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BGer 8C_80/2022 vom 04.05.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_80/2022
 
 
Urteil vom 4. Mai 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Rajeevan Linganathan,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern,
 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 10. Dezember 2021
 
(200 21 96 IV).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
A.________, geboren 1967, meldete sich im Juli 2016 unter Hinweis auf eine vollständige Arbeitsunfähigkeit seit 2010 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Zuvor war er seit Juni 2008 als Hilfskoch beschäftigt gewesen. Gemäss Bericht des Spitals C.________, Dr. med. B.________, Leitender Arzt Anästhesie FMH, litt A.________ auch nach zweimaliger Diskushernienoperation (L4/5) im Jahr 2010 unter anhaltenden Rückenbeschwerden. Die IV-Stelle Bern gewährte ab 10. Oktober 2017 ein Belastbarkeitstraining, das jedoch bereits am 1. November 2017 abgebrochen wurde. Es wurde von Anfällen berichtet, deren Ursache aber anlässlich der erstmaligen Einweisung auf die Notfallstation wie auch nach kardiologischen und neurologischen Untersuchungen im Spital C.________ ungeklärt blieb. Die IV-Stelle holte ein Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) medaffairs, Basel, vom 11. September 2020 ein. Mit Verfügung vom 15. Dezember 2020 lehnte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente ab.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 10. Dezember 2021 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sei ihm eine ganze oder zumindest eine Dreiviertelsrente zuzusprechen, eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).
2.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die durch die IV-Stelle am 15. Dezember 2020 verfügte Ablehnung eines Rentenanspruchs bestätigte. Zur Frage steht dabei die Beurteilung des Umfangs der Arbeitsfähigkeit sowohl in somatischer wie auch in psychiatrischer Hinsicht.
3.
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Urteil zugrundeliegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
4.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG), zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG), insbesondere auch bei psychischen Leiden (BGE 143 V 409 E. 4.2.1; 143 V 418; 141 V 281), sowie zum Rentenanspruch (Art. 28 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Ermittlung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG) und namentlich auch bezüglich des sogenannten leidensbedingten Abzuges vom hypothetischen Verdienst, den die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität durch eine ihr zumutbare Tätigkeit verdienen könnte (Invalideneinkommen; Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 E. 6.3, zur Publikation vorgesehen). Ob ein solcher Abzug zu gewähren sei, ist eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (BGE 137 V 71 E. 5.1).
Richtig wiedergegeben werden im angefochtenen Urteil auch die Regeln über den Beweiswert von ärztlichen Berichten und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis), insbesondere von versicherungsexternen Gutachten (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/bb). Zu ergänzen ist diesbezüglich, dass es die unterschiedliche Natur von Behandlungsauftrag der therapeutisch tätigen (Fach-) Person einerseits und Begutachtungsauftrag des amtlich bestellten fachmedizinischen Experten anderseits (BGE 124 I 170 E. 4) rechtsprechungsgemäss nicht zulässt, ein Administrativ- oder Gerichtsgutachten stets in Frage zu stellen und zum Anlass weiterer Abklärungen zu nehmen, wenn die behandelnden Arztpersonen beziehungsweise Therapiekräfte zu anderslautenden Einschätzungen gelangen. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen sich eine abweichende Beurteilung aufdrängt, weil diese wichtige - und nicht rein subjektiver Interpretation entspringende - Aspekte benennen, die bei der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind (BGE 135 V 465 E. 4.5; 125 V 351 E. 3b/cc; SVR 2017 IV Nr. 7 S. 19, 9C_793/2015 E. 4.1; Urteile 8C_630/2020 vom 28. Januar 2021 E. 4.2.1; 8C_370/2020 vom 15. Oktober 2020 E. 7.2).
 
Erwägung 5
 
5.1. Gemäss Vorinstanz ist das von der IV-Stelle eingeholte MEDAS-Gutachten voll beweiskräftig. Dies gelte zunächst insbesondere hinsichtlich der psychiatrischen Einschätzung, wonach es sich bei den "Ohnmachts-Anfällen" (Stürze mit jeweils vollständigem oder teilweisem Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder) um eine dissoziative Symptomatik handle, die den Beschwerdeführer indessen - da er gedanklich mit den zugrundeliegenden Belastungen zumeist nicht konfrontiert werde - in der Arbeitsfähigkeit nicht einschränke. Was die Rückenbeschwerden betrifft, so das kantonale Gericht weiter, sei der Beschwerdeführer in einer leidensangepassten (im Gutachten weiter präzisierten) Tätigkeit vollzeitlich arbeitsfähig, dies jedoch mit einer Leistungseinbusse von 20 % wegen vermehrten Pausenbedarfs. Der nach der Begutachtung erstattete Bericht des behandelnden Arztes vom 20. November 2020 rechtfertige diesbezüglich keine andere Beurteilung. In erwerblicher Hinsicht war nach der Vorinstanz für den hypothetischen Zeitpunkt des Rentenbeginns im Februar 2017 mit der IV-Stelle bei beiden Vergleichseinkommen von demselben statistischen Tabellenlohn (gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung LSE) auszugehen und daher auf eine Ermittlung im Einzelnen zu verzichten. Die Gewährung eines leidensbedingten Abzuges sei nicht gerechtfertigt. Es resultierte somit, entsprechend dem Grad der Arbeitsunfähigkeit, ein Invaliditätsgrad von 20 %. Daran änderte sich, so die Vorinstanz weiter, im Übrigen auch nichts, wenn auf der Seite des Einkommens, das der Beschwerdeführer als Gesunder nach dem Verlust der vormaligen Stelle hypothetisch erzielen könnte (Valideneinkommen), auf den statistischen Lohn im Gastgewerbe abgestellt würde.
5.2. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss im Wesentlichen geltend, auf das eingeholte Gutachten könne nicht abgestellt werden. Entgegen der dortigen Einschätzung sei ihm eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr zuzumuten beziehungsweise nicht verwertbar, was denn auch die erfolglosen beruflichen Eingliederungsmassnahmen (im Herbst 2017 sowie erneut im Herbst 2020) gezeigt hätten. Dies gelte zunächst insoweit, als namentlich die Ursache seiner Anfälle zu Unrecht bis anhin nicht weiter abgeklärt worden sei. Das psychiatrische Teilgutachten sei insoweit unzulänglich, insbesondere auch wegen unzureichender Exploration der Gefangenschaft und Folterung in seiner Heimat Sri Lanka, zumal diesbezüglich, da die IV-Stelle bis dahin auf entsprechende Abklärungen verzichtet habe, auch nicht auf medizinische Vorakten habe zurückgegriffen werden können. Auch die chronischen starken Schmerzen erlaubten die Verwertung der gutachtlich bescheinigten Arbeitsfähigkeit nicht mehr, was sein behandelnder Arzt zuletzt im September 2021 bestätigt habe. Da sich die Gutachter retrospektiv zur Arbeitsfähigkeit nicht geäussert hätten, stehe ihm gestützt auf die Atteste seines behandelnden Arztes zumindest rückwirkend eine befristete Invalidenrente zu. In erwerblicher Hinsicht wird die Gewährung des höchstzulässigen Abzugs vom Tabellenlohn beantragt.
 
Erwägung 6
 
6.1. Inwiefern die Vorinstanz die massgeblichen Beweiswürdigungsregeln verletzt haben sollte, indem sie auf das medaffairs-Gutachten abstellte, vermag der Beschwerdeführer nicht darzutun und ist nicht erkennbar. Dies gilt zunächst insbesondere hinsichtlich des psychiatrischen Teilgutachtens. Das kantonale Gericht erachtete dieses als überzeugend, zumal sich der Experte eingehend namentlich zu den vom Beschwerdeführer gezeigten, als dissoziative Störung diagnostizierten Anfällen geäussert habe. Mit seinem Einwand, der Gutachter habe sich mit Traumatisierungen in der Heimat nicht hinreichend auseinandergesetzt, dringt der Beschwerdeführer nicht durch. Der Experte ging ausdrücklich davon aus, dass es vorab bei gedanklicher Konfrontation damit im Rahmen der ärztlichen Abklärungen zu entsprechenden Anfällen gekommen sei. Eine dadurch bedingte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit schloss er aus diesem Grund aus beziehungsweise erachtete er deswegen die Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit sogar als günstige Beeinflussung der geklagten Beschwerden. Der Beschwerdeführer sei im Übrigen im privaten Rahmen bereits heute durchaus in der Lage, entsprechende Aktivitäten auszuüben. Sein Einwand, das psychiatrische Teilgutachten lasse es an einer Befassung mit den psychischen Vorbelastungen vermissen, ist damit nicht gerechtfertigt. Soweit der Beschwerdeführer rügt, die IV-Stelle hätte bereits früher psychiatrische Abklärungen in die Wege leiten müssen, ist ihm entgegenzuhalten, dass er gemäss Vorinstanz bis anhin auf eine fachärztlich psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung verzichtet habe, was auf einen fehlenden Leidensdruck schliessen lasse. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass er selber seine Beschwerden nach den gutachtlichen Angaben nicht als psychisch bedingt betrachte, sich dementsprechend auch nicht psychisch krank fühle und keine psychiatrische Behandlung wünsche.
6.2. Was die somatischen Beschwerden betrifft, schlossen die Gutachter gemäss Vorinstanz die vom behandelnden Arzt bereits im Jahr 2016 vermutete radikuläre Schmerzursache mit überzeugender Begründung aus. Inwiefern das kantonale Gericht damit offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellungen getroffen oder die zu beachtenden Beweiswürdigungsregeln verletzt haben sollte, ist nicht erkennbar. Dies gilt auch insoweit, als den jeweils damit begründeten Bescheinigungen einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit durch den behandelnden Arzt gemäss Vorinstanz gestützt auf das Gutachten die Grundlage entzogen ist. Für das Bundesgericht steht daher verbindlich fest, dass eine über den von den Gutachtern bescheinigten Umfang hinausgehende Arbeitsunfähigkeit seit dem von der Vorinstanz auf Februar 2017 festgesetzten hypothetischen Rentenbeginn nicht ausgewiesen ist. Es besteht daher insbesondere kein Raum für die vom Beschwerdeführer beantragte rückwirkende Zusprechung einer befristeten Invalidenrente.
6.3. In erwerblicher Hinsicht wird schliesslich gerügt, die Vorinstanz habe zu Unrecht keinen beziehungsweise nicht den höchstzulässigen Abzug gewährt. Zur Begründung wird vorab die leidensbedingte Einschränkung zufolge der Rücken- und Beinschmerzen angeführt, des Weiteren das Alter (54 Jahre), die fehlende Berufsbildung und mangelhaften Deutschkenntnisse sowie die bisher ausschliessliche Tätigkeit in der Küche. Das kantonale Gericht stellte dazu fest, den behinderungsbedingten Einschränkungen sei bereits im Rahmen der gutachtlich bescheinigten 20 %igen Leistungsminderung bei vollzeitlichem Pensum Rechnung getragen worden. Zudem wären allfällige invaliditätsfremde Gründe ohnehin bei beiden, gestützt auf den gleichen Tabellenlohn zu ermittelnden Vergleichseinkommen zu berücksichtigen. Eine diesbezügliche Korrektur nur auf der Seite des Invalideneinkommens falle daher ausser Betracht. Inwiefern diese Feststellungen offensichtlich unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig sein sollten, wird beschwerdeweise nicht dargetan und ist nicht erkennbar. Es hat somit bei den diesbezüglichen Erwägungen der Vorinstanz mit dem Ergebnis eines rentenausschliessenden Invaliditätsgrades von 20 % sein Bewenden.
7.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 4. Mai 2022
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Wirthlin
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo