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Zitiert durch:
BGE 137 I 31 - Hooligan-Konkordat


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 2.2
Erwägung 2.3
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Philippe Dietschi
 
11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Migration gegen X. und Amt für Migration Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_643/2008 vom 29. Januar 2009
 
 
Regeste
 
Art. 5 Ziff. 1 lit. b und f EMRK, Art. 78 und 79 AuG; Verhältnismässigkeit einer ausländerrechtlichen Festhaltung über zwanzig Monate hinaus.  Je länger eine ausländerrechtlich motivierte Festhaltung dauert und je weniger die Ausschaffung absehbar erscheint, desto kritischer ist die jeweilige Haftverlängerung zu hinterfragen (E. 2.1 und 2.2). Bei den in Art. 79 AuG genannten 24 Monaten handelt es sich um eine Maximalfrist, die nur im Rahmen des konventions- und verfassungsmässig Zulässigen ausgeschöpft werden darf; Beurteilung einer ausländerrechtlichen Festhaltung, die bereits zwanzig Monate gedauert hat (E. 2.3).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 135 II 105 (106)X. (geb. 1966) stammt aus Marokko. Er heiratete am 12. September 2002 eine Schweizer Bürgerin. Am 29. April 2004 wurde den Eheleuten das Getrenntleben gestattet, nachdem sie bereits zuvor den gemeinsamen Haushalt aufgehoben hatten. Am 30. Juni 2004 kam der gemeinsame Sohn Y. zur Welt, der unter der Obhut der Mutter steht. Das Amt für Migration des Kantons Basel-Landschaft lehnte es am 24. Februar 2005 ab, die Aufenthaltsbewilligung von X. zu verlängern, was das Bundesgericht auf Beschwerde hin am 20. Juli 2006 bestätigte.
Zur Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs befand sich X. ab dem 8. November 2006 in Ausschaffungshaft. Diese Festhaltung wurde zweimal um je drei Monate verlängert. Ab dem 7. August 2007 versetzte das Amt für Migration Basel-Landschaft X. in Durchsetzungshaft. Am 2. Juli 2008 lehnte der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht am Kantonsgericht Basel-Landschaft eine weitere Verlängerung der Haft ab und liess X. frei.
Das Bundesamt für Migration ist am 9. September 2008 mit dem Antrag an das Bundesgericht gelangt, diesen Entscheid aufzuheben. Das Bundesgericht weist seine Beschwerde ab.
 
 
Erwägung 2
 
 
Erwägung 2.2
 
2.2.1 Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder Ausweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint (vgl. Art. 78 AuG). Der damit verbundene Freiheitsentzug stützt sich auf Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK (Haft zur Sicherung eines schwebenden Ausweisungsverfahrens) und dient in diesem Rahmen zur Erzwingung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung des Betroffenen (Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK; vgl. BGE 134 I 92 E. 2.3.1). Die Durchsetzungshaft bildet das letzte Mittel, wenn und soweit keine andere Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den illegal anwesenden Ausländer auch gegen seinen Willen in seine Heimat verbringen zu können. Sie darf nach dem Willen des Gesetzgebers maximal 18 Monate dauern (BGE 134 I 92 E. 2.1 und 2.3.1; BGE 133 II 97 E. 2.2 S. 99 f. [zu Art. 13g ANAG]), muss aber in jedem Fall verhältnismässig sein. Die Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft dürfen zusammen eine Höchstdauer von 24 Monaten nicht überschreiten (Art. 79 AuG). Es ist jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob die ausländerrechtliche Festhaltung insgesamt (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (BGE 134 I 92 E. 2.3.2; BGE 133 II 97 E. 2.2 S. 100 [zu Art. 13g ANAG]; AB 2005 N 1209 f.).
2.2.2 Bei dieser Beurteilung ist dem Verhalten des Betroffenen, den die Papierbeschaffung allenfalls erschwerenden objektiven Umständen (ehemalige Bürgerkriegsregion usw.) sowie dem Umfang der von den Behörden bereits getroffenen Abklärungen Rechnung zu tragen und zu berücksichtigen, wieweit der Ausländer es tatsächlich in der Hand hat, die Festhaltung zu beenden, indem er seiner Mitwirkungs- bzw. Ausreisepflicht nachkommt (BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97). Von Bedeutung können zudem seine familiären Verhältnisse sein sowie der Umstand, dass er allenfalls wegen seines Alters, Geschlechts oder Gesundheitszustands als "besonders schutzbedürftig" gelten muss (vgl. BGE 134 II 201 E. 2.2.3 S. 205). Das mutmassliche künftige Verhalten des Betroffenen ist jeweils aufgrunBGE 135 II 105 (107) BGE 135 II 105 (108)d sämtlicher Umstände abzuschätzen; dabei kommt dem Haftrichter wegen der Unmittelbarkeit seiner Kontakte mit dem Betroffenen ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Ein erklärtes konsequent unkooperatives Verhalten bildet in diesem Rahmen nur einen - allenfalls aber gewichtigen - Gesichtspunkt unter mehreren (BGE 134 II 201 E. 2.2.4; BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97). Je länger die ausländerrechtlich motivierte Festhaltung dauert und je weniger die Ausschaffung absehbar erscheint, desto strengere Anforderungen sind an die fortbestehende Hängigkeit des Ausweisungsverfahrens im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK zu stellen und desto kritischer ist die jeweilige Haftverlängerung zu hinterfragen (BGE 134 II 201 E. 2.2.5 S. 206).
 
Erwägung 2.3
 
2.3.2 Der vorliegende Fall kann nicht mit dem in BGE 134 II 201 ff. beurteilten Sachverhalt verglichen werden: Dort befand sich der Betroffene "erst" seit dreizehn Monaten ausländerrechtlich in Haft; zudem hatte er keinerlei Beziehungen zur Schweiz und war er hierBGE 135 II 105 (108) BGE 135 II 105 (109)straffällig geworden. Unmittelbar vor seiner Festhaltung musste er an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort wegen einer Tätlichkeit angehalten werden. Gestützt hierauf konnte nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er sich während der verbleibenden möglichen Maximalzeit doch noch eines Bessern besinnen und sich bereit erklären würde, das Land zu verlassen. Der Beschwerdegegner hat in der Schweiz einen Bruder, bei dem er wohnen und der ihn unterstützen kann; offenbar ist er inzwischen auch am 21. Januar 2008 vom Vorwurf der versuchten Nötigung und Beschimpfung freigesprochen worden. Seit der Haftentlassung nimmt er das ihm eingeräumte Besuchsrecht zu seinem Sohn regelmässig wahr. Sollte das gestützt hierauf von ihm eingeleitete bewilligungsrechtliche Wiedererwägungsverfahren ohne Erfolg bleiben, wird er für die restlichen vier Monate ausländerrechtlicher Haft erneut festgehalten werden können, falls sich die Verhältnisse derart verändern sollten, dass seine Ausschaffung nach Marokko vernünftigerweise wieder absehbar erscheint. In der Zwischenzeit wäre seine Anwesenheit illegal und könnte zu strafrechtlichen Sanktionen führen (vgl. Art. 115 AuG; BGE 135 IV 6); ausländerrechtlich bleibt gegebenenfalls seine Aus- oder Eingrenzung zulässig (vgl. Art. 74 Abs. 1 lit. b AuG).
2.3.3 Zwar mag es stossend erscheinen, dass der Beschwerdegegner letztlich wegen seines renitenten Verhaltens vor Ablauf der in Art. 79 AuG vorgesehenen Festhaltungsdauer wieder auf freien Fuss gesetzt werden muss; bei den dort genannten 24 Monaten handelt es sich jedoch um eine Maximalfrist, die nur im Rahmen des konventions- und verfassungsmässig Zulässigen ausgeschöpft werden darf. Dies setzt unter anderem voraus, dass die Festhaltung im konkreten Fall mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit nach wie vor geeignet erscheint, ihren Zweck zu erfüllen, und nicht gegen das Übermassverbot verstösst. Dessen war sich der Gesetzgeber bewusst, wurde doch in den Beratungen - auch von den Befürwortern der Verschärfung der Zwangsmassnahmen - zugestanden, "dass nicht in jedem Fall eine Haft über die ganze Dauer ausgesprochen werden kann und wird". Wer "sich weigert, ein Formular auszufüllen", könne nicht monatelang in Haft genommen werden; das sei "klar". Die Haftdauer müsse nach der "Schwere der Mitwirkungsverweigerung" bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit durch den Richter berücksichtigt werden (vgl. AB 2005 N 1209 f. [Votum Kommissionssprecher Müller]). Ergänzend kann darauf hingewiesenBGE 135 II 105 (109) BGE 135 II 105 (110)werden, dass die EU-Rückführungsrichtlinie, welche Teil des Schengen-Besitzstands bildet und von der Schweiz innert einer Übergangsfrist von 24 Monaten umzusetzen sein wird, eine Abschiebehaft von bloss sechs Monaten vorsieht, die maximal bis zu 18 Monaten verlängert werden kann, falls der Betroffene nicht kooperiert oder es zu Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten kommt (vgl. Art. 15 der Richtlinie 2008/ 115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98 ff.).BGE 135 II 105 (110)