seine demokratische Legitimation erheblichen Zweifeln ausgesetzt sei. Dies sei für eine Demokratie unerträglich.
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Demgegenüber sei die vorübergehende Ungewißheit über den Verlust des Abgeordnetenmandats und des Bürgermeisteramts mit dem allgemeinen Wohl weitaus besser zu vereinbaren als eine verfassungswidrige Entfernung des Beschwerdeführers aus seinen Ämtern. Der Vorrang der verfassungsrechtlichen Klärung vor einer schleunigen Ersetzung des Abgeordneten, dem die Wählbarkeit aberkannt worden sei, werde auch durch § 16 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes anerkannt. Die Berührung öffentlicher Interessen könne noch weitgehender dadurch gemildert werden, daß der Beschwerdeführer die Ausübung seiner Ämter weiterhin unterlasse, wie er es auch bislang während des Strafverfahrens gehalten habe.
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III.
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Das Bundesverfassungsgericht hat den im Verfassungsbeschwerde-Verfahren gemäß §§ 94 Abs. 4, 77 BVerfGG Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
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2. Der Bayerische Ministerpräsident ist dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung namens der Bayerischen Staatsregierung entgegengetreten.
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Hinsichtlich des Verlustes der Mitgliedschaft im Bayerischen Landtag entstehe dem Beschwerdeführer zumindest gegenwärtig kein schwerer Nachteil, weil ihm noch andere Mittel zur Verfügung stünden, das Ausscheiden aus dem Landtag hinauszuschieben. Er habe es in der Hand, den Verlust der Mitgliedschaft durch Anrufung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs überprüfen zu lassen (Art. 33 Satz 3 BV, Art. 41 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof [VfGHG] in der Fassung vom 26. Oktober 1962 [GVBl. S. 337], Art. 65 Abs. 3 LWG). Diesem Rechtsbehelf komme aufschiebende Wirkung für den Mandatsverlust zu. Der Verfassungsgerichtshof habe zudem die Möglichkeit, sein Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen (Art. 23 VfGHG, § 26 der Geschäftsordnung des Verfassungsgerichts für den Freistaat Bayern vom 15. Juli 1963 [GVBl. S. 151] in der Fassung der Änderung vom 18. Februar 1966 [GVBl. S. 159] in Verbindung mit § 94 VwGO). Selbst wenn diese Behelfe versagten, sei der Erlaß der einstweiligen Anordnung nicht gerechtfertigt. Der Mandatsverlust sei nicht als endgültig anzusehen, wenn die Verurteilung des Beschwerdeführers aufgehoben würde. Einem inzwischen nachgerückten Ersatzmann müsse in diesem Falle das Mandat zugunsten des Beschwerdeführers wieder entzogen werden (Art. 65 Abs. 1 Nr. 5 LWG). Die bei Wiederzuerkennung seines Mandats verbleibenden Auswirkungen seien nicht so gewichtig, daß sie es rechtfertigen könnten, den gesetzlich vorgeschriebenen Mandatsverlust durch eine einstweilige Anordnung aufzuschieben, zumal der Beschwerdeführer sein Mandat seit Anfang 1979 nicht mehr wahrnehme.
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Was die Auswirkungen des Urteils auf die Besetzung des Bürgermeisteramts angehe, sei zu bezweifeln, ob es zulässig sei, dem Beschwerdeführer die bereits erloschene Rechtsposition im Wege der einstweiligen Anordnung wieder zu verschaffen. Jedenfalls sei er in der Lage, sich durch die Einlegung von Rechtsbehelfen die Möglichkeit offenzuhalten, das Bürgermeisteramt wieder auszuüben, falls die Verfassungsbeschwerde Erfolg habe. Wenn er die Wahl seines Nachfolgers anfechte, werde das Innenministerium das Landratsamt anweisen, die Entscheidung über die Wahlanfechtung bis zur Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurückzustellen. Die mit einem nur vorübergehenden Verlust seiner Amtsstellung verbundenen Nachteile seien jedenfalls nicht so gravierend, daß sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung als unabweisbar erscheinen ließen. Auch insoweit sei zu berücksichtigen, daß der Beschwerdeführer sein Bürgermeisteramt seit Anfang 1979 nicht ausgeübt habe.
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3. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat auf Anfrage mitgeteilt, er werde die Strafvollstreckung aus dem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts auf Antrag des Beschwerdeführers nicht vor dem 16. Mai 1981 beginnen lassen. Wenn auch nach diesem Zeitpunkt triftige Gründe einem Strafantritt entgegenstünden, so sei auf Antrag des Beschwerdeführers die Möglichkeit eines weiteren Strafaufschubes zu prüfen.
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Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
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I.
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Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (BVerfGE 3, 41 [44]; 43, 198 [200]). Dabei haben die Gesichtspunkte, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, da im Verfahren über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen nicht Gegenstand der Prüfung ist (BVerfGE 34, 341 [342]; ständige Rechtsprechung). Eine Ausnahme gilt nur, wenn sich anders als im vorliegenden Falle die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Lediglich die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, sind danach abzuwägen gegen die Nachteile, die entstünden, wenn die angegriffenen Entscheidungen vorläufig außer Anwendung gesetzt würden.
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II.
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Bei Anlegung dieses Maßstabs ist der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
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1. a) Soweit der Beschwerdeführer die Auswirkungen des Urteils auf seine Stellung als Abgeordneter des Bayerischen Landtags hinausgeschoben sehen will, ist schon zweifelhaft, ob ihm gegenwärtig ein schwerer Nachteil droht, weil er durch Anrufung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs möglicherweise Abhilfe schaffen und den Mandatsverlust bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde abwenden kann.
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Mit der Rechtskraft des Urteils des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat der Beschwerdeführer die Wählbarkeit zum Bayerischen Landtag verloren (§§ 45 Abs. 4, 45a Abs. 1 StGB; Art. 39 Abs. 2 Nr. 2 LWG). Durch den nachträglichen Verlust der Wählbarkeit büßt er seinen Sitz im Landtag ein (Art. 19 BV; Art. 65 Abs. 1 Nr. 3 LWG). Über den Verlust der Mitgliedschaft hat der Landtag Beschluß zu fassen (Art. 65 Abs. 3 LWG). Ob diesem Beschluß im Interesse eines möglichst umfassenden Schutzes des Abgeordneten rechtsgestaltende Wirkung beizumessen ist, wie der Bayerische Ministerpräsident im Hinblick auf vergleichbare Regelungen des Bundeswahlgesetzes meint (vgl. Feneberg/Simader, Landeswahlgesetz, Bezirkswahlgesetz, Landeswahlordnung, 10. Aufl. 1978, Art. 65 LWG, Rdnr. 2; Seifert, Bundeswahlrecht, 3. Aufl., 1976, § 47 BWG, Rdnr. 7), oder ob ihm nur feststellende Bedeutung zukommt (so unter Berufung auf den Wortlaut des Art. 33 Satz 3 BV Schweiger in: Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl., 1976, Art. 19 BV, Rdnr 3; ebenso Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl., 1978, Art. 33 Rdnr. 2), kann hier auf sich beruhen. Das Vorliegen eines Grundes für den Mandatsverlust wirkt sich vor der Beschlußfassung des Landtags jedenfalls noch nicht in einer dem Beschwerdeführer nachteiligen Weise aus.
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Gegen den Landtagsbeschluß kann der Beschwerdeführer binnen einem Monat seit der Beschlußfassung die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs begehren (Art. 33 Satz 3 BV, Art. 41 Abs. 1 und 2 VfGHG, Art. 65 Abs. 3 LWG), der alsdann über die Frage zu entscheiden hat, ob der Beschwerdeführer die Mitgliedschaft beim Landtag verloren hat. Träfe die vom Bayerischen Ministerpräsidenten geäußerte Rechtsauffassung zu, daß diesem Verfahren aufschiebende Wirkung zukommt, so fehlte es schon an einem dem Beschwerdeführer gegenwärtig drohenden schweren Nachteil, der durch den Erlaß einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht dringend verhindert werden müßte.
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Das Verfahren über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung kann jedoch nicht dazu dienen, die nach bayerischem Landesverfassungsrecht zu beurteilende Rechtsfrage zu entscheiden, ob die Nachprüfungsmöglichkeit durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof aufschiebende Wirkung für den Verlust der Mitgliedschaft beim Landtag entfaltet. Dies kann zweifelhaft sein. Das bayerische Recht enthält im Gegensatz zum Bundesrecht keine ausdrückliche Regelung dieser Frage (vgl. § 16 Abs. 1 Wahlprüfungsgesetz in Verbindung mit § 47 Abs. 1 Nr. 3 Bundeswahlgesetz). Sie bedarf im vorliegenden Falle auch keiner abschließenden Klärung. Dem Beschwerdeführer entstünden selbst dann keine den Erlaß der einstweiligen Anordnung rechtfertigende Nachteile, wenn er durch den Beschluß des Landtags nach Art. 65 Abs. 3 LWG sein Mandat verlöre oder der Bayerische Verfassungsgerichtshof das Verfahren nicht aussetzte und den Mandatsverlust gestaltend feststellte, bevor das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden hat.
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b) Die im einstweiligen Anordnungsverfahren vorzunehmende Abwägung ergibt, daß die mit dem Erlaß der einstweiligen Anordnung verbundenen Nachteile überwiegen.
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Wie das Landtagsamt der Bayerischen Staatsregierung mitgeteilt hat, nimmt der Beschwerdeführer sein Mandat bereits seit Ende Januar 1979 nicht mehr wahr. Im Hinblick auf den gegen ihn im Strafverfahren erhobenen Vorwurf geheimdienstlicher Agententätigkeit nimmt er aus eigenem Entschluß und in Einschätzung seiner Situation an den Sitzungen des Plenums, der Ausschüsse und seiner Fraktion seitdem nicht teil. Vor einer abschließenden Klärung der mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen ist eine Änderung dieser Haltung nicht zu erwarten. Aber auch dann, wenn die Grundrechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen festgestellt würde, sprechen mehr Gründe gegen als für die Wahrnehmung des Mandats durch den Beschwerdeführer. Denn der Erfolg der Verfassungsbeschwerde ist nicht mit einer Erledigung der strafrechtlichen Vorwürfe gleichzusetzen. Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, so wäre die Sache an ein zuständiges Strafgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Es ist nicht auszuschließen, daß das nunmehr mit der Sache befaßte Strafgericht wiederum zu einer Verurteilung des Beschwerdeführers gelangt. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, daß der Beschwerdeführer bei solcher Sachlage seine Arbeit als Abgeordneter wiederaufnehmen würde, ohne zuvor im Strafprozeß endgültig rehabilitiert worden zu sein, bestehen nicht. Es ist angesichts der strafverfahrensrechtlichen Lage durchaus möglich, daß sich die vom Beschwerdeführer erwartete Klärung der Schuldfrage über seine im Jahr 1982 endende Amtszeit als Abgeordneter hinaus verzögert.
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Im demokratisch-parlamentarischen System des Grundgesetzes vollzieht sich die Repräsentation des Volkes im Parlament durch die Abgeordneten. Bei der Bildung des staatlichen Willens im parlamentarischen Bereich ist das Volk nur dann angemessen repräsentiert, wenn das Parlament als Ganzes an dieser Willensbildung beteiligt ist. Auch wenn die Verfassung des Freistaates Bayern (Art. 13 Abs. 2) den einzelnen Abgeordneten als "Vertreter des Volkes, nicht einer Partei" bezeichnet, so kann er dieses doch nur gemeinsam mit den anderen Parlamentsmitgliedern repräsentieren. Denn nicht der einzelne Abgeordnete, sondern das Parlament als Ganzes im Sinne der Gesamtheit seiner Mitglieder übt die vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus (vgl. BVerfGE 44, 308 [315 f.]).
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Wird das Volk bei parlamentarischen Entscheidungen nur durch das Parlament als Ganzes, d. h. durch die Gesamtheit seiner Mitglieder, angemessen repräsentiert, so muß die Mitwirkung aller Abgeordneten bei derartigen Entscheidungen nach Möglichkeit und im Rahmen des im demokratisch-parlamentarischen System des Grundgesetzes Vertretbaren sichergestellt sein (BVerfG, a.a.O. [316]). Dem läuft es zuwider, wenn ein Abgeordneter aus eigenem Entschluß auf nicht absehbare Zeit sein Amt nicht ausübt und weder in Ausschüssen noch in der Fraktion noch im Plenum mitarbeitet.
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Es entspricht dem Prinzip der repräsentativen Demokratie und liegt im konkreten Interesse des einzelnen Wählers und der Bevölkerung insgesamt, daß der Abgeordnete sein ihm anvertrautes Amt tatsächlich ausübt. Nur so kann das Parlament möglichst vollständig, d. h. unter aktiver Teilnahme aller Abgeordneter seine Aufgaben wahrnehmen. Dem derzeitigen, dem Prinzip der repräsentativen Demokratie und dem öffentlichen Interesse widersprechenden Zustand wäre abgeholfen, wenn ein Ersatzabgeordneter einberufen würde, nicht jedoch, wenn der in der Person des Beschwerdeführers begründete Schwebezustand eines in Anspruch genommenen, aber nicht ausgeübten Mandates fortbestünde.
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c) Demgegenüber wiegen die Folgen, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, deutlich weniger schwer. Das Bestreben des Beschwerdeführers richtet sich derzeit darauf, Status und Rechte eines Abgeordneten zu bewahren, ohne den damit verbundenen Pflichten nachzukommen. An der Aufrechterhaltung dieses Zustandes, der dem vom Wähler erteilten Auftrag zuwiderläuft, bestehen keine öffentlichen Interessen von Belang. Daran ändert es nichts, daß der Beschwerdeführer nach seinem Vorbringen in seinem Wahlkreis ein "Bürgerbüro" beibehalten hat und dort Anliegen interessierter Bürger entgegennimmt.
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Das Interesse des Beschwerdeführers, seine auf den Status reduzierte Position als Abgeordneter nicht preiszugeben, ist gering zu veranschlagen. Denn für den Fall, daß sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erweisen sollte, erlitte er nur eine vorübergehende, jedenfalls aber zeitlich nicht ins Gewicht fallende Einbuße.
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Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, so entfielen rückwirkend die Gründe für den Verlust der Wählbarkeit und damit des Ausscheidens aus dem Landtag. Die Voraussetzungen der Einberufung eines inzwischen nachgerückten Ersatzmannes (Art. 64 Nr. 1 LWG) hätten niemals vorgelegen. In diesem Falle sprechen gute Gründe für die Annahme, daß der Ersatzmann weichen muß und der Beschwerdeführer in den Landtag wieder einrückt. Das bayerische Landeswahlgesetz bestimmt ausdrücklich, daß ein Abgeordneter durch Wegfall der Gründe für die Berufung als Ersatzmann seinen Sitz verliert (Art. 65 Abs. 1 Nr. 5 LWG), und erkennt damit die stärkere Stellung des zu Unrecht Ausgeschiedenen an. Ob im Hinblick auf diese gesetzliche Regelung den in der Strafrechtsliteratur geäußerten Bedenken gegen die Möglichkeit einer Restituierung der Abgeordnetenstellung eine Bedeutung zukommt, ist mit erheblichen Zweifeln behaftet (vgl. Tröndle in: LeipzKomm., 10. Aufl., 1978, § 45 Rdnr. 43; Stree in: Schönke/Schröder, StGB, 20. Aufl., 1980, § 45 Rdnr. 14). Gründe, die es hindern könnten, einen nachgerückten Ersatzmann seiner Abgeordnetenstellung im Landtag wieder zu entkleiden, wenn sich nachträglich herausstellt, daß der Vorgänger sein Mandat niemals verloren hat, sind nicht ohne weiteres einsichtig (vgl. Werner Schmitt, Der Verlust des Abgeordnetenmandates in den politischen Volksvertretungen der Bundesrepublik Deutschland, Dissertation, Göttingen, 1955, S. 119 ff., 110 ff.).
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Auch diese Frage braucht im einstweiligen Anordnungsverfahren einer endgültigen Klärung nicht zugeführt zu werden. Denn ein Aufschub des Mandatsverlusts wäre im vorliegenden Falle selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn der Beschwerdeführer seinen Sitz im Landtag für den Rest der Wahlperiode an einen Ersatzmann verlöre; die ihn treffenden nachteiligen Folgen wären nicht gravierend. Er würde sein Amt -- wenn überhaupt -- nur kurzfristig ausüben können. Die Wahlperiode des Landtags endet bereits im Jahr 1982. In Anbetracht dessen, daß mit einer Mandatswahrnehmung durch den Beschwerdeführer zunächst nicht zu rechnen ist, ist dem dargelegten öffentlichen Interesse der Vorrang einzuräumen. Daran ändert es nichts, wenn dem Beschwerdeführer in diesem Falle Entschädigungsansprüche gemäß Art. 5 und 6 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Bayerischen Landtags (Bayerisches Abgeordnetengesetz) vom 25. Juli 1977 (GVBl. S. 369) entgehen. Solche finanziellen Einbußen sind hier nicht so gewichtig, daß ein Aufschub des im öffentlichen Interesse liegenden Gesetzesvollzugs zu rechtfertigen wäre (vgl. BVerfGE 6, 1 [4, 6]).
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2. Ob die einstweilige Anordnung eine Handhabe bietet, den mit der Rechtskraft des Strafurteils verbundenen Verlust des Bürgermeisteramts zu "suspendieren" und den Beschwerdeführer in sein Amt vorläufig wiedereinzusetzen, kann dahingestellt bleiben, da die Voraussetzungen ihres Erlasses schon aus anderen Gründen nicht erfüllt sind.
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Die mit dem Erlaß der einstweiligen Anordnung verbundenen Nachteile überwiegen. Die Belange der Gemeinde würden erheblichen Schaden nehmen, wenn die einstweilige Anordnung erginge. Der Beschwerdeführer hat seit Anfang 1979 keine Amtsgeschäfte als erster Bürgermeister mehr getätigt. Im Interesse der Funktionsfähigkeit der Gemeindeverwaltung benötigt aber die Gemeinde einen ersten Bürgermeister, der nicht nur das durch die Wahl bekundete Vertrauen der Bevölkerung genießt, sondern sein Amt auch wahrnimmt. Der erste Bürgermeister hat u.a. die vielfältigen laufenden Angelegenheiten der Gemeinde zu erledigen (Art. 37 der Bayerischen Gemeindeordnung). Die Fortsetzung eines nunmehr schon geraume Zeit andauernden Zustandes, in dem die Geschäfte des ersten Bürgermeisters vertretungsweise erledigt werden müssen, ist über den gesetzlich festgelegten Zeitpunkt hinaus nicht weiter hinnehmbar. Die Amtsausübung durch einen Vertreter ist nur auf die Bewältigung einer vorübergehenden Situation angelegt und wird den Erfordernissen der Gemeindeverwaltung auf Dauer nicht gerecht. Diese Schlußfolgerung ergibt sich bereits aus dem bayerischen Gemeindewahlgesetz, demzufolge die Neuwahl eines ehrenamtlichen ersten Bürgermeisters für den Rest der Wahlzeit des Gemeinderats nur dann unterbleibt, wenn die Tätigkeit des ersten Bürgermeisters sechs Monate vor Ablauf seiner Wahlzeit oder später endet (Art. 32 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 2 Satz 2 GWG). Wenn bereits für eine derartig kurzfristige Vakanz eine aufwendige Neuwahl als unvermeidlich angesehen wird, so läge ein Aufschub des Wahlaktes im vorliegenden Falle gänzlich im Gegensatz zu den gesetzgeberischen Vorstellungen. Dies gilt um so mehr, als im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar ist, für welchen Zeitraum der Beschwerdeführer für die Erledigung der Amtsgeschäfte nicht zur Verfügung steht. Die Gemeinde müßte daher möglicherweise noch auf längere Sicht ohne einen in das Amt berufenen und dieses auch ausfüllenden ersten Bürgermeister auskommen.
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Demgegenüber sind die für den Fall entstehenden Nachteile, daß die einstweilige Anordnung nicht ergeht, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hat, nicht so groß, daß ihr Erlaß gerechtfertigt wäre. Der Beschwerdeführer würde lediglich eine Position in Beschlag nehmen, die er auf ungewisse Zeit nicht auszuüben gedenkt. Dies rechtfertigt es nicht, im Wege der einstweiligen Anordnung in einen gesetzlich vorgesehenen Wahlvorgang einzugreifen. Von einer derartigen Möglichkeit ist nur mit äußerster Behutsamkeit Gebrauch zu machen.
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Im übrigen steht nicht einmal fest, daß der Beschwerdeführer in sein Amt nicht wieder einrückte, wenn seiner Verfassungsbeschwerde ein Erfolg beschieden wäre. Ihm steht es frei, die Wahl seines Nachfolgers wegen Verletzung der Vorschriften über das Wahlverfahren anzufechten (Art. 36 Satz 1 Nr. 1 GWG). Die Vorschriften über das Wahlverfahren könnten auch dann als verletzt anzusehen sein, wenn eine Neuwahl für den Rest der Wahlzeit des Gemeinderats angeordnet worden ist, weil das Beamtenverhältnis eines ehrenamtlichen ersten Bürgermeisters vor dem Ablauf der Amtszeit geendet hat (Art. 32 Abs. 1 GWG), ein Beendigungsgrund als Voraussetzung der Neuwahl in Wahrheit jedoch nicht vorgelegen hat. Der Begriff der Förmlichkeiten des Wahlverfahrens, der in Art. 36 Satz 1 Nr. 1 GWG angesprochen ist, ist stets weit auszulegen, so daß sämtlichen Vorschriften des Wahlgesetzes davon erfaßt werden (vgl. Schmiemann, Wahlprüfung im Kommunalwahlrecht, 1972, S. 31 f.). Es spricht daher vieles dafür, daß auch eine Verletzung von Art. 32 Abs. 1 GWG dem Beschwerdeführer ein Wahlanfechtungsrecht verleiht. Anderenfalls könnte sich der wahre Amtsinhaber gegen eine ungerechtfertigte Verdrängung aus dem Amte durch den Neugewählten unter Umständen nicht wirksam zur Wehr setzen. Würde dem Beschwerdeführer die Wahlanfechtung versagt, so wäre es ihm möglicherweise verwehrt, sein Amt wieder auszuüben, wenn sich die Unwirksamkeit des Beendigungsgrundes nachträglich herausstellte, das Amt jedoch inzwischen neu besetzt worden wäre (vgl. Art. 24 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über kommunale Wahlbeamte -- KWBG -). Auf die fristgerecht erfolgte Wahlanfechtung des Beschwerdeführers hätte das Landratsamt als Rechtsaufsichtsbehörde hingegen die Neuwahl für ungültig zu erklären, wenn das angegriffene Strafurteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts aufgehoben würde und damit feststünde, daß die Voraussetzungen für die Durchführung einer Neuwahl niemals vorgelegen haben. Eine Frist für die Entscheidung auf die Wahlanfechtung sieht das bayerische Gemeindewahlgesetz nicht vor (vgl. Art. 36 Satz 3 GWG). Aufgrund der Stellungnahme des Bayerischen Ministerpräsidenten ist davon auszugehen, daß der Innenminister das Landratsamt anweisen würde, die Entscheidung über die Wahlanfechtung bis zur Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurückzustellen. Auf diese Weise wäre gesichert, daß der Beschwerdeführer sein Bürgermeisteramt in jedem Falle wieder ausüben könnte, wenn die Verfassungsbeschwerde Erfolg hätte. Ist die Neuwahl des ehrenamtlichen ersten Bürgermeisters für ungültig erklärt worden, so hat dies die Wirkung, daß für den Nachfolger ein Beamtenverhältnis nicht begründet worden ist (Art. 8 Abs. 1 KWBG). Folglich wäre das Bürgermeisteramt auch nicht mit rechtlicher Wirkung neu besetzt worden. Der Beschwerdeführer könnte daher in seine Stellung ohne Einschränkung wieder einrücken.
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3. Soweit der Beschwerdeführer mit dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung das Ziel verfolgt, die Vollstreckung der rechtskräftig gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe vorerst abzuwenden, ist ihr Erlaß nicht "dringend geboten", weil ihm insoweit schon kein gegenwärtiger schwerer Nachteil droht. Die Strafvollstreckung kann erst dann eingeleitet werden, wenn der Beschwerdeführer aus dem Landtag ausgeschieden ist oder der Landtag den Freiheitsentzug genehmigt hat (vgl. § 152a StPO, Art. 28 Abs. 2 BV). Das Ausscheiden aus dem Landtag kann durch die Anrufung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs möglicherweise weiter hinausgezögert werden. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, steht die Vollstreckung der Strafe derzeit nicht bevor. Der Generalbundesanwalt als Vollstreckungsbehörde wird den Vollzug nicht vor dem 16. Mai 1981 beginnen lassen. Falls das Bundesverfassungsgericht bis dahin eine Entscheidung in der Hauptsache nicht getroffen hat, wird der Beschwerdeführer sich vorrangig der gegebenen Rechtsbehelfe zu bedienen haben, um einen Strafaufschub zu erreichen (§ 456 StPO).
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III.
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Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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