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Bearbeitung, zuletzt am 04.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 8C_792/2021 vom 02.03.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_792/2021
 
 
Urteil vom 2. März 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Nadeshna Ley,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Massnahme beruflicher Art),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. Oktober 2021 (IV 2020/230).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
A.________, geboren 1988, meldete sich im Januar 2014 unter Hinweis auf eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) seit Februar 2010 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gemäss den eingereichten Unterlagen studierte A.________ seit Herbst 2009 an der Universität B.________. Am 21. Februar 2010 war er in eine Schlägerei geraten und hatte sich dabei eine Commotio cerebri sowie diverse Frakturen im Gesicht zugezogen. Er befand sich in psychotherapeutischer Behandlung bei Dr. med. C.________, Psychiatrie und Psychotherapie, sowie Dr. phil. D.________, Psychotherapie und psychotraumatologische Beratung. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen lehnte die Ansprüche auf eine erstmalige berufliche Ausbildung sowie auf eine Invalidenrente mit Verfügung vom 25. November 2015 ab. Auf Beschwerde hin wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Sache mit Entscheid vom 17. September 2018 zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurück.
Die IV-Stelle holte ein bidisziplinäres Gutachten des Schweizerischen Zentrums für medizinische Abklärungen und Beratungen SMAB, Bern, vom 20. Januar 2020 mit psychiatrischer, einschliesslich neuropsychologischer, sowie neurologischer Untersuchung ein. Mit Verfügung vom 10. September 2020 gewährte sie Kostengutsprache für die Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung in Form von Taggeldern für das letzte Studienjahr (1. August 2018 bis 31. Juli 2019) sowie einer Umtriebsentschädigung von Fr. 250.- und der Semestergebühren im Umfang von Fr. 1926.- je Semester, total Fr. 4352.-.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 25. Oktober 2021 teilweise gut und sprach A.________ Taggelder sowie die von der IV-Stelle im betraglichen Umfang noch festzusetzenden Semestergebühren und eine Umtriebsentschädigung für vier Semester zu.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und Zusprechung der Taggelder, Semestergebühren und Umtriebsentschädigungen für insgesamt neun Semester.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
 
1.
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln, wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist die Beschwerde hingegen nur zulässig, wenn sie die Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind Zwischenentscheide, die nur unter den genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden können (BGE 133 V 477 E. 4.2). Anders verhält es sich dann, wenn der unteren Instanz, an welche zurückgewiesen wird, kein Entscheidungsspielraum mehr verbleibt und die Rückweisung bloss noch der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient (BGE 135 V 141 E. 1.1; 134 II 124 E. 1.3). Diesfalls liegt - materiell betrachtet - kein Zwischen-, sondern ein Endentscheid vor (BGE 140 V 282 E. 4.2; SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007 E. 1.1).
Gestützt auf den vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid obliegt der Beschwerdegegnerin bloss noch die rechnerische Umsetzung der vom kantonalen Gericht zugesprochenen Ansprüche. Materiell ist er deshalb als Endentscheid zu qualifizieren und es ist auf die Beschwerde einzutreten.
 
Erwägung 2
 
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).
3.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie auf einen Anspruch auf Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung im Umfang von lediglich vier Semestern erkannte, statt den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Mehraufwand von neun Semestern zu berücksichtigen.
4.
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
5.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Ersatz der invaliditätsbedingten Mehrkosten für die erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 IVG) sowie auf Taggelder während dieser Ausbildung (Art. 22 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der zu beachtenden Regeln über den Beweiswert von ärztlichen Berichten und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis). Zu ergänzen ist diesbezüglich, dass es die unterschiedliche Natur von Behandlungsauftrag der therapeutisch tätigen (Fach-) Person einerseits und Begutachtungsauftrag des amtlich bestellten fachmedizinischen Experten anderseits (BGE 124 I 170 E. 4) rechtsprechungsgemäss nicht zulässt, ein Administrativ- oder Gerichtsgutachten stets in Frage zu stellen und zum Anlass weiterer Abklärungen zu nehmen, wenn die behandelnden Arztpersonen beziehungsweise Therapiekräfte zu anderslautenden Einschätzungen gelangen. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen sich eine abweichende Beurteilung aufdrängt, weil diese wichtige - und nicht rein subjektiver Interpretation entspringende - Aspekte benennen, die bei der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind (BGE 135 V 465 E. 4.5; 125 V 351 E. 3b/cc; SVR 2017 IV Nr. 7 S. 19, 9C_793/2015 E. 4.1; Urteile 8C_630/2020 vom 28. Januar 2021 E. 4.2.1; 8C_370/2020 vom 15. Oktober 2020 E. 7.2).
 
Erwägung 6
 
6.1. Gemäss Vorinstanz ist das SMAB-Gutachten voll beweiskräftig und gestützt darauf davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer wegen der PTBS während des Studiums in seiner psychomentalen Leistungsfähigkeit nach einer anfänglichen Akutphase um 20 % eingeschränkt gewesen sei. Für den Abschluss des Studiums habe der Beschwerdeführer daher rein rechnerisch rund einen Fünftel länger benötigt als ohne Gesundheitsschädigung. Indessen seien, so das kantonale Gericht weiter, die tatsächlichen Gegebenheiten des Studiums bei der Beurteilung der invaliditätsbedingten Verzögerung des Abschlusses von der IV-Stelle nicht berücksichtigt worden. Die Vorinstanz gestand dem Beschwerdeführer zu, dass er das erste Studien- (Assessment-) Jahr um zwei Semester habe verlängern müssen, weil er nicht in der Lage gewesen sei, die damals fälligen Prüfungen zu absolvieren. Ab diesem Zeitpunkt sei angesichts der 20%igen Leistungseinbusse bei Absolvierung von jeweils 24 statt der erforderlichen 30 Credits (ECTS) pro Semester von einer Verlängerung von insgesamt einem Jahr (fünf statt vier Semester je für das Bachelor- und das Masterstudium) auszugehen. Dabei berücksichtigte das kantonale Gericht, dass die jeweils im Semester nicht erworbenen ECTS (anders als im Assessmentjahr) nachgeholt werden konnten, ohne dass das ganze Studienjahr wiederholt werden musste oder dass der Beschwerdeführer jeweils immer wieder um ein Semester zurückgeworfen worden wäre. Gemäss Vorinstanz entstand dadurch also eine invaliditätsbedingte Verzögerung des Studiums von zwei Jahren (beziehungsweise vier Semestern). Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte darüber hinausgehende Verlängerung bleibe zu seinen Lasten unbewiesen.
6.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die erst nach Abschluss seines Studiums erfolgte Begutachtung habe nicht zuverlässig zeigen können, inwieweit er damals tatsächlich eingeschränkt gewesen sei. Er beruft sich dabei auf die Stellungnahme seines behandelnden Arztes Dr. med. C.________, welcher zusätzlich zur PTBS auch eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung diagnostiziert habe. Angesichts der konkreten Leistungsanforderungen sei zudem eine zusätzliche Beeinträchtigung des Rendements zu Unrecht ausser Acht geblieben. Aus der gutachtlich attestierten 20%igen Leistungseinschränkung könne schliesslich nicht allein rechnerisch auf eine entsprechende zeitliche Verlängerung geschlossen werden. Neben der leistungsbedingten wären, so der Beschwerdeführer weiter, auch die Auswirkungen der erforderlichen Verschiebungen der Prüfungen zu berücksichtigen gewesen Diese könnten ebenso wie die Masterarbeit nicht zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt abgelegt beziehungsweise eingereicht werden. Die Vorinstanz hätte die tatsächliche Verlängerung des Studiums um viereinhalb Jahre als ausschliesslich invaliditätsbedingt anerkennen müssen.
 
Erwägung 7
 
7.1. Inwiefern die Vorinstanz offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellungen getroffen oder die zu beachtenden Beweiswürdigungsregeln verletzt haben sollte, indem sie auf das SMAB-Gutachten abstellte, ist nicht erkennbar. Was zunächst den vom Beschwerdeführer angerufenen Bericht seines Psychotherapeuten vom 8. Juni 2020 betrifft, lassen sich keine Aspekte ausmachen, die von den Gutachtern ungewürdigt geblieben wären. Dies gilt insbesondere auch insoweit, als Dr. med. C.________ die gutachtliche Einschätzung in diagnostischer Hinsicht kritisiert. Dass sich eine chronische PTBS im Verlauf zur schwerwiegenden Persönlichkeitsänderung entwickelt hätte, schloss der begutachtende Psychiater, bestätigt im interdisziplinären Konsens, mit einlässlicher Begründung aus, dies unter anderem mit Hinweis darauf, dass unter diesen Umständen ein Studienabschluss nicht möglich gewesen wäre. Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, die Gutachter hätten die spezifischen Anforderungen eines Studiums zu wenig berücksichtigt, kann ihm ebenfalls nicht gefolgt werden, haben sich die Experten doch ausdrücklich zur diesbezüglichen Leistungsfähigkeit geäussert. Darüber hinaus ist dem Gutachten zu entnehmen, dass die aktuellen (vierstündigen) neuropsychologischen Untersuchungen ein weitgehend unauffälliges kognitives Leistungsprofil gezeigt hätten, was seinerseits die Relevanz der PTBS-Diagnose sowohl hinsichtlich ausbildungs- wie auch berufsbezogener Leistungen relativiere. Aus diesem Grund vermag der Beschwerdeführer insbesondere auch mit seinem Einwand, es sei zusätzlich zur zeitlichen auch eine weitergehende leistungsmässige Einbusse zu berücksichtigen, nicht durchzudringen. Dass die Vorinstanz auf die von den Gutachtern attestierte 80%ige Leistungsfähigkeit abstellte, ist nicht zu beanstanden. Dies gilt schliesslich auch insoweit, als beschwerdeweise geltend gemacht wird, die nachträgliche Beurteilung habe diesbezüglich nicht hinreichend zuverlässig ausfallen können, zumal bereits die neuropsychologische Verlaufsuntersuchung im Spital E.________ im Dezember 2014 lediglich noch minimale kognitive Funktionsstörungen ergeben hatten.
7.2. Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, die von der Vorinstanz ermittelten konkreten Auswirkungen hinsichtlich des Studienverlaufs vermöchten nicht standzuhalten. Inwiefern die diesbezüglichen Feststellungen offensichtlich unzutreffend wären, wird jedoch nicht dargetan. Es lässt sich nicht ersehen, weshalb über die leistungsmässige Einschränkung von 20 % bei den Vorlesungen und Lernvorbereitungen hinaus eine weitergehende Verzögerung zu berücksichtigen wäre. Dass dem Beschwerdeführer aufgrund von fixen Prüfungsterminen eine Absolvierung innerhalb der von der Vorinstanz dementsprechend zeitlich (um zwei Semester für das je viersemestrige Bachelor- und Masterstudium) verlängerten Studienzeit nicht möglich gewesen sein sollte, wird im Einzelnen beschwerdeweise nicht dargelegt. Aus der tatsächlichen Verlängerung um insgesamt viereinhalb Jahre lässt sich jedenfalls nicht wie vom Beschwerdeführer beantragt auf das ihm Zumutbare schliessen. Es muss daher bei den diesbezüglichen vorinstanzlichen Erwägungen sein Bewenden haben.
8.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 2. März 2022
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo