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Bearbeitung, zuletzt am 06.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 8C_131/2022 vom 27.06.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_131/2022
 
 
Urteil vom 27. Juni 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch CAP Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft AG,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung
 
(Arbeitsunfähigkeit, Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Dezember 2021 (IV.2021.00168).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
Die 1967 geborene A.________ ist seit 1. Februar 1990 als Betriebsmitarbeiterin in einem 100%-Pensum für die B.________ GmbH im Bereich "Cabin Service" tätig gewesen. Am 28. Januar 2019 (Eingangsdatum) meldete sie sich im Nachgang zu einem operativen Eingriff vom 30. Oktober 2018, unter Hinweis auf ein Taubheitsgefühl und starke Schmerzen am rechten Oberschenkel, zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Am 10. Oktober 2019 informierte sie die IV-Stelle des Kantons Zürich darüber, dass sie ihre Arbeit am 1. Oktober 2019 in einem reduzierten Pensum von 60 % wieder aufgenommen habe. Die IV-Stelle gab mit Mitteilung vom 4. Dezember 2019 bekannt, dass keine Eingliederungsmassnahmen möglich seien und der Rentenanspruch geprüft werde. Sie holte in der Folge unter anderem die Berichte der behandelnden Ärzte und die Akten der Krankentaggeldversicherung ein, darunter das viszeral-chirurgisch-neurologische Gutachten der Dres. med. C.________, Facharzt für Chirurgie, und D.________, Facharzt für Neurologie sowie Psychiatrie und Psychotherapie, vom 11. und 25. November 2019. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte sie einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 4. Februar 2021.
B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil vom 27. Dezember 2021 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalgerichtlichen Urteils sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen und diese sei zu verpflichten, den rechtserheblichen Sachverhalt vollumfänglich abzuklären, die Invaliditätsbemessung erneut vorzunehmen sowie die Leistungen der Invalidenversicherung auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst ohne weitere Ausführungen, unter Hinweis auf die Auffassung der Vorinstanz, auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen: BGE 145 V 57 E. 4).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der IV-Stelle am 4. Februar 2021 verfügte Rentenablehnung bestätigte.
 
Erwägung 3
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
 
Erwägung 3.2
 
3.2.1. Das kantonale Gericht hat die massgeblichen Rechtsgrundlagen zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG) und zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Ausführungen zum Beweiswert sowie zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 143 V 124 E. 2.2.2; 137 V 210 E. 6.2.2; 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a). Darauf wird verwiesen.
3.2.2. Zu betonen ist, dass den von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung genügenden Gutachten externer Spezialärzte (Administrativgutachten) voller Beweiswert zuerkannt werden darf, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4). Liegt - wie hier - ein vom Krankentaggeldversicherer nicht im gesetzlich vorgesehenen Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholtes Gutachten vor, kommt diesem der Beweiswert versicherungsinterner ärztlicher Feststellungen zu (Urteil 9C_634/2019 vom 12. November 2019 E. 4.3). Folglich sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit einer solchen Expertise, so sind ergänzende Abklärungen in Form eines Gerichtsgutachtens oder einer versicherungsexternen medizinischen Begutachtung im Verfahren nach Art. 44 ATSG vorzunehmen (BGE 145 V 97 E. 8.5 in fine; 139 V 225 E. 5.2; 135 V 465 E. 4.4).
 
Erwägung 4
 
4.1. Die Vorinstanz hielt gestützt auf das Gutachten der Dres. med. C.________ und D.________ vom 11. und 25. November 2019 fest, es sei in gesamtheitlicher Interpretation der fachärztlichen Einschätzungen von einer 70%igen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Rahmen der beruflichen Tätigkeit bei der B.________ GmbH, die inzwischen dem Leiden angepasst worden sei, auszugehen. Dies leite sich einerseits aus dem Attest einer 80%igen Arbeitsfähigkeit bei einem um 10 % reduzierten Rendement aus neurologischer Sicht ab. Andererseits werde in chirurgischer Hinsicht eine nur unwesentlich abweichende Arbeitsfähigkeit von 60 bis 70 % für die bisherige Tätigkeit attestiert, wobei eine Arbeitsplatzanalyse für sinnvoll erachtet worden sei. Diesbezüglich sei anzumerken, dass weder erläutert worden noch ersichtlich sei, inwiefern eine solche Analyse weitere entscheidrelevante Erkenntnisse liefern sollte. Beide Gutachter seien darüber orientiert gewesen, welche Arbeiten die Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bei der B.________ GmbH zu erledigen habe. Somit würden keine auch nur geringen Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der gutachterlichen Ausführungen bestehen. Diese würden auch durch den Bericht des Dr. med. E.________ vom 5. März 2020 und die RAD-Stellungnahme vom 3. April 2020 nicht in Frage gestellt. Die Beschwerdeführerin sei nach wie vor bei der B.________ GmbH angestellt. Gemäss Arbeitgeberbestätigung vom 8. März 2021 sei der Aufgabenbereich auf körperlich angepasste Arbeiten beschränkt. Betreffend der seit über 30 Jahren bestehenden Anstellung seien im Übrigen keine vertraglichen Änderungen erfolgt, unbestrittenermassen auch nicht in Bezug auf die Entlöhnung, womit ein besonders stabiles Arbeitsverhältnis bestehe. Das Invalideneinkommen sei darum auf das medizinisch-theoretisch zumutbare Pensum (von 70 %) hochzurechnen. Mit anderen Worten sei der Invaliditätsgrad anhand eines Prozentvergleichs zu bestimmen, weshalb er sich auf nicht rentenbegründende 30 % belaufe. Selbst wenn das Invalideneinkommen anhand der Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) zu bestimmen wäre, würde kein Invaliditätsgrad von mindestens 40 % resultieren.
4.2. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes und eine offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts im Sinne von Art. 97 BGG durch die Vorinstanz geltend, da die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit anhand der Akten nicht korrekt festgestellt worden sei. Das kantonale Gericht stütze sich auf das von der Krankentaggeldversicherung in Auftrag gegebene bidisziplinäre Gutachten, obschon dieses nicht den beweisrechtlichen Anforderungen entspreche. Angesichts der Tatsache, dass die Arbeitsfähigkeit gemäss genanntem Gutachten nicht zweifelsfrei habe festgestellt werden können, hätte das kantonale Gericht die Sache zur Vervollständigung des Sachverhalts an die IV-Stelle zurückweisen müssen.
 
Erwägung 5
 
5.1. Die Vorinstanz stellt bezüglich des Gutachtens zwar fest, es sei der Verständlichkeit der Konsensbeurteilung "auf den ersten Blick" abträglich, dass keine eigentliche, die beiden medizinischen Disziplinen übergreifende Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vorgenommen worden sei. Nach ihrer Ansicht lässt sich jedoch bei genauerer Betrachtung, unter Einbezug der Ausführungen in den Teilexpertisen, "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" feststellen, von welcher Arbeitsfähigkeit die Gutachter ausgegangen sind.
5.2. Mit der Beschwerdeführerin lässt sich diesbezüglich allerdings nicht übersehen, dass sich die Experten in der Konsensbeurteilung je separat aus neurologischer und chirurgischer Sicht äussern, ohne auch nur im Ansatz eine gesamtheitliche Einschätzung abzugeben. Aus neurologischer Sicht soll die Beschwerdeführerin sechs Stunden am Tag an fünf Tagen pro Woche arbeitsfähig sein. Dabei bleibt unter anderem offen, von welcher Wochenarbeitszeit und folglich von welcher prozentualen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ausgegangen wird. Unabhängig von der Wochenarbeitszeit lässt sich aber die Bedeutung der Differenz zur abschliessenden Einschätzung aus chirurgischer Sicht, wonach eine Arbeitsfähigkeit von fünf bis sieben Stunden pro Tag bzw. von 60 bis 80 %, von "60-%", oder, gemäss chirurgischem Teilgutachten, 60 bis 70 % bestehen soll, ohnehin nicht feststellen. Dazu kommt, dass Dr. med. C.________ zur genaueren Bestimmung eine Arbeitsplatzanalyse als sinnvoll erachtet, womit vor dem Hintergrund seiner offen formulierten Angaben die Annahme naheliegend scheint, dass er sich nicht auf eine präzisere Restarbeitsfähigkeit festlegen wollte oder konnte. Das bidisziplinäre Gutachten lässt jedenfalls mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu. Die vorinstanzliche Schlussfolgerung auf eine insgesamt 70%ige Arbeitsfähigkeit in der aktuellen, dem Leiden angepassten Beschäftigung stellt demnach nur eine unter mehreren in Frage kommenden Varianten dar. Ebenso könnte aus den nicht aufeinander abgestimmten Aussagen der Experten auf eine insgesamt 60%ige Arbeitsfähigkeit in der aktuellen, leidensangepassten Beschäftigung geschlossen werden. Dies hätte beim vorinstanzlich angewendeten Prozentvergleich eine rentenbegründende Invalidität von 40 % zur Folge. Die Beschwerdeführerin macht deshalb zu Recht geltend, dass eine entscheidwesentliche Lücke in der Abklärung des Sachverhalts vorliegt, die sich auch durch die Angaben in den übrigen medizinischen Berichten und Stellungnahmen nicht schliessen lässt.
5.3. Nach dem Gesagten wurde der Sachverhalt im vorliegenden Fall unvollständig und damit offensichtlich unrichtig festgestellt, was den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) und zugleich die Regeln betreffend den Beweiswert von ärztlichen Berichten und Expertisen (BGE 143 V 124 E. 2.2.2) verletzt. Im Übrigen hätten sogar bereits geringe Zweifel genügt, um die Beweiskraft des von der Krankentaggeldversicherung eingeholten Gutachtens der Dres. med. C.________ und D.________ vom 11. und 25. November 2019 in Frage zu stellen (vgl. E. 3.2.2 hiervor). Das angefochtene Urteil erweist sich somit als bundesrechtswidrig und ist aufzuheben. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie weitere Abklärungen veranlasse, allenfalls im Verfahren nach Art. 44 ATSG ein versicherungsexternes Gutachten einhole und anschliessend über den Leistungsanspruch neu verfüge.
6.
Die Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zu weiterer Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das Begehren im Haupt- oder Eventualantrag gestellt wird (vgl. BGE 141 V 281 E. 11.1 mit Hinweis). Die unterliegende Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens ist die Sache an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückzuweisen (Art. 67 und 68 Abs. 5 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Dezember 2021 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 4. Februar 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, I. Kammer, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 27. Juni 2022
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Wirthlin
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz