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BGE 39 I 361 - Oltner Nachrichten


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt:
A.
B.
C.
D.
E.
F.
Erwägungen:
Erwägung 1
1. Insoweit der Rekurrent sich über Rechtsverweigerung, bezw ...
Erwägung 2
2. In der Sache selbst ist von demjenigen Begriff der Preßf ...
Erwägung 3
3. Im vorliegenden Falle steht nun zunächst außer Frag ...
Dispositiv
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Jana Schmid, A. Tschentscher
 
77. Urteil
 
vom 20. September 1911 in Sachen Gutknecht gegen Benninger und Konsorten.
 
 
BGE 37 I 381 (381)Regeste
 
Vergl. die Inhaltsangabe zu Nr. 76.
 
Recht und Pflicht der Presse, über auffällige Vorgänge in der Verwaltung des Staatshaushaltes Aufklärung zu verlangen und dabei u.U. die Frage, ob das Interesse des Staates stets genügend gewahrt werde, in einer bestimmten Richtung zu präzisieren (Erw. 2 und 3).
 
Inwieweit ist bei Rekursen wegen Verletzung der Pressfreiheit die vorherige Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges erforderlich? Inwieweit besteht ein solcher Instanzenzug im Kanton Freiburg? (Erw. 1.)
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
Der Rekurrent ist verantwortlicher Redaktor der in Murten erscheinenden Zeitung "Der Murtenbieter".
Der Rekursbeklagte Nr. 3 ist Verwalter der kantonalen Strafkolonien "Bellechasse" und "Erlenhof". Der Rekursbeklagte Nr. 2 ist Unterverwalter dieser Anstalten. Tatsächlich wird die Verwaltung des "Erlenhof" ausschliesslich von Schwab, diejenige von "Bellechasse" dagegen mehr oder weniger selbständig von Benninger besorgt. Beide Anstalten pflegen unter dem gemeinsamen Namen "Bellechasse" zusammengefasst zu werden.
Der Rekursbeklagte Nr. 2 ist der Sohn von Verwalter Fritz Schwab, und der Rekursbeklagte Nr. 1 der Vater von Verwalter Joh. Benninger. Außerdem ist der Rekursbeklagte Nr. 2 der Schwiegersohn von Fritz Schwab und der Schwager von Alfred Schwab.
 
B.
 
Am 1. Februar 1908 erschien im Freiburger "Indépendant" ein Artikel über die Einweihung des dem "Cercle catholique de Fribourg" im neuen Staatsbankgebäude eingeräumten Lokales. Dieser Artikel enthielt folgenden Passus:
    "On y aura célébré la complaisance avec laquelle la Banque d'Etat s'est empressée de racheter au Consortium l'ancien Hôtel des Merciers, la facilité encore plus grande qu'elle a mise à louer son café et son second étage au Cercle catholique. De semblables opérations ne doivent pas présenter de grandes difficultés, quand le vendeur s'idenBGE 37 I 381 (381)BGE 37 I 381 (382)tifie avec l'acheteur, le bailleur avec le locataire. Les deux parties représentées par les mêmes personnes, mais sous des titres différents, se font naturellement des prix d'amis.
    Quels ont, dans le cas particulier, pu être ces prix? C'est une question que le public a certainement le droit de se poser, puisqu'il s'agit d'un bâtiment de l'Etat, d'un édifice qui appartient en somme à l'ensemble des citoyens du pays et a été construit avec leurs deniers.
    On ne nous a évidemment exhibé ni contrat, ni compte, ni devis. Nous en serons réduits à de simples conjectures et si nous nous trompons, le moniteur du gouvernement se chargera certainement de rectifier nos erreurs.
    Nous pouvons admettre que le nouvel Hôtel de la Banque a coûté au pays, en chiffres ronds, un million et demi, et pour ne pas le dépasser, il aura fallu rogner les notes de plusieurs adjudicataires de travaux. En calculant l'intérêt de cette somme au 5% et l'amortissement usuel au 2%, la Banque d'Etat doit donc payer annuellement, pour occuper son bâtiment, 105,000 francs. Si nous sommes bien informés, le Cercle catholique lui rembourse pour le deuxième étage et le restaurant du rez-de-chaussée 7000 fr. pas an, dont 4500 fr. sont supportés par la tenancière. La location des mansardes peut en outre être évalué à environ 3000 fr[.] Par conséquent, le Cercle catholique parvient à se loger au prix ce 2500 fr. annuellement et la Banque d'Etat au prix de 95,000 fr. par an. Lequel des deux a donc fait une bonne affaire?"
Hieran anknüpfend schrieb der Rekurrent am 5. Februar im "Murtenbieter":
    "Der katholische Cercle von Freiburg. Unter diesem Titel befasst sich der "Indépendant" in einem trefflichen Leitartikel mit der Feier des genannten Cercles anlässlich des Bezuges seines neuen Lokals im Staatsbankgebäude. Das Blatt wirft gewiss die berechtigte Frage auf, welchen Mietzins dieser Cercle in dem luxuriösen Neubau, der aus Staatsmitteln erstellt wurde, zu entrichten haben werde. Es nimmt an, daß da wohl ein Preis unter Freunden vereinbart worden sei, da VermieterBGE 37 I 381 (382) BGE 37 I 381 (383)und Mieter sich identifizieren ähnlich wie Verkäufer und Käufer beim Übergang des Gasthauses zu "Krämern" an die Staatsbank.
    Dieses Verhältnis zwischen Geschäftsleuten in Freiburg erinnert uns an ein ähnliches im Seebezirk, d.h. in der Verwaltung von Bellechasse. Bekanntlich finden unter den Verwandten der Verwaltung dieser Staatsanstalt zahlreiche Transaktionen statt. Da kann man versucht sein, zu fragen: Werden diese Transaktionen zu Preisen unter Verwandten abgeschlossen, ähnlich wie jene Geschäfte zu Preisen unter Freunden abgewickelt werden?
 
C.
 
Wegen dieses im "Murtenbieter" erschienenen Artikels erhoben die vier Rekursbeklagten gegen den Rekurrenten Strafklage wegen Verleumdung. Gleichzeitig verlangten sie adhäsionsweise, auf Grund von Art. 55 OR, jeder eine Entschädigung von einem Franken.
Durch Urteil vom 4. November 1910 hat das Zuchtgericht des Seebezirks erkannt:
    "1. Hans Gutknecht, Redaktor des "Murtenbieter", in Murten, wird der öffentlichen Beleidigung gegenüber Johann Benninger, Friedrich Schwab, beide Verwalter der Kolonie Bellechasse, und Johann Benninger, in Salvenach, und Alfred Schwab, in Salmiz, schuldig befunden und, in Anwendung des Art. 407, 408, 414 und 415 des Strafgesetzbuches, zuchtgerichtlich zu einer Geldbuße von 100 Fr., zu sämtlichen Kosten verurteilt.
    Den Klägern wird die Befugnis erteilt, die Verurteilung durch eine einmalige Publikation im "Murtenbieter" öffentlich bekannt zu machen, auf Kosten des Verurteilten.
    Eine Ausfertigung des Urteils wird auf Kosten des Verurteilten den Klägern, wenn sie es verlangen, erteilt werden.
    2. Johann Benninger, Vater, Johann Benninger, Sohn, Schwab Friedrich und Schwab Alfred werden jeder in ihren Zivilbegehren gehandhabt. Infolgedessen wird Hans Gutknecht verurteilt, den vier abgenannten Johann Benninger, Vater, Johann Benninger, Sohn, Schwab Friedrich und Alfred, jedem eine Entschädigung von einem Franken zu bezahlen, unter Kostenfolge."
Die Begründung dieses Urteils lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:BGE 37 I 381 (383)
BGE 37 I 381 (384)Der Angeklagte habe im Verlaufe des Prozesses wiederholt erklärt, er stelle in Bezug auf das Geschäftsgebahren der Anstaltsverwalter von Bellechasse keine Behauptungen auf, sondern verlange bloß Auskunft; er habe "von den Transaktionen" "im Detail keine Kenntnis" gehabt, sondern "nur im Allgemeinen". Bei dieser Sachlage, erklärt das Gericht, sei für den Angeklagten "der Wahrheitsbeweis von selbst ausgeschlossen" gewesen; denn, was man nicht behaupte, könne man auch nicht beweisen. "Jedoch" sei "von Seiten sowohl der Kläger als des Angeklagten" "eine lange Beweisführung über die zwischen den Klägern und der Kolonie Bellechasse-Erlenhof stattgefundenen Transaktionen geführt worden", deren Ergebnis folgendes sei:
1. Alfred Schwab habe mit der Kolonie innerhalb von 5 Jahren Transaktionen im Gesamtbetrag von 2733 Fr. 80 Cts. abgeschlossen, Johann Benninger innerhalb desselben Zeitraumes solche im Betrage von 1692 Fr. 40 Cts.
Bei allen diesen Transaktionen seien die betreffenden Waren immer zu den Tagespreisen bezahlt worden. Niemals sei etwas Unkorrektes vorgekommen. Die Rechnungsführung sei tadellos. Auch mit anderen Landwirten pflege die Verwaltung Geschäfte abzuschließen.
2.--12. (Feststellungen bezüglich einer Anzahl von Detailpunkten, über die der Rekurrent Aufschluß verlangt hatte; ein Teil dieser Feststellungen ist aus Erwägung 3 hienach ersichtlich.)
Aus dieser ganzen Beweisführung gehe hervor, resümiert sodann das Urteil, daß den Klägern kein einziger "Akt der unredlichen Bevorzugung " vorgeworfen werden könne. Die ganze, lange, in die kleinen Details gehende Untersuchung habe dargetan, daß die Verwalter von "Bellechasse" und "Erlenhof" durchaus "korrekt und gewissenhaft" seien. Alle vier Kläger seien angesehene Männer, "denen man nichts Unsauberes zur Last legen konnte". Wenn auch diese Beweisführung keine rechtlichen Wirkungen erzeugen könne, "weil sie, wie oben bereits dargestellt wurde, unzulässig war", so habe sie dennoch dargetan, daß die Transaktionen, von denen der inkriminierte Artikel handle, "durchwegs korrekte waren, und daß die Kläger nie einen unberechtigten Gewinn daraus erzielt haben".BGE 37 I 381 (384)
BGE 37 I 381 (385)Der Angeklagte behaupte, er habe niemanden an seiner Ehre angreifen wollen. Diese Erklärung sei eine unhaltbare, nachträgliche Ausrede. "Preise unter Verwandten" bedeute hier nichts anderes, als "daß Verwalter und deren Verwandte sich zu Schaden der Anstalt bevorzugen, daß die ersteren ihre Stellung zu solchen unerlaubten und unredlichen Zwecken mißbrauchen". Daß diese Tatsachen in Form einer Frage angedeutet worden seien, ändere an der Sache nichts. Der Artikel sage unzweideutig, daß bei diesen Transaktionen Käufer und Verkäufer sich identifizierten, d.h. sich bevorzugten. Er werfe also den Klägern Unredlichkeit vor. Die Frage enthalte die Behauptung.
Die Kläger seien stets geachtete und angesehene Männer gewesen. Der inkriminierte Artikel stelle sie als unredliche Männer dar. Er setze sie öffentlich im ganzen Seebezirk und noch auswärts der Mißachtung ihrer Mitmenschen aus. Ihr bisheriges sittliches und soziales Ansehen werde dadurch untergraben. Somit liege hier eine schwere Ehrverletzung vor.
Der Artikel präzisiere die Tatsachen nicht. Er insinuiere im allgemeinen, daß die betreffenden Transaktionen unredlich gewesen seien. Auch habe sich der Angeklagte stets in den Verhandlungen geweigert, Tatsachen zu präzisieren. Demgemäss sei diese Ehrverletzung als Beleidigung zu qualifizieren.
 
D.
 
Gegen dieses Urteil hat Gutknecht rechtzeitig und formrichtig wegen "willkürlichen Beiseiteschiebens von Beweisen (Rechtsverweigerung), willkürlicher Bestrafung des Rekurrenten (Verletzung von Art. 4 der Bundesverfassung) und Verletzung der durch die Bundesverfassung in Art. 55 gewährleisteten Pressfreiheit", den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen mit den Anträgen:
"1. Es sei das vom Zuchtgericht des Seebezirks in Murten am 4. November 1910 gegen ihn erlassene Urteil, im Straf-, Zivil- und Kostenpunkt, aufzuheben.
2. Es seien die Kläger Johann Benninger, Amtsrichter in Salvenach, Johann Benninger, Sohn, Verwalter in Bellechasse, Fritz Schwab, Friedensrichter und Verwalter in Salmiz und Alfred Schwab, Sohn, in Salmiz, zur Zahlung an den Rekurrenten der ihm in der Instanz vor dem Zuchtgericht desBGE 37 I 381 (385) BGE 37 I 381 (386)Seebezirksgerichts und für die Instanz vor dem Bundesgericht erwachsenen Kosten zu verfällen."
 
E.
 
Die Rekursbeklagten haben in erster Linie beantragt, es sei auf den Rekurs mangels Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht einzutreten, da der Rekurrent, wenn auch freilich nicht die Appellation, so doch die in Art. 491 der kantonalen Strafprozeßordnung vorgesehene Kassationsbeschwerde hätte ergreifen können; diese Kassationsbeschwerde qualifiziere sich als ein ordentliches Rechtsmittel im Sinne des bundesgerichtlichen Urteils vom 13. Juli 1910 i.S. Jäggi gegen Gunzinger (AS 36 I S. 379 ff.).
Eventuell beantragen die Rekursbeklagten Abweisung des Rekurses.
 
F.
 
Art. 491 der freiburgischen Strafprozeßordnung lautet:
    "Der Verurteilte kann ein Urteil der Polizeibehörden des Zuchtgerichts oder des Kriminalgerichts als nichtig anfechten:
    1. Wenn die Sache vor einen nicht zuständigen Richter gebracht worden ist;
    2. Wenn seit dem Überweisungsbeschlusse, sei es wenn in der vor benannten Behörden oder Gerichten geführten Pozedur, oder in dem Bestrafungsurteile, der Richter eine wesentliche oder durch gegenwärtiges Gesetzbuch bei Nichtigkeitsstrafe vorgesehene Förmlichkeit ausgelassen oder verletzt hat; oder wenn durch einen Entscheid, der Richter eine gebietende oder verbietende Bestimmung dieses Gesetzbuches außer Acht gelassen hat, oder wenn er einen durch den Rekurrenten ins Protokoll gegebenen, die Ausübung einer gesetzlichen Befugnis betreffenden und für das Urteil Einfluss habenden Antrag durch ein Erkenntnis beseitigt hat;
    3. Wenn eine andere oder eine schärfere Strafe, als die gesetzlich verhängte, ausgesprochen ist;
    4. Wenn die der Zivilpartei zuerkannte Entschädigung entweder gar nicht verlangt, oder die begehrte Summe übersteigt;
    5. Wenn das Zivilgesetz falsch angewendet worden ist. -- In den letzten Fällen kann die Nichtigkeit bloß den Teil des Urteils treffen, der sich auf das Zivilinteresse des Angeklagten bezieht, und wofern die Sache nicht schon vor die Appellation gebracht ist."BGE 37 I 381 (386)
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
 
Anders verhält es sich mit der Berufung auf die Preßfreiheit. Zwar hat das Bundesgericht in dem von den Rekursbeklagten zitierten neuern Urteile (AS 36 I S. 379 ff.) gerade auch für Rekurse wegen Verletzung der Preßfreiheit die vorherige Erschöpfung aller ordentlichen kantonalen Rechtsmittel als in der Regel erforderlich bezeichnet. Indessen ist es zunächst sehr fraglich, ob als ordentliches Rechtsmittel im Sinne dieses Entscheides auch die, allerdings in mehreren Kantonen vorgesehene Kassationsbeschwerde an das Obergericht zu betrachten, oder ob nicht vielmehr nur die Appellation oder Weiterziehung darunter zu verstehen sei. Diese Frage ist im zitierten Urteile nicht entschieden worden und brauchte auch nicht entschieden zu werden. Denn der damalige Rekurrent hatte tatsächlich die Möglichkeit der Appellation gehabt, über deren rechtliche Natur als eines ordentlichen Rechtsmittels ja keinerlei Zweifel obwalten konnten.
Aber auch anläßlich des heutigen Falles braucht zu jener Frage nicht Stellung genommen zu werden. Denn nach Art. 491 der freiburgischen Strafprozessordnung ist die daselbst vorgesehene Kassationsbeschwerde nur wegen Verletzung ganz bestimmter, meist rein formeller Gesetzesvorschriften, also keineswegs etwa wegen Verletzung der Bundesverfassung möglich. Allerdings ist, wenigstens eine Zeit lang, die Tendenz des freiburgischen Kassationsgerichtes zweifellos dahin gegangen, die Kassationsbeschwerde auch wegen Verletzung des materiellen Gesetzesrechts sowie bestimmter Verfassungsgrundsätze zuzulassen, und es existieren sogar zwei Urteile (vom 18. März 1885 i.S. Morard und vom 6. Juni 1905 i.S. Quillet), in welchen das genannte Gericht geradezu untersucht hat, ob eine Verletzung der Preßfreiheit vorliege. Indessen handelt es sich dabei durchaus nicht etwa um eine konstante undBGE 37 I 381 (387) BGE 37 I 381 (388)gleichmäßige Praxis, da auch zahlreiche Urteile existieren, und zwar gerade solche aus neuerer Zeit, in denen der Kassationshof mit Nachdruck betont hat, daß er in materieller Beziehung keinerlei Kompetenzen besitze. Abgesehen davon darf speziell auf die beiden zitierten Urteile auch deshalb kein großes Gewicht gelegt werden, weil das Vorhandensein einer Verletzung der Preßfreiheit in den betreffenden Fällen verneint wurde, sodaß auf die Beantwortung der Eintretensfrage praktisch nichts ankam. Für das Bundesgericht liegt daher kein genügender Grund vor, um entgegen dem Wortlaut des in Betracht kommenden kantonalen Gesetzes anzunehmen, daß im vorliegenden Falle der Rekurrent den Beschwerdegrund der Verletzung der Preßfreiheit mittels der kantonalen Kassationsbeschwerde hätte geltend machen können.
Auf den Rekursgrund der Verletzung der Preßfreiheit ist somit einzutreten.
 
2. In der Sache selbst ist von demjenigen Begriff der Preßfreiheit auszugehen, der dem Urteile des Bundesgerichts vom 13. Juli 1911 i.S. Kälin und Jäggi gegen Bourquard und Konsorten zu Grunde liegt. Demnach ist bei Rekursen wegen Verletzung der Preßfreiheit durch ein gerichtliches Urteil in erster Linie festzustellen, ob das inkriminierte Preßerzeugnis nach Form und Inhalt geeignet war, oder doch den Zweck verfolgte, eine derjenigen Aufgaben zu erfüllen, die im modernen Staat als dem Wirkungskreis der Presse angehörend zu betrachten sind, also z.B.: dem Leser bestimmte, die Allgemeinheit interessierende Tatsachen zur Kenntnis zu bringen, ihn über politische, ökonomische, wissenschaftliche, literarische und künstlerische Ereignisse aller Art zu orientieren, über Fragen von allgemeinem Interesse einen öffentlichen Meinungsaustausch zu provozieren, in irgend einer Richtung auf die praktische Lösung eines die Öffentlichkeit beschäftigenden Problems hinzuwirken, über die Staatsverwaltung und insbesondere über die Verwendung der öffentlichen Gelder Aufschluß zu verlangen, allfällige Mißbräuche im Gemeinwesen aufzudecken, usw. Muß das Vorhandensein eines solchen höhern, in gewissem Sinne idealen Zweckes verneint werden, weil es sich entweder um einen die Öffentlichkeit in keiner Weise interessierenden Gegenstand handelt, oder weil das Mittel der Presse lediglichBGE 37 I 381 (388) BGE 37 I 381 (389)zur Erreichung eines rein egoistischen Zweckes gewählt wurde, so kann die Garantie der Preßfreiheit von dem wegen eines Preßdeliktes Verurteilten selbst dann nicht angerufen werden, wenn der kantonale Richter von einem rechtsirrtümlichen Begriff der Ehrverletzung ausgegangen sein oder den konkreten Tatbestand unrichtig gewürdigt haben sollte, und also der Rekurrent vielleicht zu Unrecht bestraft wurde; denn ein Grund, die Presse eines besondern Schutzes teilhaftig werden zu lassen, liegt nur insoweit vor, als sie die ihr obliegenden besondern Aufgaben erfüllt. Handelt es sich dagegen in der Tat um einen Gegenstand von allgemeinem Interesse, und lag der Publikation auch die Erfüllung einer jener spezifischen Aufgaben der Presse zu Grunde, sind aber dabei in mehr oder weniger empfindlicher Weise auch private Interessen tangiert worden, so ist eine Bestrafung nur dann zulässig, wenn zwischen dem mit der Publikation verfolgten Zweck und dem zur Erreichung dieses Zweckes gewählten Mittel ein offenbares Mißverhältnis besteht, also z.B. wenn rein private Angelegenheiten, die mit dem in der Presse zu verhandelnden Gegenstand nur in einem ganz entfernten Zusammenhange standen, in die breite Öffentlichkeit gezogen, und dadurch bestimmte Personen ohne irgendwelche Notwendigkeit bloßgestellt oder lächerlich gemacht werden, -- oder wenn ohne jeden äußern Anlaß gegenüber einem öffentlichen Beamten der Verdacht pflichtwidriger oder gar unredlicher Handlungen ausgesprochen wurde. Besteht dagegen zwischen einem die Allgemeinheit in hohem Maße interessierenden Gegenstand bezw. dem dabei wahrzunehmenden öffentlichen Interesse, einerseits, und dem Tun und Lassen dieser oder jener Einzelperson, andererseits, ein unlösbarer Zusammenhang, oder hat gar diese Einzelperson durch ihr eigenes pflichtwidriges oder unkorrektes , oder auch nur auffallendes und außergewöhnliches Verhalten zu Verdacht oder Mißdeutungen Anlaß gegeben, so darf der Presse, zumal im demokratischen Staate, nicht verwehrt werden, auf den wunden Punkt aufmerksam zu machen und Aufklärung zu fordern, selbst auf die Gefahr hin, daß die betreffende Einzelperson sich durch dieses berechtigte Verlangen unangenehm berührt fühlen sollte.
 
Erwägung 3
 
3. Im vorliegenden Falle steht nun zunächst außer Frage, daß der im inkriminierten Artikel behandelte Gegenstand an sichBGE 37 I 381 (389) BGE 37 I 381 (390)für die Öffentlichkeit keineswegs bedeutungslos war. Nicht nur mußte es das Publikum interessieren, ob die Strafkolonie "Bellechasse" gut verwaltet sei oder nicht, sondern es hatten die einzelnen Bürger als Steuerzahler auch ein Recht darauf, zu wissen, ob diese Anstalt den an sie gestellten Anforderungen entspreche, ob das darin investierte Kapital rentiere, ob die Verwalter in jeder Beziehung zuverlässig seien usw. Diese und ähnliche Fragen aufzuwerfen und u.U. energisch auf Antwort zu dringen, war das gute Recht der Presse und im Falle ungewöhnlicher, verdachterregender Vorkommnisse sogar ihre Pflicht. Dabei durfte freilich der Vorwurf unredlicher Handlungen nicht erhoben werden, sofern er nicht bewiesen werden konnte; dagegen durfte immerhin, falls eine ernstliche äußere Veranlassung dazu vorlag, die Frage, ob das Interesse des Staates stets genügend gewahrt worden sei, im einer bestimmten Richtung präzisiert und über diese oder jene Tatsachen Aufschluß verlangt werden. Etwas anderes aber hat der Rekurrent nicht getan. Insbesondere kann durchaus nicht anerkannt werden, daß er durch die Art und Weise, wie er seine Frage formulierte, zugleich auch schon die Antwort darauf erteilt habe, und zwar im Sinne einer Schuldigerklärung des Rekursbeklagten. Allerdings sprach er im Anschluß an die Angelegenheit der Kantonalbank von einem "ähnlichen Verhältnis im Seebezirk"; allein es hieße dem Sinne des inkriminierten Artikels Gewalt antun, wenn hierin die Behauptung erblickt werden sollte, auch in Bellechasse finde eine solche Benachteiligung des Kantons statt, wie sie nach der Darstellung des "Indépendant" beim Übergang des Gasthofes zu "Krämern" an die Staatsbank und bei der Vermietung der entbehrlichen Räumlichkeiten des neuen Bankgebäudes vorgekommen sei. Vielmehr sollte die "Ähnlichkeit" nach den Ausführungen des Rekurrenten bloß darin liegen, daß hier wie dort von öffentlichen Beamten Transaktionen mit sich selbst abgeschlossen worden seien, sodaß man nicht umhin könne, die gleiche Frage, die in Bezug auf das Staatsbankgebäude gestellt worden sei, auch in Bezug auf die Anstalt Bellechasse aufzuwerfen. Welche Antwort aber auf diese Frage zu erteilen sei, wurde im Gegensatz zu der positiven Behauptung, es sei in der Staatsbankaffäre "zu Preisen unter Freunden" kontrahiert worden, in Bezug auf die Anstalt Bellechasse durchaus offen gelassen.BGE 37 I 381 (390)
BGE 37 I 381 (391)Allerdings ist nicht zu verkennen, daß eine jede Frage dieser Art insofern einem gewissen Mißtrauen Ausdruck verleiht, als solche Fragen ja in der Regel nicht gestellt zu werden pflegen, wenn von vornherein niemand an die Möglichkeit denkt, daß etwas Ungehöriges vorgekommen sein könnte. Allein einerseits werden öffentliche Untersuchungen über die Geschäftsführung bestimmter Personen u.U. doch auch gerade im Interesse dieser Personen und von einer Seite verlangt, die selber nicht den geringsten Verdacht hegt; andererseits aber ist nicht zu vergessen, daß öffentliche Beamte sowieso stets bereit sein müssen, sich der Kontrolle ihrer Vorgesetzten bezw. ihrer Aufsichtsbehörden zu unterziehen und dabei das in jeder Kontrolle zum ungewollten Ausdruck kommende, gewissermaßen latente Mißtrauen über sich ergehen zu lassen. Alsdann aber ist nicht einzusehen, warum dieses nämliche, bloß hypothetische Mißtrauen, sofern es bei einem wohlbegründeten äußern Anlaß in der Presse zum Ausdruck kommt, hier nun auf einmal einer positiven Anschuldigung gleichgestellt werden sollte.
Im konkreten Falle war nun in der Tat ein wohlbegründeter äußerer Anlaß zur Fragestellung gegeben. Denn einerseits war kaum vier Tage zuvor im Hauptorgan der politischen Opposition des Kantons in Bezug auf die mit dem Bau des Staatsbankgebäudes zusammenhängenden Transaktionen, nicht etwa nur Mißtrauen geäußert, sondern geradezu die Behauptung aufgestellt worden, es seien ungehörige Begünstigungen vorgekommen; andererseits aber ist festgestellt, und es wird dies auch im angefochtenen Urteil ausdrücklich konstatiert, daß Verwalter Schwab und Unterverwalter Benninger in ihrer Eigenschaft als Verwalter, ersterer mit seinem eigenen Sohn, letzterer mit seinem eigenen Vater, innerhalb von 5 Jahren Transaktionen im Gesamtbetrage von mehreren tausend Franken abgeschlossen haben. Wenn nun auch hierin, nach der für das Bundesgericht verbindlichen Auffassung der kantonalen Behörden, keine Pflichtwidrigkeit zu erblicken ist, so lag es doch gewiß nahe, die Frage aufzuwerfen und darüber Aufklärung zu verlangen, ob bei allen diesen Geschäftsabschlüssen das Interesse des Staates gehörig gewahrt worden sei. Es lag dies umso näher, als, wiederum nach den eigenen Feststellungen des angefochtenen Urteils, in einzelnen Fällen Preise vereinbartBGE 37 I 381 (391) BGE 37 I 381 (392)worden waren, die auf den ersten Blick den landesüblichen Preisen in der Tat nicht zu entsprechen schienen. Allerdings hat sich im Laufe des Prozesses auf Grund einer eingehenden Prüfung der Geschäftsbücher und nach Abhörung zahlreicher Zeugen ergeben, daß bei jenen Geschäften eine Übervorteilung des Staates tatsächlich doch nicht stattgefunden hat. Allein es ist klar, daß der Rekurrent nicht in der Lage war, alle diese weitläufigen Erhebungen, die dann im Prozesse gemacht wurden, von sich aus vorzunehmen. Daß es aber ohne solche Erhebungen nicht möglich war, sich über die Frage, ob Pflichtwidrigkeiten vorgekommen seien, ein sicheres Urteil zu bilden, ergibt sich u.a. gerade aus der Tatsache, daß der kantonale Richter jene umständlichen Erhebungen angeordnet hat, trotzdem er dem Rekurrenten das Recht zur Leistung des "Wahrheitsbeweises" absprach. Dazu kommt nun aber des weitern, daß auch abgesehen von den eigentlichen Geschäftsabschlüssen zwischen der Verwaltung und deren Verwaltern, bezw. zwischen der Verwaltung und den Verwandten der Verwalter, verschiedene Vorkommnisse konstatiert worden sind, die bei Uneingeweihten zu Verdacht Anlaß geben konnten und mußten. So die Tatsache, daß Verwalter Friedr. Schwab zwei- oder dreimal während je eines halben Tages Zug und Mähmaschinen der Anstalt zur Bearbeitung seines eigenen Grundstückes "Bachmatte" benutzt, und zwar unentgeltlich benutzt hat, -- daß er ferner zweimal mit Zug und Streumaschine von Bellechasse auf der "Bachmatte" Dünger streuen ließ, -- daß sodann für Frau Benninger mittels eines Zuges der Kolonie Ziegel von Faoug nach Salmiz geführt worden sind, -- daß Amtsrichter Benninger (der Vater des Verwalters) ein Pferd von Bellechasse während einiger Wochen für sich benutzen konnte, usw. Mochten auch solche unentgeltlichen Dienstleistungen, insbesondere die Fuhren, unter guten Nachbarn mehr oder weniger landesüblich sein, und mochten sie auch, wie das Gericht feststellt, von der Aufsichtsbehörde gestattet worden sein, so konnte doch gewiß auch die Ansicht vertreten werden, daß derjenige, dem fremdes Gut anvertraut ist, in dieser Beziehung nicht im gleichen Maße frei schalten und walten dürfe, wie ein Privatmann, der sich selber Rechenschaft schuldig ist, -- ferner, daß eine größere Zurückhaltung geboten sei, sobaldBGE 37 I 381 (392) BGE 37 I 381 (393)die persönlichen Interessen des Verwalters oder seiner Verwandten im Spiele sind, wie dies hier der Fall war.
Des weitern ist festgestellt, daß Benninger Sohn sein Kavalleriepferd je 14 Tage bis drei Wochen vor und nach dem Militärdienst in Bellechasse unterzubringen pflegte, -- ein ebenfalls unentgeltlicher Dienst, den er sich als Verwalter der Anstalt selber leistete, und der durch die etwa vorgekommene gelegentliche Verwendung des Pferdes für die Anstalt wohl kaum voll aufgewogen wurde. Auffallen mußte sodann, daß im Jahre 1907 ein der Anstalt gehörendes Rind aus dem Stall des "Erlenhofes" in denjenigen des Alfred Schwab (des Sohnes von Verwalter Friedr. Schwab) verbracht wurde, während in den Geschäftsbüchern von einem bezüglichen Kaufvertrag zwischen der Anstalt und Alfred Schwab nichts zu finden ist. Wurde nun auch dieser Fall nachträglich in völlig befriedigender Weise aufgeklärt, da sich nämlich ergab, daß das Rind von der Anstalt an einen gewissen Corminboeuf und dann erst von diesem, weil es vor der Übergabe abgeworfen hatte, an Alfred Schwab verkauft worden war, so ist es doch gewiß begreiflich, wenn Drittpersonen hier Verdacht faßten. Ähnlich verhält es sich mit der Tatsache, daß Verwalter Schwab durch die Sträflinge von Bellechasse für sich persönlich ein Bienenhaus erstellen ließ; auch dies mußte bei allen denjenigen Verdacht erregen, die nicht zufällig wußten, daß Schwab kurz zuvor behufs Unterbringung eines frisch angekommenen Bienenschwarms sein eigenes Bienenhaus der Anstalt überlassen hatte.
Tatsache ist endlich, daß Alfred Schwab einmal in einer Gemeinderatssitzung, als davon die Rede war, daß der Neubau seines Vaters wohl recht teuer zu stehen komme, die Äußerung tat: dafür nehme man "etwas mehr dort hinten" (d.h. in der Anstalt) -- eine Äußerung, die nachträglich nur damit erklärt werden konnte, daß Schwabs Sohn, wenn er etwas angeheitert sei, oft Dinge sage, von denen man nicht wisse, ob sie ernst gemeint seien oder nicht.
Ist nun auch in allen diesen Fällen entweder den Rekursbeklagten direkt der Beweis gelungen, daß ihnen keine Pflichtverletzung bezw. keine Übervorteilung der Anstalt zur Last fällt, oder doch jedenfalls dem Rekurrenten der Beweis des Gegenteils nichtBGE 37 I 381 (393) BGE 37 I 381 (394)gelungen, und wäre der Rekurrent daher allerdings nicht berechtigt gewesen, die Behauptung aufzustellen, daß Unredlichkeiten begangen worden seien, so zeigen doch gerade die bezüglichen Feststellungen des angefochtenen Urteils, daß nicht nur Dinge vorgekommen sind, die Anstoß erregen mußten und daher vielleicht besser unterblieben wären, sondern daß immerhin für Fernstehende sogar Anlaß zu eigentlichem Verdacht vorlag. Alsdann aber durfte sich der Rekurrent, wie bereits ausgeführt wurde, als Vertreter der Presse für berechtigt und sogar für verpflichtet halten, über alle jene Verhältnisse öffentlich Aufschluss zu verlangen. Die Rekursbeklagten aber hatten umso weniger Anlaß, ihn deswegen vor den Strafrichter zu ziehen, als sie ja ihrerseits in der Lage gewesen wären, eine Administrativuntersuchung zu beantragen und auf diesem, gewiß viel natürlicheren Wege feststellen zu lassen, daß ihnen keine Pflichtverletzung zur Last falle.
 
Dispositiv
 
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Rekurs wird begründet erklärt, und das Urteil des Zuchtgerichts des Seebezirks vom 4. November 1910, einschließlich des Kostenentscheides, aufgehoben.BGE 37 I 381 (394)