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Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Nationales Recht
Ausgangsrechtsstreitigkeiten
Rechtssache Baumbast
Rechtssache R
Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit der ersten beiden Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Vorbringen der Beteiligten
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur zweiten Frage
Vorbringen der Beteiligten
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur dritten Frage
Vorbringen der Beteiligten
Würdigung durch den Gerichtshof
Kosten
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Michelle Ammann, A. Tschentscher
 
Urteil
 
des Gerichtshofes
 
17. September 2002
 
In der Rechtssache
 
-- C-413/99 --  
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Immigration Appeal Tribunal (Vereinigtes Königreich) in den bei diesem anhängigen Rechtsstreitigkeiten
 
Baumbast und R
 
gegen
 
Secretary of State for the Home Department
 
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 18 EG und Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)
 
erlässt
 
Der Gerichtshohf unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodriguez Iglesias, des Kammerpräsidenten P. Jann, der Kammerpräsidentinnen F. Macken (Berichterstatterin) und N. Colneric, des Kammerpräsidenten S. von Bahr sowie der Richter C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, J.-P. Puissochet, M. Wathelet, V. Skouris, J. N. Cunha Rodrigues und C. W. A. Timmermans, Generalanwalt: L. A. Geelhoed Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
 
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
 
von Wolfgang Baumbast, Maria Belen Baumbast, Maria Fernanda Sarmiento und Idanella Baumbast, vertreten durch N. Blake und L. Fransman, QC, beauftragt durch M. Davidson, Solicitor, und von R, vertreten durch N. Blake und S. Harrison, Barrister, beauftragt durch B. Andonian, Solicitor, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand von P. Saini, Barrister, der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und B. Muttelsee-Schön als Bevollmächtigte, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch N. Yerrell und C. O'Reilly als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Wolfgang Baumbast, Maria Belen Baumbast, Maria Fernanda Sarmiento, Idanella Baumbast, R, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission in der Sitzung vom 6. März 2001,
 
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juli 2001, folgendes
 
 
Urteil
 
1. Das Immigration Appeal Tribunal hat mit Beschluss vom 28. Mai 1999, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Oktober 1999, gemäß Artikel 234 EG vier Fragen nach der Auslegung von Artikel 18 EG und Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten, in denen zum einen Wolfgang Baumbast, Maria Belen Baumbast, Maria Fernanda Sarmiento und Idanella Baumbast (im Folgenden: Familie Baumbast) und zum anderen R gegen den Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Ablehnung von Aufenthaltserlaubnissen für das Vereinigte Königreich geklagt haben.
 
Rechtlicher Rahmen
 
Gemeinschaftsrecht
 
3. Artikel 17 EG lautet:
    "(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht.
    (2) Die Unionsbürger haben die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten."
4. Gemäß Artikel 18 Absatz 1 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
5. Die Artikel 10 bis 12 der Verordnung Nr. 1612/68 lauten:
    "Artikel 10
    (1) Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit Wohnung nehmen:
    a) sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird;
    b) seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt.
    (2) Die Mitgliedstaaten begünstigen den Zugang aller nicht in Absatz 1 genannten Familienangehörigen, denen der betreffende Arbeitnehmer Unterhalt gewährt oder mit denen er im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft lebt.
    (3) Voraussetzung für die Anwendung der Absätze 1 und 2 ist, dass der Arbeitnehmer für seine Familie über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht; diese Bestimmung darf nicht zu Diskriminierungen zwischen den inländischen Arbeitnehmern und den Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten führen.
    Artikel 11
    Der Ehegatte eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder eine selbständige Tätigkeit ausübt, sowie die Kinder dieses Staatsangehörigen, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen er Unterhalt gewährt, haben, selbst wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, das Recht, im gesamten Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats irgendeine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben.
    Artikel 12
    Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.
    Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen."
6. Nach Artikel 1 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180, S. 26) gewähren die Mitgliedstaaten "den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, sowie deren Familienangehörigen nach der Definition von Absatz 2 dieses Artikels unter der Bedingung das Aufenthaltsrecht, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen".
7. Gemäß Artikel 1 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie 90/364 gelten die Existenzmittel nach Unterabsatz 1 dieser Bestimmung als ausreichend, wenn sie den Betrag übersteigen, unterhalb dessen der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen aufgrund der persönlichen Situation des Antragstellers und gegebenenfalls der Situation der nach Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie aufgenommenen Personen Sozialhilfe gewähren kann.
8. Ist dieser Unterabsatz 2 nicht anwendbar, so gelten nach Unterabsatz 3 der Bestimmung die Existenzmittel des Antragstellers als ausreichend, wenn sie die Mindestrente der Sozialversicherung des Aufnahmemitgliedstaats übersteigen.
9. Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 90/364 bestimmt:
    "Bei dem Aufenthaltsberechtigten dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit in einem anderen Mitgliedstaat Wohnung nehmen:
    a) sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird;
    b) seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt."
10. Gemäß Artikel 3 der Richtlinie 90/364 besteht das Aufenthaltsrecht, solange die Berechtigten die Bedingungen des Artikels 1 der Richtlinie erfüllen.
Nationales Recht
 
11. Section 7 (1) des Immigration Act 1988 (Zuwanderungsgesetz von 1988) sieht vor:
    "Die Bestimmungen des Immigration Act 1971 über die Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich oder zum Aufenthalt dort gelten nicht für Personen, die aus gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, auf die sie sich unmittelbar berufen können, oder aus nach Section 2 (2) des European Communities Act 1972 [Gesetz über die Europäischen Gemeinschaften von 1972] erlassenen Bestimmungen einen Anspruch auf Einreise und Verbleib im Vereinigten Königreich haben."
12. Artikel 3 der Immigration (European Economic Area) Order 1994 (Verordnung von 1994 über die Einreise aus dem europäischen Wirtschaftsraum, SI 1994, 1895, im Folgenden: EEA Order) legt fest, dass Staatsangehörigen einer Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) und ihren Familienangehörigen auf einfache Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses die Einreise in das Vereinigte Königreich zu gestatten ist.
13. Nach Artikel 4 (1) der EEA Order darf sich ein "Berechtigter" ("qualified person") im Vereinigten Königreich so lange aufhalten, wie er zum Kreis der Berechtigten gehört. Nach Artikel 4 (2) der EEA Order haben seine Familienangehörigen einschließlich des Ehegatten das gleiche Recht.
14. Nach Artikel 6 der EEA Order gehören zu diesen "Berechtigten" u.a. die Staatsangehörigen einer Vertragspartei des EWR-Abkommens, die im Vereinigten Königreich als Arbeitnehmer tätig sind.
15. Paragraph 255 der United Kingdom Immigration Rules (House of Commons Paper 395) (Vorschriften über die Zuwanderung, die 1994 vom Parlament des Vereinigten Königreichs gebilligt wurden; im Folgenden: Immigration Rules) bestimmt:
    "EWR-Bürger (außer Studenten) und ihre Familienangehörigen, können, wenn sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder einer [sonstigen] Aufenthaltsbescheinigung mit einer Gültigkeit von fünf Jahren sind und gemäß den Bestimmungen der EEA Order 1994 mindestens vier Jahre im Vereinigten Königreich verblieben sind, auf Antrag ihre Aufenthaltserlaubnis oder (gegebenenfalls) eine [sonstige] Aufenthaltsbescheinigung mit einem Vermerk versehen lassen, wonach sie unbefristet im Vereinigten Königreich verbleiben dürfen."
 
Ausgangsrechtsstreitigkeiten
 
Rechtssache Baumbast
 
16. Maria Belen Baumbast, eine kolumbianische Staatsangehörige, ging im Mai 1990 mit dem deutschen Staatsangehörigen Wolfgang Baumbast die Ehe ein. Zu ihrer Familie gehören zwei Töchter; die ältere, Maria Fernanda Sarmiento, ist ein nichteheliches Kind von Frau Baumbast kolumbianischer Staatsangehörigkeit, die jüngere, Idanella Baumbast, besitzt die deutsche und die kolumbianische Staatsangehörigkeit.
17. Wie dem Vorlagebeschluss zu entnehmen ist, sind die Parteien des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf das Vorabentscheidungsersuchen übereingekommen, dass in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht auch Maria Fernanda Sarmiento als Familienangehörige von Herrn Baumbast gelten solle; deshalb wird sie im Vorlagebeschluss als eines der beiden Kinder der Familie Baumbast bezeichnet.
18. Im Juni 1990 wurde den Mitgliedern der Familie Baumbast eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre erteilt. Von 1990 bis 1993 war Herr Baumbast im Vereinigten Königreich zunächst als Arbeitnehmer und dann als Unternehmer erwerbstätig. Nachdem sein eigenes Unternehmen in Konkurs gefallen war und er im Vereinigten Königreich keine hinreichend gut dotierte Arbeitsstelle finden konnte, arbeitete er seit 1993 für deutsche Unternehmen in China und Lesotho. Obgleich Herr Baumbast seither immer wieder Arbeit im Vereinigten Königreich suchte, hat sich seine berufliche Situation bis zum Erlass des Vorlagebeschlusses nicht verändert.
19. Im fraglichen Zeitraum besaßen Herr und Frau Baumbast im Vereinigten Königreich ein Haus; ihre Töchter besuchten dort die Schule. Sie nahmen keine Sozialleistungen in Anspruch und begaben sich zur ärztlichen Betreuung erforderlichenfalls nach Deutschland, da sie dort in vollem Umfang krankenversichert waren.
20. Im Mai 1995 beantragte Frau Baumbast im Vereinigten Königreich für sich und ihre Familienangehörigen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ("indefinite leave to remain"). Im Januar 1996 lehnte der Secretary of State eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für Herrn und Frau Baumbast und ihre Kinder ab.
21. Am 12. Januar 1998 wurde gegen diesen Bescheid Klage zum Immigration Adjudicator erhoben. Dieser stellte fest, dass Herr Baumbast weder Arbeitnehmer sei noch eine allgemeine Aufenthaltsberechtigung nach der Richtlinie 90/364 habe. Hinsichtlich der Kinder entschied er, dass sie ein eigenes Aufenthaltsrecht aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 besäßen. Solange seine Kinder die Rechte aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in Anspruch nehmen könnten, habe allerdings auch Herr Baumbast ein Aufenthaltsrecht. Das Aufenthaltsrecht von Frau Baumbast ergebe sich aus der Pflicht der Mitgliedstaaten aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68, dafür zu sorgen, dass Kinder im Aufnahmemitgliedstaat unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilnehmen könnten.
22. Gegen diese Entscheidung des Immigration Adjudicator legten Herr Baumbast in seinem eigenen Fall und der Secretary of State in den Fällen von Frau Baumbast und den beiden Kindern Berufung zum vorlegenden Gericht ein.
Rechtssache R
 
23. R, Staatsangehörige der Vereinigten Staaten von Amerika, hat aus ihrer ersten Ehe mit einem französischen Staatsangehörigen zwei Kinder mit französischer und amerikanischer Staatsangehörigkeit. Als Ehefrau eines Gemeinschaftsangehörigen, dem die Rechte aus dem EG-Vertrag zustanden und der eine bis Oktober 1995 befristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich besaß, siedelte sie 1990 in das Vereinigte Königreich über.
24. Im September 1992 wurden R und ihr erster Ehemann geschieden. Der Secretary of State unternahm seinerzeit nichts hinsichtlich ihrer ausländerrechtlichen Stellung, und sie wohnte weiterhin im Vereinigten Königreich. Nach der Scheidungsvereinbarung sollten die Kinder für mindestens fünf Jahre ab der Scheidung oder einen anderen von den Parteien einvernehmlich festzulegenden Zeitraum bei ihrer Mutter in England oder Wales bleiben. Nach der Scheidung hatten die Kinder weiterhin regelmäßig Umgang mit ihrem Vater, der weiterhin im Vereinigten Königreich wohnt und arbeitet und sich sowohl in persönlicher als auch in finanzieller Hinsicht mit der Mutter die Verantwortung für ihre Erziehung teilt.
25. Den Akten des Ausgangsverfahrens ist weiter zu entnehmen, dass R während ihres Aufenthalts im Vereinigten Königreich dort ein Haus erwarb und ein Büro für Innenarchitektur gründete, in das sie erhebliche Beträge investierte. 1997 ging sie eine Ehe mit einem britischen Staatsangehörigen ein.
26. Im Oktober 1995 beantragte R für sich und ihre beiden Töchter nach nationalem Recht eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich. Am 3. Dezember 1996 wurde diese den Kindern als Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers gewährt, während der Antrag von R abgelehnt wurde, weil der Secretary of State nicht davon überzeugt war, dass die Lage der Familie so außergewöhnlich sei, dass er von seinem Ermessen in diesem Sinne Gebrauch zu machen hätte. Nach seiner Auffassung waren die Kinder noch so jung, dass sie sich an das Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika gewöhnen könnten, falls sie ihrer Mutter dorthin nachzufolgen hätten.
27. Im Rahmen der Klage zum Immigration Adjudicator gegen den Bescheid des Secretary of State, R entgegen ihrem Antrag keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wurde u.a. die Frage erörtert, ob dieser Bescheid einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch der Kinder, im Vereinigten Königreich erzogen zu werden und sich dort aufzuhalten, oder das Recht auf Familienleben verletze. Der Immigration Adjudicator wies die Klage jedoch ab, wogegen R beim Immigration Appeal Tribunal Berufung einlegte.
 
Vorlagefragen
 
28. Nach Auffassung des Immigration Appeal Tribunal erfordern die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten eine Auslegung des Artikels 18 EG und der Verordnung Nr. 1612/68. Es hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof die nachstehenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Folgende Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen sich auf beide Ausgangsverfahren:
    1. a) Sind Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die selbst Bürger der Europäischen Union sind und eingeschult wurden, während ihr Vater (oder ihre Mutter) sein (ihr) Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er (sie) besitzt, ausübte, nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates berechtigt, sich im Aufnahmestaat aufzuhalten, um dort am allgemeinen Schulunterricht teilzunehmen?
    b) Welche Kriterien müssen die nationalen Behörden anwenden, falls die Antwort auf die vorstehende Frage in Fällen, in denen
    i) die Eltern geschieden sind;
    ii) nur ein Elternteil Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Arbeitnehmer im Aufnahmestaat ist;
    iii) die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen Union sind
    unterschiedlich ausfallen kann?
    2. Ist, sofern die Kinder nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates berechtigt sind, sich im Aufnahmestaat aufzuhalten, um am allgemeinen Schulunterricht teilzunehmen, die Pflicht dieses Staates, "die Bemühungen [zu fördern], durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen", so zu verstehen, dass der Personensorgeberechtigte - sei er Bürger der Europäischen Union oder nicht - berechtigt ist, sich mit den Kindern im Aufnahmestaat aufzuhalten, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, auch wenn
    i) die Eltern geschieden sind oder
    ii) der Vater, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Arbeitnehmer im Aufnahmestaat ist?
Folgende Vorlagefragen beziehen sich nur auf die Sache Baumbast:
    3.a) Genießt Herr Baumbast, so wie sein Fall liegt, nach Artikel 18 EG (früher Artikel 8a EG-Vertrag) als Bürger der Europäischen Union ein unmittelbar wirksames Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, wenn er keine Aufenthaltsrechte als Arbeitnehmer nach Artikel 39 EG (früher Artikel 48 EG-Vertrag) mehr besitzt und auch nach keiner anderen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts zum Aufenthalt im Aufnahmestaat berechtigt ist?
    b) Falls ja, folgt daraus, dass seine Frau und die Kinder abgeleitete Rechte auf Aufenthalt, Arbeitsaufnahme u.a. geltend machen können?
    c) Falls ja, lässt sich dies auf die Artikel 11 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 oder eine andere (gegebenenfalls welche) Bestimmung des Gemeinschaftsrechts stützen?
    4. a) Behalten die Familienangehörigen eines Bürgers der Europäischen Union, wenn die vorstehende Frage zu seinen Ungunsten beantwortet wird, die abgeleiteten Rechte, die sie in ihrer Eigenschaft als Angehörige ursprünglich erworben hatten, als sie mit einem Arbeitnehmer im Vereinigten Königreich Aufenthalt nahmen?
    b) Falls ja, welche Voraussetzungen sind dann maßgebend?
 
29. Wie aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hervorgeht, wurde in der Zeit zwischen dem Beginn des Ausgangsverfahrens und dem Vorabentscheidungsersuchen sowohl Frau Baumbast und ihren beiden Kindern als auch R eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich erteilt. Im Fall von R geschah dies, auch wenn das vorlegende Gericht dazu nichts ausgeführt hat, vermutlich wegen ihrer Eheschließung mit einem britischen Staatsangehörigen. Nur Herr Baumbast hat somit noch keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten.
30. Daher ist zu prüfen, ob die ersten beiden Vorlagefragen des nationalen Gerichts zulässig sind.
31. Das in Artikel 234 EG vorgesehene Verfahren ist ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, in dem der Gerichtshof diejenigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts auslegt, die die Gerichte zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen (Urteil vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89, Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Randnr. 18).
32. Folglich ist es allein Sache der nationalen Gerichte, die mit dem Rechtsstreit befasst sind und ihn zu entscheiden haben, im Einzelfall sowohl die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Rechtserheblichkeit der Fragen, die sie dem Gerichtshof stellen, zu beurteilen. Wenn die von den nationalen Gerichten gestellten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts betreffen, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (u.a. Urteil Gmurzynska-Bscher, Randnrn. 19 und 20).
33. Im Rahmen der in Artikel 234 EG vorgesehenen Verteilung der richterlichen Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof entscheidet dieser daher im Wege der Vorabentscheidung, ohne dass er grundsätzlich nach den Umständen fragen müsste, die die nationalen Gerichte zu ihren Vorlagefragen veranlassen und unter denen sie die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, um deren Auslegung sie den Gerichtshof ersuchen, anwenden wollen (Urteil Gmurzynska-Bscher, Randnr. 22).
34. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn feststünde, dass das Verfahren des Artikels 234 EG zweckwidrig angewendet wurde und der Gerichtshof in Wirklichkeit ohne Vorliegen eines echten Rechtsstreits zu einer Entscheidung veranlasst werden soll, oder wenn offensichtlich wäre, dass die Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt worden ist, im Ausgangsverfahren weder unmittelbar noch mittelbar anwendbar ist (in diesem Sinne Urteile Gmurzynska-Bscher, Randnr. 23, und vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-130/95, Giloy, Slg. 1997, I-4291, Randnr. 22).
35. Zwar wurden Frau Baumbast und ihren Kindern am 23. Juni 1998, also noch vor Erlass der Entscheidung des vorlegenden Gerichts vom 28. Mai 1999, und zu einem späteren, nicht bekannten Zeitpunkt auch R für das Vereinigte Königreich unbefristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt.
36. Nach den Darlegungen in der mündlichen Verhandlung wurden diese Erlaubnisse aber nach britischem Recht erteilt, ohne dass über die etwaigen gemeinschaftsrechtlichen Ansprüche der Beteiligten entschieden worden wäre.
37. Weiterhin stellen sich die Vorlagefragen in einem echten Rechtsstreit; das vorlegende Gericht hat dem Gerichtshof auch den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen sowie die Gründe erläutert, aus denen ihm die Beantwortung dieser Fragen für den Erlass seiner eigenen Entscheidung notwendig erscheint.
38. Die ersten beiden Fragen des vorlegenden Gerichts sind demnach zulässig.
 
39. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt sind, um dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, und zwar auch dann, wenn die Eltern inzwischen geschieden sind, wenn nur einer der Eltern Unionsbürger und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist oder wenn die Kinder selbst nicht Unionsbürger sind.
Vorbringen der Beteiligten
 
40. R und die Familie Baumbast tragen vor, dass in den Ausgangsfällen, auch wenn die in den Artikeln 10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 niedergelegten Rechte auf Aufenthalt und Schulbesuch im Aufnahmemitgliedstaat nicht schrankenlos gälten, die Voraussetzungen für die Ausübung der Rechte aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 erfüllt seien. So spreche im Fall von R nichts dafür, dass die Kinder nicht weiterhin zur Familie ihres Vaters gehörten, der nach wie vor im Aufnahmemitgliedstaat arbeite. In der Sache Baumbast ließe sich die Auffassung, dass die Kinder die Voraussetzungen des Artikels 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht länger erfüllten, allenfalls darauf stützen, dass ihr Vater nicht mehr in dem Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig sei. Nach dem Urteil vom 15. März 1989 in den verbundenen Rechtssachen 389/87 und 390/87 (Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723) sei dies aber für den Fortbestand ihrer Rechte unerheblich.
41. Auch die Regierung des Vereinigten Königreichs und die deutsche Regierung sind der Ansicht, dass die Rechte des Kindes eines Wanderarbeitnehmers aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 grundsätzlich fortbestünden, selbst wenn die Eltern den Aufnahmemitgliedstaat verließen.
42. Die deutsche Regierung meint indessen, dass Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nach dem Urteil Echternach und Moritz dem Kind ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nur dann gewähre, wenn es seine Ausbildung nicht im Herkunftsmitgliedstaat fortsetzen könnte.
43. Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt speziell zum Fall von R vor, dass deren Kinder, obgleich ihr Vater und R inzwischen geschieden seien, nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 deshalb zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich berechtigt seien, weil ihr Vater weiterhin seine Rechte als Wanderarbeitnehmer im Vereinigten Königreich wahrnehme.
44. Die Kommission führt zur Sache R aus, dass die Kinder trotz der Scheidung ihrer Eltern weiterhin ein Aufenthaltsrecht aus Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 und einen Anspruch auf Schulbesuch aus Artikel 12 der Verordnung hätten, solange nur einer der Eltern im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin Wanderarbeitnehmer sei.
45. Was den Fall der Familie Baumbast angehe, so gelte nach dem Urteil Echternach und Moritz das Kind eines Wanderarbeitnehmers auch dann weiterhin als dessen Familienangehöriger im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68, wenn seine Familie in den Herkunftsmitgliedstaat zurückkehre, während es selbst im Aufnahmemitgliedstaat verbleibe, um dort eine Ausbildung fortzusetzen, die es im Herkunftsmitgliedstaat nicht fortführen könnte.
46. Auch wenn den Ausgangssachverhalt des Urteils Echternach und Moritz die Besonderheit gekennzeichnet habe, dass das Kind sein Studium im Herkunftsmitgliedstaat nicht hätte fortsetzen können, habe der Gerichtshof darin indessen eine weite Auslegung von Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 gewählt. Von jenem Ausgangssachverhalt unterscheide sich die Lage der Kinder der Familie Baumbast nur unwesentlich, so dass auf den ersten Blick nichts für ein anderes Ergebnis spreche. Wenn der Gerichtshof an der in jenem Urteil gewählten Auslegung festhalte, dürften sich somit die Kinder der Familie Baumbast weiterhin im Vereinigten Königreich aufhalten, um dort ihre Rechte aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 auszuüben.
Würdigung durch den Gerichtshof
 
47. Um die erste Frage des vorlegenden Gerichts sachgerecht beantworten zu können, ist zwischen den beiden Fallgestaltungen, auf deren Grundlage es sie stellt, zu unterscheiden.
48. Nach Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68, der den Begriff des Wanderarbeitnehmers umschreibt, ist jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ungeachtet seines Wohnorts berechtigt, eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzunehmen und auszuüben.
49. Was zunächst die Sache Baumbast anbelangt, so unterscheidet sie sich, wie aus den Akten hervorgeht, von der Sache R darin, dass Herr Baumbast, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, zwar mehrere Jahre im Vereinigten Königreich unselbständig und selbständig berufstätig war und dort weiterhin wohnt, aber nicht mehr dort arbeitet. Vor diesem Hintergrund fragt das vorlegende Gericht, ob seine Kinder auf der Grundlage von Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 auch weiterhin im Vereinigten Königreich die Schule besuchen dürfen.
50. Hierfür ist von Belang, dass die Verwirklichung der von der Verordnung Nr. 1612/68 bezweckten Freizügigkeit der Arbeitnehmer unter Wahrung der Freiheit und Menschenwürde es erforderlich macht, die bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des EG-Arbeitnehmers im Aufnahmeland zu schaffen (Urteil vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-308/89, di Leo, Slg. 1990, I-4185, Randnr. 13).
51. Wie der Gerichtshof in Randnummer 21 des Urteils Echternach und Moritz ausgeführt hat, kann diese Integration nur gelingen, wenn das Kind eines EG-Arbeitnehmers die Möglichkeit hat, im Aufnahmeland die Schule zu besuchen und ein Studium zu absolvieren, wie dies in Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ausdrücklich vorgesehen ist, um seine Ausbildung erfolgreich abschließen zu können.
52. Würde das Kind eines Unionsbürgers in einem Fall, wie er in der Sache Baumbast vorliegt, durch Versagung einer Aufenthaltserlaubnis am weiteren Schulbesuch im Aufnahmemitgliedstaat gehindert, so könnte dies den Unionsbürger von der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit gemäß Artikel 39 EG abhalten und bildete damit ein Hemmnis für die tatsächliche Wahrnehmung dieser vom EG-Vertrag gewährleisteten Freiheit.
53. Auch wenn der Gerichtshof im Urteil Echternach und Moritz festgehalten hat, dass das betroffene Kind nach der Rückkehr seines Vaters in den Herkunftsmitgliedstaat dort mangels einer Koordinierung der Schulabschlusszeugnisse sein Studium nicht fortsetzen könnte, wollte er doch gemäß dem mit der Verordnung Nr. 1612/68 verfolgten Ziel einer Integration der Familienangehörigen der Wanderarbeitnehmer vor allem gewährleisten, dass deren Kindern im Aufnahmemitgliedstaat unter Voraussetzungen, die nicht diskriminierend sind, die Schule besuchen und studieren können, um ihre Ausbildung erfolgreich abschließen zu können (siehe auch Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 42/87, Kommission/Belgien, 1988, 5445, Randnr. 10).
54. Würde den Kindern eines Unionsbürgers, die sich in einer Situation wie die Kinder von Herrn Baumbast befinden, der weitere Schulbesuch im Aufnahmemitgliedstaat nur dann gestattet, wenn sie ihn im Mitgliedstaat ihrer Herkunft nicht fortführen könnten, so widerspräche dies nämlich nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Geist von Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68, der das Recht auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht den Kindern des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats gewährt, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats "beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist".
55. Die restriktive Auslegung dieser Vorschrift, die die deutsche Regierung vorschlägt, ist deshalb abzulehnen.
56. Für die Antwort auf die erste Frage spielt es keine Rolle, dass die Kinder selbst nicht Unionsbürger sind. Nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 gelten nämlich die Verwandten eines EG-Arbeitnehmers in absteigender Linie, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit als seine Familienangehörige; ihnen ist deshalb nach Artikel 12 der Verordnung Zugang zum allgemeinen Unterricht zu gewähren.
57. Das Recht des "Ehegatte[n] sowie [der] Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird", auf Wohnungnahme bei dem Wanderarbeitnehmer ist weiter dahin auszulegen, dass es sowohl den Abkömmlingen des Arbeitnehmers als auch denen seines Ehegatten zusteht. Eine enge Auslegung dieser Bestimmung, wonach nur die gemeinsamen Kinder des Wanderarbeitnehmers und seines Ehegatten zum Aufenthalt bei ihnen berechtigt wären, liefe nämlich dem oben genannten Zweck der Verordnung Nr. 1612/68 zuwider.
58. Was sodann die Sache R angeht, so genießen deren Kinder als Familienangehörige eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, ein Aufenthaltsrecht und ein Recht auf Fortsetzung ihres Schulbesuchs aus den Artikeln 10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68.
59. Wie oben in Randnummer 50 ausgeführt, sollen diese Bestimmungen nämlich die Integration des Wanderarbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmemitgliedstaat erleichtern, um das mit der Verordnung Nr. 1612/68 verfolgte Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer unter Wahrung der Freiheit und der Menschenwürde zu verwirklichen.
60. Auch wenn R und ihr erster Ehemann inzwischen geschieden sind, ist dieser doch, wie sich aus den Akten ergibt, weiterhin im Vereinigten Königreich unselbständig beschäftigt und damit im Sinne der Artikel 1 und 10 der Verordnung Nr. 1612/68 ein Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist.
61. Somit folgt aus der Verordnung Nr. 1612/68, insbesondere ihren Artikeln 10 und 12, unmissverständlich, dass die Kinder des ersten Ehemanns von R weiterhin dazu berechtigt sind, im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen und dort unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats ihren Schulbesuch fortzusetzen.
62. Dass die Kinder des ersten Ehemanns von R nicht ständig bei ihm wohnen, berührt ihre Rechte aus den Artikeln 10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht. Wenn Artikel 10 der Verordnung bestimmt, dass der Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers bei diesem Wohnung nehmen darf, bedeutet dies nicht, dass der Angehörige dort ständig wohnen muss, sondern - wie sich aus Artikel 10 Absatz 3 ergibt - lediglich, dass die Wohnung, über die der Arbeitnehmer verfügt, normalen Anforderungen an die Aufnahme seiner Familie entsprechen muss (Urteil vom 13. Februar 1985 in der Rechtssache 267/83, Diatta, Slg. 1985, 567, Randnr. 18).
63. Auf die erste Frage ist deshalb zu antworten, dass die Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt sind, um dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen geschieden sind, dass nur einer von ihnen Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist und dass die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen Union sind, ist dabei ohne Belang.
 
Zur zweiten Frage
 
64. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen ist, dass er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist.
Vorbringen der Beteiligten
 
65. Nach Auffassung von R und der Familie Baumbast sind die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen weit auszulegen, um eine effektive Wahrnehmung der durch sie gewährten Rechte zu ermöglichen; das gelte besonders dann, wenn ein so grundlegendes Recht wie das auf Familienleben in Frage stehe. Wenn minderjährige Kinder ihr ganzes Leben bei ihrer Mutter verbracht hätten und weiterhin bei ihr lebten, so werde damit, dass während ihrer Schulausbildung der Mutter ein Aufenthaltsrecht verweigert werde, in einer Weise in die Rechte der Kinder eingegriffen, die deren Ausübung sinnlos mache. Dies sei zugleich ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Familienleben, der gegen Artikel 8 der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoße.
66. Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die deutsche Regierung und die Kommission schlagen vor, die zweite Frage zu verneinen. Aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 lasse sich kein Aufenthaltsrecht für Eltern mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands ableiten. Deren Rechte unterlägen den Bedingungen, die für die Wahrnehmung der Freizügigkeit unmittelbar Geltung hätten. Nach einer Scheidung oder dem Ende der Betätigung des die Unionsbürgerschaft besitzenden Ehegatten als Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat gewähre das Gemeinschaftsrecht dem einem Drittland angehörenden Ehepartner kein Aufenthaltsrecht, das sich aus dem Recht zur Erziehung der Kinder ergäbe.
67. Die Regierung des Vereinigten Königreichs meint, wenn der Aufnahmemitgliedstaat Kindern den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten habe, damit sie dort nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 am allgemeinen Unterricht teilnehmen könnten, so sei seine Verpflichtung zur Förderung der Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden solle, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen, nicht dahin auszulegen, dass er dem Erziehungsberechtigten den Aufenthalt bei ihnen erlauben müsse. Wenn und soweit nachgewiesen werde, dass mit der Versagung eines solchen Aufenthaltsrechts ungerechtfertigt in das durch Artikel 8 EMRK geschützte Familienleben eingegriffen würde, könne das Home Office (Innenministerium) dem die Personensorge wahrnehmenden Elternteil unter Abweichung von den Immigration Rules ausnahmsweise eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Würdigung durch den Gerichtshof
 
68. Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 und die sich daraus ergebenden Rechte sind nach Maßgabe des Aufbaus und des Zwecks dieser Verordnung auszulegen. Aus deren Gesamtzusammenhang folgt, dass der Rat für die erleichterte Freizügigkeit der Familienangehörigen der Arbeitnehmer zum einen berücksichtigt hat, welche Bedeutung das Zusammenleben mit seiner Familie für den Arbeitnehmer aus menschlicher Sicht hat, und zum anderen die in jeder Hinsicht bestehende Bedeutung einer Integration des Arbeitnehmers und seiner Familie im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage der Gleichbehandlung mit dessen Staatsangehörigen (in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 1989 in der Rechtssache 249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1263, Randnr. 11).
69. Wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, soll Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 insbesondere sicherstellen, dass die Kinder eines Wanderarbeitnehmers auch dann, wenn dieser nicht mehr im Aufnahmemitgliedstaat als Arbeitnehmer beschäftigt ist, ihre schulische Ausbildung in diesem Mitgliedstaat absolvieren und gegebenenfalls auch abschließen können.
70. Zudem können nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Rechte der Familienangehörigen eines EG-Arbeitnehmers aus der Verordnung Nr. 1612/68 ebenso wie der Status als Wanderarbeitnehmer selbst unter bestimmten Umständen auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortgelten (in diesem Sinne Urteile Echternach und Moritz, Randnr. 21, und vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691, Randnr. 32).
71. In Fällen wie denen der Ausgangsverfahren, in denen die Kinder nach Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zur Fortsetzung ihrer Schulausbildung im Aufnahmemitgliedstaat berechtigt sind, während die Eltern, die die Personensorge für sie wahrnehmen, ihre Aufenthaltsrechte - im einen Fall wegen Scheidung vom Wanderarbeitnehmer und im anderen Fall, weil der ehemals im Aufnahmemitgliedstaat als Wanderarbeitnehmer beschäftigte Elternteil dort nicht mehr arbeitet - zu verlieren drohen, könnten die Kinder offensichtlich das Recht, das ihnen der Gemeinschaftsgesetzgeber zuerkannt hat, ebenfalls verlieren, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben.
72. Im Übrigen ist die Verordnung Nr. 1612/68 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Licht des Rechts auf Achtung des Familienlebens in Artikel 8 EMRK auszulegen. Dieses Recht gehört zu den Grundrechten, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes vom Gemeinschaftsrecht anerkannt werden (Urteil Kommission/Deutschland, Randnr. 10).
73. Das dem Kind eines Wanderarbeitnehmers in Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zuerkannte Recht, im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin unter den bestmöglichen Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen, umfasst unabdingbar das Recht, dass sich die die Personensorge tatsächlich wahrnehmende Person bei ihm aufhält und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während der Ausbildung des Kindes mit diesem zusammen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu wohnen. Würde dem Elternteil, der effektiv die Personensorge für ein Kind ausübt, das sein Recht auf weitere Teilnahme am Unterricht im Aufnahmemitgliedstaat wahrnimmt, die Aufenthaltserlaubnis versagt, so würde dieses Recht verletzt.
74. Zu dem Vorbringen der Kommission, aus Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 lasse sich kein Aufenthaltsrecht einer Person ableiten, die nicht Kind eines Wanderarbeitnehmers sei, weil jedes Recht aus dieser Bestimmung unabdingbar gerade diesen Status voraussetze, ist darauf hinzuweisen, dass angesichts des Zusammenhangs und der Zielsetzung der Verordnung Nr. 1612/68 und insbesondere ihres Artikels 12 dieser nicht eng ausgelegt (in diesem Sinne Urteil Diatta, Randnr. 17) und ihm keinesfalls die praktische Wirksamkeit genommen werden darf.
75. Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen ist, dass er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist.
 
Zur dritten Frage
 
76. Mit dem ersten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt, dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen kann, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Artikel 18 EG ergibt.
Vorbringen der Beteiligten
 
77. Herr Baumbast trägt vor, dass das Recht aus Artikel 18 EG zum freien Aufenthalt in dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Beschränkungen unterliege und im EG-Vertrag festgelegt sei, nehme ihm nicht seine unmittelbare Wirkung. Artikel 18 EG sei dahin auszulegen, dass er auch weiterhin das Recht habe, im Vereinigten Königreich zu wohnen, auch wenn er außerhalb der Union arbeite. Diese Anwendung von Artikel 18 EG ermögliche eine Wahrnehmung des im EG-Vertrag gewährten Freizügigkeitsrechts auf den bloßen Nachweis der Staatsangehörigkeit hin, aber halte sich auf der Linie der schon vorher bestehenden Rechtsvorschriften in diesem Bereich.
78. Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die deutsche Regierung machen geltend, dass sich aus Artikel 18 Absatz 1 EG unmittelbar kein Aufenthaltsrecht ableiten lasse. Die in Absatz 1 genannten Beschränkungen und Bedingungen zeigten, dass er nicht als selbständige Anspruchsgrundlage konzipiert sei.
79. Die Kommission führt aus, trotz der politischen und rechtlichen Bedeutung von Artikel 18 EG verdeutliche bereits der Wortlaut der Bestimmung, insbesondere der des Absatzes 1, deren Grenzen. Nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts unterliege das in Artikel 18 EG normierte Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht den bereits bestehenden Vorschriften des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts, die festlegten, welche Personengruppen diese Rechte besäßen. Diese Rechte blieben davon abhängig, dass eine Erwerbstätigkeit oder hinreichende wirtschaftliche Mittel vorlägen. Unter der Prämisse, auf der die dritte Vorlagefrage beruhe, nämlich dass Herr Baumbast keine andere gemeinschaftsrechtliche Anspruchsgrundlage für ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich geltend machen könne, könne ihm nach dem gegenwärtigen Rechtsstand Artikel 18 EG nicht zugute kommen.
Würdigung durch den Gerichtshof
 
80. Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei dem Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, um einen Anspruch, der sich unmittelbar aus dem EG-Vertrag oder, je nach den Umständen des Falls, aus den zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften ergibt (z.B. Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Randnr. 31).
81. Auch wenn der Gerichtshof vor Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union ausgeführt hatte, dass das unmittelbar aus dem EG-Vertrag fließende Aufenthaltsrecht die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne der Artikel 48, 52 oder 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG) voraussetzt (Urteil vom 5. Februar 1991 in der Rechtssache C-363/89, Roux, Slg. 1991, I-273, Randnr. 9), wurde doch seither die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen und durch Artikel 18 Absatz 1 EG jedem Unionsbürger ein Recht zuerkannt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
82. Nach Artikel 17 Absatz 1 EG ist Unionsbürger jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Dabei ist die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2001 in der Rechtssache C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Randnr. 31).
83. Nach dem Vertrag über die Europäische Union ist es im Übrigen nicht erforderlich, dass die Unionsbürger einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, um in den Genuss der im Zweiten Teil des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft vorgesehenen Rechte zu kommen. Der Wortlaut des Vertrages über die Europäische Union enthält auch nichts, was dafür spräche, dass Unionsbürger, die zur Ausübung einer unselbständigen Beschäftigung in einen anderen Mitgliedstaat übergesiedelt sind, die ihnen vom EG-Vertrag als Unionsbürgern gewährten Rechte verlören, wenn diese Beschäftigung endet.
84. Was namentlich das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nach Artikel 18 Absatz 1 EG angeht, so wird es jedem Unionsbürger durch eine klare und präzise Vorschrift des EG-Vertrags unmittelbar zuerkannt. Allein deshalb, weil er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats und damit Unionsbürger ist, ist Herr Baumbast daher berechtigt, sich auf Artikel 18 Absatz 1 EG zu berufen.
85. Zwar besteht das Recht der Unionsbürger zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nur vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in seinen Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.
86. Die Anwendung der Beschränkungen und Bedingungen, die nach Artikel 18 Absatz 1 EG für die Wahrnehmung dieses Aufenthaltsrechts bestehen, unterliegt jedoch der gerichtlichen Kontrolle. Diese Beschränkungen und Bedingungen stehen daher nicht dem entgegen, dass Artikel 18 Absatz 1 EG den Einzelnen Rechte verleiht, die sie gerichtlich geltend machen können und die die innerstaatlichen Gerichte zu wahren haben (in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 1974 in der Rechtssache 41/74, Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Randnr. 7).
87. Was die im abgeleiteten Recht vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen angeht, so können die Mitgliedstaaten nach Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 90/364 von Angehörigen eines Mitgliedstaats, die das Recht zum Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet wahrnehmen wollen, verlangen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.
88. Was die Anwendung dieser Bedingungen in der Sache Baumbast anbelangt, so ergibt sich aus den Akten, dass Herr Baumbast als Arbeitnehmer deutscher Unternehmen in Drittländern tätig ist und dass weder er noch seine Familie im Aufnahmemitgliedstaat Sozialhilfe in Anspruch genommen haben. Damit erfüllt Herr Baumbast unstreitig die in der Richtlinie 90/364 statuierte Bedingung ausreichender Existenzmittel.
89. Was die weitere Bedingung einer Krankenversicherung betrifft, so sind nach den Akten Herr Baumbast und seine Familienangehörigen in Deutschland in vollem Umfang krankenversichert. Der Immigration Adjudicator ist offenbar davon ausgegangen, dass diese Krankenversicherung keine Notversorgung im Vereinigten Königreich abdecken könne. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die Richtigkeit dieser Feststellung im Licht der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), zu überprüfen. Dabei ist insbesondere Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 zu beachten, wonach Arbeitnehmer oder Selbständige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und der ärztlichen Behandlung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ihres Wohnsitzes bedürfen, für Rechnung des zuständigen Staates Sachleistungen vom Träger des Wohnmitgliedstaats beanspruchen können.
90. Jedenfalls beruhen die in Artikel 18 EG genannten und in der Richtlinie 90/364 festgelegten Beschränkungen und Bedingungen auf dem Gedanken, dass die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger von der Wahrung der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden kann. So heißt es in der vierten Begründungserwägung der Richtlinie 90/364, dass die Aufenthaltsberechtigten die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht "über Gebühr" belasten dürfen.
91. Allerdings sind diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden. Das bedeutet, dass unter diesem Gesichtspunkt erlassene nationale Maßnahmen zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein müssen (in diesem Sinne Urteil vom 2. August 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-259/91, C-333/91 und C-332/91, Alluè u.a., Slg. 1993, I-4309, Randnr. 15).
92. Für die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Ausgangsfall ist von Belang, dass erstens Herr Baumbast unstreitig über ausreichende Existenzmittel im Sinne der Richtlinie 90/364 verfügt, dass er zweitens mehrere Jahre lang, zunächst als Arbeitnehmer und dann als Selbständiger, im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet und somit rechtmäßig gewohnt hat, dass drittens in dieser Zeit auch seine Familie im Aufnahmemitgliedstaat wohnte und nach Beendigung seiner dortigen unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Staat verblieben ist, dass viertens weder Herr Baumbast noch seine Familienangehörigen die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belastet haben und dass schließlich sowohl Herr Baumbast als auch seine Familie in einem anderen Mitgliedstaat in vollem Umfang krankenversichert sind.
93. Damit wäre es ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Aufenthaltsrecht aus Artikel 18 Absatz 1 EG, wenn Herrn Baumbast dessen Ausübung in Anwendung der Richtlinie 90/364 mit der Begründung versagt würde, dass seine Krankenversicherung eine Notversorgung im Aufnahmemitgliedstaat nicht abdecke.
94. Auf den ersten Teil der dritten Frage ist deshalb zu antworten, dass ein Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt, dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen kann, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 EG ergibt. Die Wahrnehmung dieses Rechts kann den in dieser Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden, jedoch haben die zuständigen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte dafür Sorge zu tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
95. Mit dem zweiten und dritten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, falls Herrn Baumbast ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Artikel 18 Absatz 1 EG zustünde, auch seine Familienangehörigen ein Aufenthaltsrecht auf dieser Rechtsgrundlage genießen. Angesichts der Antworten auf die ersten beiden Fragen braucht auf diese beiden Teile der dritten Frage nicht mehr geantwortet zu werden.
96. Wegen der Antwort auf den ersten Teil der dritten Frage braucht auch die vierte Frage nicht mehr beantwortet zu werden.
 
Kosten
 
97. Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der deutschen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof auf die ihm vom Immigration Appeal Tribunal mit Beschluss vom 28. Mai 1999 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Die Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort ein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um dort gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen geschieden sind, dass nur einer von ihnen Bürger der Europäischen Union und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist und dass die Kinder selbst nicht Bürger der Europäischen Union sind, ist dabei ohne Belang.
 
2. Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ist in einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, um dort, wie in diesem Artikel vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dahin auszulegen, dass er dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist.
 
3. Ein Bürger der Europäischen Union, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer mehr besitzt, kann dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Artikel 18 Absatz 1 EG ergibt. Die Wahrnehmung dieses Rechts kann den in dieser Bestimmung genannten Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden, jedoch haben die zuständigen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte dafür Sorge zu tragen, dass bei der Anwendung dieser Beschränkungen und Bedingungen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
 
Rodriguez Iglesias, Jann, Macken, Colneric, Von Bahr, Gulmann, Edward, La Pergola, Puissochet, Wathelet, Skouris, Cunha Rodrigues, Timmermans
 
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. September 2002.
R. Grass (Der Kanzler), G. C. Rodriguez Iglesias (Der Präsident)