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BGE 121 III 219 - Bezugsrechte und Generalversammlung
BGE 117 Ib 367 - Erben X
BGE 117 Ia 472 - Vermummungsverbot


Regeste
Sachverhalt
Auszug aus den Erwägungen:
Erwägung 2
2.- Das Kantonsgericht hat die Abweisung des Gesuchs der Beschwer ...
Erwägung 3
3.- Die Beschwerdeführenden bringen des Weiteren vor, das Eh ...
Erwägung 4
4.- a) Bei der Beibehaltung des Eheverbots für Stiefverh&aum ...
Erwägung 5
5.- Die Zulässigkeit eines Grundrechtseingriffs setzt ferner ...
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher
 
20. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. M.W. und K.S. gegen Kantonsgericht Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
 
5A.15/2001
 
vom 6. Dezember 2001
 
 
Regeste
 
Eheverbot zwischen Stiefelter und Stiefkind (Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB, Art. 12 EMRK).
 
Das Eheverbot zwischen Stiefelter und Stiefkind, das in seiner heutigen Fassung gemäss Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB am 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist, lässt nach dem Willen des Gesetzgebers die Eheschliessung auch dann nicht zu, wenn aus der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder hervorgegangen sind (E. 2).
 
Das Verbot der Eheschliessung zwischen Stiefelter und Stiefkind ist mit Art. 12 EMRK vereinbar (E. 3-5).
 
 
BGE 128 III 113 (113)Sachverhalt
 
A. M.W. heiratete am 7. Juni 1985 V.S., welche die zwei Kinder K.S., geboren im Jahr 1971, und L.S., geboren im Jahr 1976, in die Ehe brachte. Diese Ehe wurde am 14. Mai 1991 geschieden.BGE 128 III 113 (113)
BGE 128 III 113 (114)Am 19. Juni 1991 brachte K.S. einen Sohn zur Welt; der Vater des Kindes ist ihr Stiefvater M.W. Am 22. März 1994 gebar sie diesem einen zweiten Sohn. Am 9. März 1995 wurde der Nachname der beiden Söhne von S. auf W. geändert.
B. Am 25. September 2000 stellten M.W. und K.S., die seit Jahren im Konkubinat leben, beim Zivilstandsamt des Kreises Chur ein Gesuch um Vorbereitung der Eheschliessung. Mit Verfügung vom 26. September 2000 lehnte das Zivilstandsamt das Gesuch wegen Vorliegens eines Ehehindernisses gemäss Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB ab.
Die dagegen erhobene Beschwerde von M.W. und K.S. lehnte das Justiz-, Polizei- und Sanitätsdepartement des Kantons Graubünden ab. Ihre Berufung an das Kantonsgericht von Graubünden blieb ebenfalls erfolglos.
C. Das Bundesgericht weist die von den Heiratswilligen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
 
BGE 128 III 113 (116)d) Aus dem Umstand, dass diese Einschränkung verworfen wurde, kann geschlossen werden, dass das Eheverbot nach dem Willen des Gesetzgebers in Stiefverhältnissen absolut gilt, dass der Gesetzgeber also auch einen Ausschluss der Fälle, in denen aus der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder hervorgehen, abgelehnt hat. Ratio legis ist die Wahrung des Friedens in der - das Stiefverhältnis begründenden - Familie. Im Hinblick auf das zu schützende Rechtsgut macht es keinen sachlich relevanten Unterschied, ob der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder entspringen oder nicht. Käme das Eheverbot im einen Fall zur Anwendung und im anderen nicht, so läge darin eine rechtsungleiche Behandlung. Daraus folgt, dass keine Ausnahmelücke vorliegt, dass das geltende Bundeszivilrecht eine Eheschliessung im vorliegenden Fall also nicht zulässt.
 
Erwägung 3
 
 
Erwägung 4
 
b) Von erheblicher Bedeutung ist ferner der Schutz der freien Entfaltung und der sexuellen Integrität des Stiefkindes: Die Familie bildet nach wie vor regelmässig den engsten ursprünglichsten Rahmen des Zusammenlebens, der Rahmen, in dem Kinder ihr Leben beginnen und heranwachsen. Sie soll deshalb von sexuellen Beziehungen und erotischen Spannungen freigehalten werden. Entsprechend steht die Verletzung der sexuellen Integrität des Abhängigen unter Strafe (Art. 188 StGB; STRATENWERTH, a.a.O., S. 311). Zivilrechtlich findet das Stiefverhältnis Ausdruck in der subsidiären elterlichen Sorge des Stiefelters: Gemäss Art. 299 ZGB hat erBGE 128 III 113 (117) BGE 128 III 113 (118)seinem Ehegatten in der Ausübung der elterlichen Sorge gegenüber dessen Kindern in angemessener Weise beizustehen und ihn zu vertreten, wenn es die Umstände erfordern. Damit befindet sich der Stiefelternteil regelmässig in einer Autoritätsstellung und das Stiefkind in einem Abhängigkeitsverhältnis. Es gilt demnach zu verhindern, dass dieses faktische Eltern-Kind-Verhältnis nahtlos in ein Paarverhältnis übergeht (HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl. 2000, Rz. 4.13; KARLHEINZ MUSCHELER, Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Eheschliessungsrechts, in: Juristenzeitung [JZ] 1997 S. 1142, S. 1145).
d) Die Ehe zwischen Stiefelter und Stiefkind ist im Übrigen auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern verboten, nämlich in Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Luxemburg, Polen, Portugal, Serbien, der Türkei und Ungarn. Zwar sieht die Mehrheit dieser Länder die Möglichkeit eines Dispenses vor, doch wird dieser lediglich unter einschränkenden Voraussetzungen erteilt. So sind beispielsweise in Grossbritannien Schwäger- und Stiefverhältnisse grundsätzlich einem Dispens zugänglich, davon ausgenommen sind aber die Fälle, in welchen das Stiefkind - wie bei den Beschwerdeführenden - vor Erreichen seines achtzehnten Lebensjahres mit dem Stiefelter in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. Kein Eheverbot für Stiefverhältnisse kennen demgegenüber beispielsweise Deutschland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, das Fürstentum Liechtenstein, Schweden und Spanien (BERGMANN/FERID, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht: Belgien, 138. Lieferung, S. 51, Art. 161 ff.; Deutschland, 137. Lieferung, S. 49, §§ 1306 ff.; Finnland, 103. Lieferung, S. 22; Frankreich, 122. Lieferung, S. 68 f., Art. 161 ff.; Griechenland, 82. Lieferung, S. 17, Art. 1357; Grossbritannien, 113. Lieferung,BGE 128 III 113 (118) BGE 128 III 113 (119)S. 171, Art. 1 ff.; Italien, 142. Lieferung, S. 54 f., Art. 87; Fürstentum Liechtenstein, 118. Lieferung, S. 47, Art. 12 ff.; Luxemburg, 109. Lieferung, S. 53, Art. 161 ff.; Niederlande, 123. Lieferung, S. 63 f. Fn. 33; Norwegen, 138. Lieferung, §§ 3 f.; Österreich, 116. Lieferung, S. 141, Art. 4 ff.; Polen, 139. Lieferung, S. 40, Art. 14 § 1; Portugal, 132. Lieferung, S. 49, Art. 1602 lit. c; Schweden, 110. Lieferung, S. 22c, §§ 1 ff.; Spanien, 132. Lieferung, Art. 44 ff.; Türkei, 123. Lieferung, S. 24, Art. 92 Ziff. 2; Ungarn, 143. Lieferung, S. 37, § 8 Abs. 1 lit. d).
 
Erwägung 5
 
bb) Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit berufen sich die Beschwerdeführenden auch auf die Interessen ihrer Kinder. Im schweizerischen Zivilrecht sind die ausserehelichen Kinder den ehelichen vollkommen gleichgestellt. Dass ein Kind nicht ehelich ist, kommt heute häufig vor und erscheint nicht mehr als etwas besonderes. Bei einer grossen Anzahl ehelicher Kinder wird überdies die Ehe der Eltern im Lauf ihrer Kindheit geschieden, so dass sich diese in einer Situation befinden, die jener der ausserehelichen Kinder sehr ähnlich ist. Unter diesen Umständen sind heute weder spezielle Vorurteile Dritter noch eine besondere soziale Benachteiligung zu erwarten, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor einigen Jahren noch befürchtete (Urteil i.S. F. c. Schweiz vom 18. Dezember 1987, Serie A, Bd. 128, Ziff. 36). Im Übrigen dürften auch die Beschwerdeführenden nicht von einer erheblichen Benachteiligung ausserehelicher Kinder ausgegangen sein, andernfalls hätten sie ihre Kinder nicht ausserhalb der Ehe gezeugt.