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BGer 2C_354/2020 vom 30.10.2020
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
 
2C_354/2020
 
 
Urteil vom 30. Oktober 2020
 
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Seiler, Präsident,
 
Bundesrichter Donzallaz,
 
Bundesrichterin Hänni,
 
Gerichtsschreiber Mösching.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.A.________,
 
Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Fanny De Weck,
 
gegen
 
Migrationsamt des Kantons Thurgau, Langfeldstrasse 53a, 8500 Frauenfeld,
 
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, Regierungsgebäude, 8510 Frauenfeld.
 
Gegenstand
 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung,
 
Beschwerde gegen das Urteil des
 
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
 
vom 12. Februar 2020 (VG.2019.22/E).
 
 
Sachverhalt:
 
 
A.
 
A.A.________, geboren 1976, Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina, reiste am 15. Oktober 1990 in die Schweiz ein und erhielt die Niederlassungsbewilligung. Am 11. Februar 1998 heiratete sie in Bosnien und Herzegowina ihren Landsmann B.A.________. Nach seiner Einreise in die Schweiz am 1. November 1999 wurde ihm am 20. Juli 2000 im Rahmen des Familiennachzugs die Aufenthaltsbewilligung erteilt. Aus der gemeinsamen Ehe gingen die zwei Söhne C.A.________, geboren 2002, und D.A.________, geboren 2010, hervor. Beiden wurde die Niederlassungsbewilligung erteilt. A.A.________ beging während ihres Aufenthalts in der Schweiz wiederholt Straftaten.
- Strafverfügung vom 4. Juli 2000: Mithilfe bei der rechtswidrigen Einreise ihres damaligen Ehemanns und Erleichtern des rechtswidrigen Aufenthalts; Busse von Fr. 500.--.
- Strafverfügung vom 21. Juli 2003: Nichtabgabe von Ausweisen und Kontrollschildern trotz behördlicher Aufforderung; Busse von Fr. 300.--.
- Strafverfügung vom 3. Mai 2004: Grobe Verkehrsverletzung, Überschreiten der Geschwindigkeit; Busse von Fr. 500.--.
- Strafverfügung vom 27. Mai 2005: Nichtabgabe von Ausweisen und Kontrollschildern trotz behördlicher Aufforderung; Busse von Fr. 500.--.
- Strafverfügung vom 22. Mai 2007: Missachtung einer behördlichen Verfügung im Betreibungsverfahren; Busse von Fr. 300.--.
- Strafverfügung vom 25. Oktober 2007: Widerhandlung SVG; Busse von Fr. 60.--.
- Strafbefehl vom 23. September 2008: Nichtabgabe von Ausweisen und Kontrollschildern trotz behördlicher Aufforderung; Geldstrafe von 10 Tagessätzen und Busse von Fr. 700.--.
- Strafbefehl vom 23. Februar 2012: Widerhandlung gegen das AHV-Gesetz, Nichtablieferung von Lohnausweisen: Busse von Fr. 300.--.
- Strafbefehl vom 11. März 2013, Mehrfacher Missbrauch von Ausweisen und Kontrollschildern; Geldstrafe von 20 Tagessätzen.
- Strafbefehl vom 21. Januar 2014: Vergehen gegen das AHV-Gesetz, Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen in den Jahren 2010 und 2011; Geldstrafe von 40 Tagessätzen und Busse von Fr. 800.--.
- Strafbefehl vom 4. April 2017: Missbrauch von Ausweisen und Schildern; Geldstrafe von 10 Tagessätzen.
 
B.
 
B.a. Im Anschluss an die Strafverfügung vom 4. Juli 2000 wurde sie am 6. Oktober 2000 ein erstes Mal ausländerrechtlich verwarnt und am 24. Juni 2004 aufgrund der Strafverfügung vom 3. Mai 2004 ein zweites Mal. Am 18. Januar 2012 war A.A.________ beim Betreibungsamt Kreuzlingen zudem mit 36 Betreibungen in der Gesamthöhe von Fr. 51'590.65 und 44 offenen Verlustscheinen im Betrag von total Fr. 53'968.20 verzeichnet. Am 26. Januar 2012 wurden A.A.________ sowie ihr Ehemann zum dritten Mal verwarnt und am 12. Juni 2015 erfolgte eine vierte Verwarnung. Ab dem 26. Juli 2017 leben A.A.________ und B.A.________ gerichtlich getrennt, wobei am 5. August 2017 eine polizeiliche Intervention wegen häuslicher Gewalt erfolgte. Das Bezirksgericht Kreuzlingen nahm mit Entscheid vom 2. November 2017 Kenntnis vom Getrenntleben von A.A.________ und B.A.________ und auferlegte dem Ehemann zudem ein Kontaktverbot im Umgang mit A.A.________.
B.b. Mit Entscheid vom 19. Januar 2018 widerrief das Migrationsamt die Niederlassungsbewilligungen von A.A.________, C.A.________ und D.A.________. Gleichzeitig wurden sie angewiesen, die Schweiz bis am 31. Juli 2018 zu verlassen. Die Verfügung wurde mit Entscheid des Departements für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau vom 24. Januar 2019 bestätigt. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau bezüglich des Widerrufs der Niederlassungsbewilligungen der beiden Söhne gutgeheissen. Im Übrigen wurde die Beschwerde mit Urteil vom 12. Februar 2020 abgewiesen und A.A.________ angewiesen, die Schweiz innert 30 ab Rechtskraft des Entscheides die Schweiz zu verlassen.
 
C.
 
A.A.________ gelangt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 8. Mai 2020 an das Bundesgericht. Sie beantragt, die Ziff. 1, 2 und 3 des angefochtenen Urteils insoweit aufzuheben, als diese den Widerruf ihrer Niederlassungsbewilligung betreffen. Die Sache sei zur Neuregelung der Verfahrenskosten und der Parteientschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Weiteren sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren, auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten und Fanny de Weck als unentgeltliche Rechtsbeiständin einzusetzen.
Der Abteilungspräsident hat der Beschwerde mit Verfügung vom 13. Mai 2020 antragsgemäss die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Rücksicht auf das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde von der Einforderung des Kostenvorschusses einstweilen abgesehen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau sowie das Migrationsamt des Kantons Thurgau beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Migration hat sich nicht vernehmen lassen.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen den kantonal letztinstanzlichen Endentscheid betreffend den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung ist zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 83 lit. c [e contrario], Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie Art. 90 BGG; BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4). Als Adressat des angefochtenen Urteils ist die Beschwerdeführerin zur Ergreifung des Rechtsmittels legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 42 Abs. 2 und Art. 100 Abs. 1 BGG).
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 139 II 404 E. 3 S. 415). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2 S. 232; 136 II 304 E. 2.5 S. 314).
1.3. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Von den tatsächlichen Grundlagen des vorinstanzlichen Urteils weicht es nur ab, wenn diese offensichtlich unrichtig, unvollständig oder in Verletzung wesentlicher Verfahrensrechte ermittelt wurden und die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 142 I 135 E. 1.6 S. 144 f.). Zur Sachverhaltsfeststellung gehört auch die auf Indizien gestützte Beweiswürdigung. Die Sachverhaltsfeststellung bzw. Beweiswürdigung erweist sich als willkürlich (Art. 9 BV), wenn sie offensichtlich unhaltbar oder aktenwidrig ist, wenn das Gericht Sinn und Tragweite eines Beweismittels offensichtlich verkannt hat, wenn es ohne sachlichen Grund ein wichtiges und entscheidwesentliches Beweismittel unberücksichtigt gelassen oder wenn es auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen unhaltbare Schlussfolgerungen gezogen hat (BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 265 f.). Eine entsprechende Rüge ist substanziiert vorzubringen; auf rein appellatorische Kritik an der Sachverhaltsfeststellung bzw. Beweiswürdigung geht das Gericht nicht ein (BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266; 139 II 404 E. 10.1 S. 444 f.).
 
Erwägung 2
 
2.1. Nach Art. 63 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG; SR 142.20; bis zum 31. Dezember 2018: Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG]) auf den sich die Vorinstanz gestützt hat, kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die ausländische Person in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen oder diese gefährdet hat. Dieser Widerrufsgrund gilt auch, falls die ausländische Person sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss im Land aufgehalten hat (so schon Art. 63 Abs. 2 AuG; in der Fassung bis 31. Dezember 2018 [AS 2007 5456]).
Ein Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist nach Art. 80 Abs. 1 lit. b der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201; in der Fassung bis 31. Dezember 2018 [AS 2007 5497]; seit 1. Januar 2019 inhaltlich weitgehend unverändert geregelt in Art. 77a Abs. 1 lit. b VZAE) unter anderem bei mutwilliger Nichterfüllung der öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verpflichtungen anzunehmen. Schuldenwirtschaft allein genügt für den Widerruf der Niederlassungsbewilligung nicht. Vorausgesetzt ist zusätzlich Mutwilligkeit der Verschuldung. Die Verschuldung muss mit anderen Worten selbst verschuldet und qualifiziert vorwerfbar sein (BGE 137 II 297 E. 3.3 S. 304). Davon ist nicht leichthin auszugehen (vgl. Urteile 2C_58/2019 vom 31. Januar 2019 E. 3.1; 2C_164/2017 vom 12. September 2017 E. 3.1 je mit Hinweisen).
2.2. Wurde bereits eine ausländerrechtliche Verwarnung (Art. 96 Abs. 2 AIG) ausgesprochen, ist entscheidend, ob die ausländische Person danach weiterhin mutwillig Schulden gemacht hat. Erforderlich ist, dass keine wesentliche Besserung eintritt, respektive dass das vom Gesetz als unerwünscht erachtete Verhalten auch nach der Verwarnung fortgesetzt wird. Dabei muss ein Vergleich zwischen der Ausgangslage im Zeitpunkt der Androhung der Massnahme mit der aktuellen Situation, in der diese endgültig ergriffen werden soll, gezogen werden. Für den Fall der Schuldenwirtschaft als Widerrufsgrund bedeutet dies, dass die ausländische Person auch nach der Androhung der ausländerrechtlichen Folgen weiterhin mutwillig Schulden gemacht haben muss. Sind seit der Verwarnung keine Straftaten hinzu gekommen, ist daher der Gesichtspunkt der Mutwilligkeit einer allfälligen Neuverschuldung entscheidend (Urteile 2C_573/2019 vom 14. April 2020 E. 2.3; 2C_62/2019 vom 14. Februar 2020 E. 3.1.1; 2C_71/2019 vom 14. Februar 2020 E. 4.1.2).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass, wer einem betreibungsrechtlichen Verwertungsverfahren, insbesondere der Lohnpfändung, unterliegt, zum vornherein nur beschränkte Möglichkeiten hat, ausserhalb des Betreibungsverfahrens Schulden zu tilgen. Das führt in solchen Fällen dazu, dass im Vergleich zu früher weitere Betreibungen hinzukommen können oder der betriebene Betrag angewachsen sein kann, ohne dass allein deswegen Mutwilligkeit vorliegt. Von entscheidender Bedeutung ist, welche Anstrengungen zur Sanierung unternommen worden sind. Positiv ist etwa zu würdigen, wenn vorbestandene Schulden abgebaut worden sind. Ein Widerruf ist dagegen zulässig, wenn in vorwerfbarer Weise weitere Schulden angehäuft worden sind (vgl. Urteile 2C_658/2017 vom 25. Juni 2018 E. 3.2; 2C_164/2017 vom 12. September 2017 E. 3.1 mit Hinweis).
2.3. Ob das erschwerende Tatbestandsmerkmal der Mutwilligkeit der Verschuldung erfüllt ist, hat in einem dem Untersuchungsgrundsatz unterliegenden Verfahren wie dem ausländerrechtlichen Bewilligungsverfahren die erstinstanzliche Behörde abzuklären (Urteile 2C_906/2018 vom 23. Dezember 2019 E. 2.4.2; 2C_58/2017 vom 23. Juni 2017 E. 2.2.1 mit zahlreichen Hinweisen). Bei der Prüfung der materiellen Rechtmässigkeit eines ausländerrechtlichen Entscheids sind für das Bundesgericht in der Regel die tatsächlichen Verhältnisse massgebend, wie sie im Zeitpunkt des Entscheids der richterlichen Vorinstanz herrschten (BGE 127 II 60 E. 1b S. 63; Urteil 2C_42/2011 vom 23. August 2012 E. 5.3). Die Vorinstanz ist ihrerseits verpflichtet, die von den Beschwerdeführenden behaupteten Anstrengungen zur Schuldentilgung bis zum Entscheidzeitpunkt zu berücksichtigen und gestützt darauf die Schuldensituation abzuklären (vgl. BGE 135 II 369 E. 3.3 S. 374; zum Ganzen Urteil 2C_573/2019 vom 14. April 2020 E. 2.4).
2.4. Ob die mutwillige Verschuldung die Qualität eines schwerwiegenden Verstosses gegen die öffentliche Ordnung (Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG) erreicht, beurteilt sich nach Massgabe des Umfangs der Schulden (vgl. Urteil 2C_93/2018 vom 21. Januar 2019 E. 3.5). Eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung nahm das Bundesgericht bei mutwillig unbezahlt gebliebenen öffentlich- oder privatrechtlichen Schulden in der Höhe von Fr. 213'790.48 (Verlustscheine; vgl. Urteil 2C_928/2019 vom 26. Februar 2020), Fr. 188'000.-- (Verlustscheine; vgl. Urteil 2C_517/2017 vom 4. Juli 2018), Fr. 303'732.95 (Verlustscheine; vgl. Urteil 2C_164/2017 vom 12. September 2017) und Fr. 172'543.-- (Verlustscheine, zusätzlich offene Betreibungen im Umfang von Fr. 4'239.--; vgl. Urteil 2C_997/2013 vom 21. Juli 2014) an.
2.5. Nach Art. 80 Abs. 1 lit. a VZAE (in der Fassung bis am 31. Dezember 2018) stellt auch die Missachtung von gesetzlichen Vorschriften und behördlichen Verfügungen einen Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Ein solcher Verstoss wiegt insbesondere dann schwer, wenn die ausländische Person durch ihre Handlungen besonders hochwertige Rechtsgüter wie namentlich die körperliche, psychische und sexuelle Integrität eines Menschen verletzt oder gefährdet hat. Nach der Rechtsprechung zu Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG (vgl. z.B. Urteile 2C_542/2016 vom 27. November 2017 E. 4.3; 2C_106/2017 vom 22. August 2017 E. 3.2 und 3.3 [Auflistung verschiedener Konstellationen]) können auch vergleichsweise weniger gravierende Pflichtverletzungen als "schwerwiegend" im Sinn von Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG bezeichnet werden: So ist ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung namentlich auch dann möglich, wenn sich eine ausländische Person von strafrechtlichen Massnahmen bzw. ausländerrechtlichen Verwarnungen nicht beeindrucken lässt und damit zeigt, dass sie auch zukünftig weder gewillt noch fähig ist, sich an die Rechtsordnung zu halten (BGE 139 I 16 E. 2.1 S. 19, 137 II 297 E. 3.3 S. 303; Urteil 2C_881/2012 vom 16. Januar 2013 E. 4.3.1). Somit kann auch eine Summierung von Verstössen, die für sich genommen für einen Widerruf nicht ausreichen würden, einen Bewilligungsentzug rechtfertigen (BGE 137 II 297 E. 3.3 S. 303 f., Urteil 2C_62/2019 vom 14. Februar 2020 E. 3.1.3). Dabei ist nicht die Schwere der verhängten Strafen, sondern die Vielzahl der Delikte entscheidend (Urteil 2C_160/2013 vom 15. November 2013 E. 2.1.1).
Eine schwerwiegende Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kann nach der Rechtsprechung in Würdigung der konkreten Umstände auch bei einem Ausländer vorliegen, welcher sukzessive mehrere juristische Personen gründet und diese in beherrschender Stellung mutwillig überschulden und in Konkurs fallen lässt (vgl. Urteile 2C_58/2019 vom 31. Januar 2020 E. 3.2; 2C_658/2017 vom 25. Juni 2018 lit. A.b und E. 4.1; 2C_408/2017 vom 12. Februar 2018 E. 4.4.2).
 
Erwägung 3
 
Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin ungeachtet ihrer vierten Verwarnung vom 12. Juni 2015, in welcher sie zur Beachtung der Rechtsordnung und zur Erfüllung ihrer finanziellen Verpflichtungen ausdrücklich angehalten worden war, weiter delinquierte und Schulden machte. Ihr Verhalten müsse als schwerwiegender Verstoss beziehungsweise als schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG qualifiziert werden.
3.1. Die Beschwerdeführerin bestreitet hingegen das Vorliegen eines Widerrufsgrundes. Es könne ihr keine mutwillige Verschuldung vorgeworfen werden. Seit der Trennung von ihrem Ehemann im Juli 2017 habe sich ihre finanzielle Situation nachhaltig stabilisiert. Die Vorinstanz habe in Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) die erfolgreichen Bemühungen zur Verbesserung ihrer finanziellen Verhältnisse sowie die nachhaltige Eliminierung von Schuldenrisiken gänzlich ignoriert und dadurch den Sachverhalt offensichtlich falsch festgestellt und in willkürlicher Weise gewertet.
3.2. In Bezug auf die Schuldenwirtschaft hat die Vorinstanz im angefochtenen Urteil folgenden Sachverhalt festgestellt: Per 27. November 2014 war die Beschwerdeführerin im Betreibungsregister mit 84 Verlustscheinen über Fr. 161'547.95 verzeichnet. Am 12. Januar 2018 lagen gegen die Beschwerdeführerin 95 offene Verlustscheine in der Höhe von Fr. 190'789.10 im Betreibungsregister vor und per 12. Oktober 2018 99 offene Verlustscheine über Fr. 199'993.85. Zudem war die am 21. Februar 2017 ins Handelsregister eingetragene B.________ GmbH, bei welcher die Beschwerdeführerin als Gesellschafterin und Vorsitzende der Geschäftsführung aufgeführt war, per 12. Januar 2018 mit acht Verlustscheinen im Betrag von Fr. 40'544.10 im Betreibungsregister verzeichnet. Die Gesellschaft wurde per 29. Januar 2018 bereits wieder aus dem Handelsregister gelöscht. Die darauf beruhende Erkenntnis der Vorinstanz, wonach insbesondere im Rahmen des Betriebs der B.________ GmbH die Schulden zumindest bis zum Widerruf der Niederlassungsbewilligung am 19. Januar 2018 erhöht haben, kann nicht als offensichtlich falsch gelten. Gleichwohl führt die Gesellschaft als juristische Person ein von der Beschwerdeführerin als natürliche Person getrenntes Dasein (vgl. hiernach E. 3.3.3).
Rein quantitativ erfüllen die Höhe der Schulden den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG (vgl. E. 2.4). Dies alleine reicht jedoch nicht aus, um das Verhalten der Beschwerdeführerin auch als mutwillig zu beurteilen. Dazu wäre es notwendig, dass seit der Verwarnung keine wesentliche Besserung eintritt und das unerwünschte Verhalten fortgesetzt wird (E. 2.2). Im Zusammenhang mit juristischen Personen setzt eine schwerwiegende Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wiederum voraus, dass die ausländische Person mehrere juristische Personen gründet und diese in beherrschender Stellung in Konkurs fallen lässt (E. 2.5 in fine).
3.3. Die Herkunft der Verlustscheine, welche nach der letzten Verwarnung erwirkt wurden, hat die Vorinstanz nicht festgestellt, so dass sich nur in beschränkter Weise Rückschlüsse auf die Gründe der angewachsenen Schulden ziehen lassen. Den Akten, welche zur Vervollständigung des Sachverhalts beigezogen werden können (Art. 105 Abs. 2 BGG), lässt sich immerhin entnehmen, dass die Schulden der Beschwerdeführerin hauptsächlich vor der Trennung von ihrem Ehemann im Sommer 2017 entstanden sind.
3.3.1. So lagen per 22. März 2017 bereits 89 offene Verlustscheine im Umfang von Fr. 183'836.30 vor. Der Vergleich dieses Betreibungsregisterauszugs mit demjenigen vom 4. Februar 2019 zeigt insgesamt eine Stabilisierung und Verbesserung der Situation, da keine Betreibungen für neu entstandene Schulden ersichtlich sind mit Ausnahme der Krankenkassenprämien von November 2016 bis Februar 2017. Zusätzlich fällt auf, dass der Stand der Verschuldung zum Zeitpunkt der Verwarnung nicht genau beziffert ist, weil der beigezogene Betreibungsregisterauszug (7. November 2014) rund ein halbes Jahr vor der letzten Verwarnung vom 12. Juni 2015 datiert. Gemäss den Akten sind während dieses Zeitraums zusätzliche Verlustscheine im Wert von ca. Fr. 11'800.-- auf die Beschwerdeführerin ausgestellt worden, wodurch der Anstieg der Verschuldung seit der Verwarnung insgesamt geringer ausgefallen ist, als von der Vorinstanz angenommen.
3.3.2. Zumindest seit der Trennung von ihrem Ehemann unternimmt die alleinerziehende Beschwerdeführerin erhebliche Anstrengungen, um ihre finanzielle Situation zu stabilisieren. Seit 2016 verfügt sie über eine feste Anstellung, wodurch sie ihr Schuldenrisiko für die Zukunft erheblich verringert hat. Soweit aus den Akten ersichtlich, beruht ein ansehnlicher Teil der Verlustscheine auf nicht bezahlten Abgaben im Zusammenhang mit der früheren selbständigen Erwerbstätigkeit. Aufgrund des regelmässigen Einkommens ist sie mittlerweile auch in der Lage kleinere Rückzahlungen zu leisten, was ihren Willen und die Fähigkeit zum Schuldenabbau belegt. Auch wenn die Zahlungen aufgrund ihres Nettomonatslohns von Fr. 3'372.-- (Jahr 2018) eher niedrig ausgefallen sind, können sie nicht mit der pauschalen Behauptung, dass diese nur durch das ausländerrechtliche Verfahren motiviert gewesen seien, beiseite gewischt werden (vgl. Urteil 2C_273/2010 vom 6. Oktober 2010 E. 4.3 f.). Ebenso ist es der Beschwerdeführerin zugutezuhalten, dass sie zu keinem Zeitpunkt ihres Aufenthalts auf Sozialhilfe angewiesen war, im Unterschied zu anderen Fällen mit ähnlich hoch verschuldeten Personen (vgl. Urteile 2C_928/2019 vom 26. Februar 2020; 2C_517/2017 vom 4. Juli 2018).
3.3.3. Ein Grossteil der neu entstandenen Schulden, welche die Vorinstanz der Beschwerdeführerin zurechnet, entfällt auf die B.________ GmbH. Die erwähnte Gesellschaft führte jedoch als juristische Person ein von der Beschwerdeführerin als natürliche Person getrenntes Dasein (vgl. BGE 126 I 122 E. 5b S. 130; 102 Ia 468 E. 4 S. 475 ff.). Die Beschwerdeführerin haftete dementsprechend nicht persönlich für die Schulden dieser Gesellschaften mit beschränkter Haftung (vgl. Art. 772 Abs. 1 Satz 2 OR). Soweit diese Gesellschaft ihren öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verpflichtungen nicht rechtzeitig nachgekommen ist, lässt sich dies nicht ohne Weiteres als ausländerrechtlich relevante Nichterfüllung von öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verpflichtungen durch die Beschwerdeführerin qualifizieren (vgl. Urteil 2C_58/2019 vom 31. Januar 2020 E. 5.3.2). Dazu wäre es gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung notwendig (vgl. E. 2.5), dass die Beschwerdeführerin in mutwilliger Weise dieses und weitere Unternehmen in beherrschender Stellung in den Konkurs geführt hätte. Ein solches Verhalten ist jedoch nicht erstellt. Einerseits werden im angefochtenen Urteil keine weiteren Unternehmen genannt, welche die Beschwerdeführerin in beherrschender Stellung mutwillig in den Konkurs geführt hätte. Andererseits war die Beschwerdeführerin bei der fraglichen GmbH zwar als Gesellschafterin und Vorsitzende der Geschäftsführung eingetragen, die Geschäftsführung selbst oblag jedoch ihrem Ehemann, wie dem bei den Akten liegenden Handelsregisterauszug entnommen werden kann (Art. 105 Abs. 2 BGG). Gegen eine beherrschende Stellung spricht auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin während der Geschäftstätigkeit der GmbH gemäss vorinstanzlicher Sachverhaltsfestellung bereits ihrer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachging.
3.4. Angesichts der mittlerweile klar erkennbaren Bestrebungen zur Stabilisierung ihrer finanziellen Situation und der lückenhaften Darstellung der Verschuldensentwicklung ist deshalb zulasten des Migrationsamts, das die Beweislast trägt (vgl. Urteil 2C_93/2018 vom 21. Januar 2018 E. 3.4), davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin zumindest nach der letzten migrationsrechtlichen Verwarnung nicht in vorwerfbarer Weise weiter verschuldete. Während die Verschuldung der Beschwerdeführerin ein im Vergleich zur bisherigen Rechtsprechung erhebliches Ausmass erreicht (vgl. oben E. 2.4), fehlt es am Element der Mutwilligkeit. Die Niederlassungsbewilligung lässt sich deshalb nicht gestützt auf Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG in Verbindung mit Art. 80 Abs. 1 lit. b VZAE (in der Fassung bis zum 31. Dezember 2018) widerrufen.
3.5. Hinsichtlich des strafrechtlich relevanten Verhaltens zeigt sich insbesondere im Vergleich mit der Rechtsprechung (für eine Übersicht siehe z.B. Urteile 2D_10/2020 vom 9. Juli 2020 E. 4.3; 2C_106/2017 vom 22. August 2017 E. 3.3), dass die von der Beschwerdeführerin begangenen Straftaten nicht von besonders schwerem Gewicht sind (insgesamt elf Delikte mit Geldstrafen von 80 Tagessätzen und Bussen von insgesamt Fr. 3'960.--), sich darunter keine Freiheitsstrafe befindet und die Anzahl der Delikte angesichts der langen Aufenthaltsdauer der Beschwerdeführerin in der Schweiz von fast 30 Jahren nicht übermässig gross ist. Sie hat zudem während der gesamten Dauer ihres Aufenthalts in der Schweiz keine hochwertigen Rechtsgüter verletzt (vgl. E. 2.5). Die Straftaten der Beschwerdeführerin wiegen isoliert betrachtet nicht schwer genug, um den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG zu erfüllen.
Ohnehin begnügte sich die Vorinstanz betreffend der Straftaten mit schematischen Wiederholungen der Rechtsprechung ohne die Umstände des Einzelfalls miteinzubeziehen. So ist auch der Verweis auf die vier Verwarnungen, die angeblich keine Wirkung zeitigten, zu relativieren. Die beiden ersten Verwarnungen ergingen vorliegend aufgrund relativ geringfügiger Strafen, die keinen Widerruf der Niederlassungsbewilligung gerechtfertigt hätten. Sie erfolgten somit nicht im Sinne von Art. 96 Abs. 2 AIG anstelle eines Widerrufs der Niederlassungsbewilligung und ihnen kann daher in Bezug auf den Widerruf der Niederlassungsbewilligung keine wesentliche Bedeutung zukommen, zumal sie viele Jahre zurückliegen (vgl. Urteil 2C_126/2017 vom 7. September 2017 E. 6.6). Nach der letzten ausländerrechtlich Verwarnung hat die Beschwerdeführerin indes nur noch ein vergleichsweise geringfügiges Delikt begangen, was sich auch an der niedrigen Höhe der ausgefällten Strafe zeigt. Somit kann nicht nur hinsichtlich der bereits dargelegten finanziellen Entwicklung, sondern auch unter Berücksichtigung der Straftaten nach der letzten Verwarnung nicht pauschal gesagt werden, dass die Beschwerdeführerin nicht gewillt oder nicht fähig sei, sich an die in der Schweiz geltende Ordnung zu halten, wie dies die Vorinstanz in einer Gesamtbetrachtung getan hat. Insgesamt ist das Bestehen eines Widerrufsgrundes i.S.v. Art. 63 Abs. 1 lit. b AIG zu verneinen und folglich der Beschwerdeführerin die Niederlassungsbewilligung zu belassen.
 
Erwägung 4
 
Aufgrund der Erwägungen ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gutzuheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 12. Februar 2020 ist aufzuheben. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat der Beschwerdeführerin eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG), die der Vertreterin zuzusprechen ist. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ist gegenstandslos. Die Sache ist zur Neuverlegung der Kosten- und Entschädigungsfolgen für das kantonale Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und 68 Abs. 5 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 12. Februar 2020 wird aufgehoben.
 
2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3. Der Kanton Thurgau hat der Vertreterin der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- auszurichten.
 
4. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
 
5. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.
 
6. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 30. Oktober 2020
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Seiler
 
Der Gerichtsschreiber: Mösching