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BGE 134 I 286 - Einsichtsgesuch VgT


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Auszug aus den Erwägungen:
1. a) Der Beschwerdeführer rügt, durch die ihm verweige ...
Erwägung 2
2. a) Der Strafbescheid ist dem Beschuldigten mitzuteilen (Art. 6 ...
Erwägung 3
3. a) Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind u.a. Urteile in Verfah ...
4. Die Beschwerde wird aus diesen Gründen gutgeheissen. Der  ...
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher
 
39. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 18. Mai 1998 i.S. W. gegen Bundesamt für Zivilluftfahrt
 
 
Regeste
 
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II; Art. 27 Abs. 3, Art. 64 und 65 VStrR. Verwaltungsstrafrecht; Strafbescheid; öffentliche Urteilsverkündung.
 
Zulässigkeit der Beschwerde; Legitimation (E. 1).
 
Strafbescheid und Strafverfügung sind einem allfälligen Anzeiger oder Geschädigten nicht zu eröffnen (E. 2).
 
Der Strafbescheid im abgekürzten Verfahren (Art. 65 VStrR) ist ein Entscheid über eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II (E. 3c).
 
Der Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündung gilt auch für den Strafbescheid im abgekürzten Verfahren; die Auflage bei einer der Öffentlichkeit zugänglichen Kanzlei genügt (E. 3c und 3e).
 
Berechtigte, wie jedenfalls der Anzeiger, haben grundsätzlich Anspruch auf Kenntnisnahme des vollständigen, ungekürzten und nicht anonymisierten Strafurteils (E. 3d und 3e).
 
 
BGE 124 IV 234 (235)Sachverhalt
 
A. Am 19. Juli 1997 erstattete W. beim Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) Strafanzeige gegen den Piloten eines einmotorigen Sportflugzeuges (Kennzeichen HB-UEB), weil dieser dieBGE 124 IV 234 (235) BGE 124 IV 234 (236)Ortschaft Quinten/SG dreimal in einer Höhe von weniger als 100 m überflogen habe. Für das Verwaltungsstrafverfahren beantragte W. Parteistellung als Geschädigter und volles Akteneinsichtsrecht, was nach dem Rechtsdienst auch der Direktor des Bundesamtes für Zivilluftfahrt ablehnte. Eine von W. dagegen gerichtete Beschwerde wies die Anklagekammer des Bundesgerichts mit Urteil vom 17. November 1997 ab.
B. Mit Schreiben vom 4. Dezember 1997 beantragte W. dem Bundesamt für Zivilluftfahrt, in die Strafverfügung in dieser Sache Einsicht nehmen zu können. Der untersuchende Beamte lehnte dies unter Berufung auf das erwähnte Urteil der Anklagekammer ab.
Eine dagegen gerichtete Beschwerde von W. vom 24. Dezember 1997 wies der Direktor des Bundesamtes für Zivilluftfahrt am 22. Januar 1998 ab.
C. Mit Beschwerde vom 29. Januar 1998 beantragt W. der Anklagekammer des Bundesgerichts, den Beschwerdeentscheid des Direktors des Bundesamtes für Zivilluftfahrt aufzuheben und ihm Einsicht in den Endentscheid des Bundesamtes für Zivilluftfahrt im Verwaltungsstrafverfahren zu gewähren. Eventuell sei die Spruchgebühr angemessen zu reduzieren.
Das Bundesamt für Zivilluftfahrt beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
D. Auf Verlangen der Anklagekammer reichte das Bundesamt für Zivilluftfahrt die gesamten Strafakten ein, mit dem Ersuchen, diese dem Beschwerdeführer nicht zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen. Den Strafakten ist zu entnehmen, dass gegen den angezeigten Piloten im abgekürzten Verfahren am 13. Februar 1998 ein Strafbescheid erlassen wurde, der in Rechtskraft erwachsen ist.
 
b) Mit der Beschwerde gemäss Art. 27 Abs. 3 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0) gegen eine andere Amtshandlung bzw. gegen Säumnis kann der vom Entscheid der Verwaltung Betroffene die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich die Überschreitung oder den Missbrauch des Ermessens rügen. Diese Beschwerdemöglichkeit erstreckt sich auf die TätigkeitBGE 124 IV 234 (236) BGE 124 IV 234 (237)der Verwaltung während des durch sie geführten Verwaltungsstrafverfahrens, d.h. von Beginn des Untersuchungsverfahrens bis zu dessen Abschluss. Mit der Beschwerde gemäss Art. 27 Abs. 3 VStrR kann somit auch gerügt werden, beim Erlass der die Untersuchung abschliessenden Endverfügung der Verwaltung habe diese Bundesrecht verletzt. Zum Erlass der Endverfügung ist auch die Art und Weise der Urteilsverkündung zu zählen.
 
Erwägung 2
 
 
Erwägung 3
 
3. a) Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind u.a. Urteile in Verfahren, in denen über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage entschieden wird, öffentlich zu verkünden. Auch nach Art. 14 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II; SR 0.103.2; für die Schweiz in Kraft getreten am 18. September 1992) ist jedes Urteil in einer Strafsache öffentlichBGE 124 IV 234 (237) BGE 124 IV 234 (238)zu verkünden, sofern nicht die Interessen Jugendlicher dem entgegenstehen oder das Verfahren Ehestreitigkeiten oder die Vormundschaft über Kinder betrifft. Die Ausnahmen sind hier nicht gegeben. Die Schweiz hat zu beiden Bestimmungen einen Vorbehalt angebracht betreffend die nach kantonalem Recht vorgesehene Möglichkeit der schriftlichen Urteilseröffnung an die Parteien. Dieser Vorbehalt kommt hier aber -- abgesehen davon, dass er wohl als unwirksam zu betrachten ist (vgl. LUZIUS WILDHABER, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 N. 596 und Anm. 7) -- nicht zum Tragen, da es um die Anwendung von Bundesrecht (VStrR) durch Bundesverwaltungsbehörden geht.
Verzichtet der Beschuldigte auf eine Einsprache, so hat dies zur Folge, dass er grundsätzlich auch auf die sich aus Art. 6 EMRK ergebenen Rechte verzichtet, denn für das eigentliche Strafbefehlsverfahren gelten die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK grundsätzlich nicht (THEO VOGLER, a.a.O., N. 241 ff.). Dies gilt indessen nicht für den Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündigung, da der Beschuldigte auf diese nicht verzichten bzw. diese nicht ausschliessen kann (THOMAS POLEDNA, a.a.O., N. 483; HERBERT MIEHSLER/THEO VOGLER, Internationaler Kommentar zur EMRK, Art. 6 N. 340), denn der Anspruch steht nicht nur ihm, sondern (auch) der Öffentlichkeit zu (MANFRED NOWAK, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 14 N. 30 f.). Der Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündung gilt daher auch dann, wenn das vorausgegangene Strafverfahren nicht öffentlich durchgeführt wurde (JOCHEN FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK-Kommentar, 1996, Art. 6 N. 119), denn die möglichen Einschränkungen des öffentlichkeitsgrundsatzes betreffen grundsätzlich nur die Verhandlungen, nicht aber die öffentliche Verkündung des Urteils (HERBERT MIEHSLER/THEO VOGLER, a.a.O., N. 340). Berechtigten entgegenstehenden privaten oder öffentlichen Interessen kann gegebenenfalls durch Kürzung oder Anonymisierung ausreichend Rechnung getragen werden (MANFRED NOWAK/CHRISTOPH SCHWAIGHOFER, Das Recht auf öffentliche Urteilsverkündung in Österreich, in: EuGRZ 1985, S. 732).
Es genügt daher im Lichte von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 UNO-Pakt II, wenn die Verwaltung den im Verwaltungsstrafverfahren ausgefällten Strafbescheid für einige Zeit auf der Kanzlei zur Einsicht durch Interessierte auflegt oder -- wie hier -- einem Berechtigten auf besonderes Ersuchen hin Einsicht in einen Strafbescheid gewährt. Es besteht indessen kein Anspruch auf Aushändigung einer Kopie.