2. Die analoge Heranziehung einer Vorschrift als materiell-gesetzliche Grundlage für eine Freiheitsentziehung entspricht nicht den Erfordernissen der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 Abs. 1 GG.
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Beschluß | |
des Ersten Senats vom 13. Oktober 1970
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- 1 BvR 226/70 - | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Bankversicherungskaufmanns Rolf-Günter D ... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Freiherr von Lepel, Hannover, Hohenzollernstraße 6 - gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 3. April 1970 - Ars 28/70 Ausl. (B) II -, b) den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 18. August 1970 - Ars 28/70 Ausl. (B) II -, mittelbar gegen das Gesetz zu den Verträgen vom 22. September 1958 über die Auslieferung und über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich vom 21. April 1960 (BGBl. II S. 1341), soweit darin dem Art. 22 Abs. 2 des Vertrages vom 22. September 1958 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und er Republik Österreich über die Auslieferung (BGBl. 1960 II S. 1342) zugestimmt wird.
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Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
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Gründe: | |
A. - I. | |
Der Beschwerdeführer, der deutscher Staatsangehöriger ist und in Österreich rechtskräftig zu sechs Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde, wehrt sich gegen seine Übergabe an die österreichischen Strafverfolgungsbehörden. Er war zuvor von Österreich an die Bundesrepublik Deutschland vorläufig und unter der Bedingung späterer Rückführung ausgeliefert worden, damit zwei in Deutschland anhängige Strafverfahren abgeschlossen werden konnten.
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Die Möglichkeit einer vorläufigen Auslieferung mit späterer Rücklieferung ist im deutsch-österreichischen Auslieferungsvertrag vom 22. September 1958 (BGBl. 1960 II S. 1342) - im folgenden: Auslieferungsvertrag - vorgesehen. Art. 22 dieses Vertrages, dem die gesetzgebenden Körperschaften durch das Gesetz vom 21. April 1960 (BGBl. II S. 1341) zugestimmt haben, lautet:
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Artikel 22 Aufschub der Übergabe | |
(1) Der ersuchte Staat kann die Übergabe der auszuliefernden Person aufschieben, um sie wegen einer anderen gerichtlich strafbaren Handlung zu verfolgen oder an ihr eine Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung zu vollstrecken.
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(2) Wird die Übergabe aufgeschoben, so kann der ersuchte Staat die auszuliefernde Person dem ersuchenden Staat zeitweilig zur Durchführung bestimmter Prozeßhandlungen, insbesondere der Hauptverhandlung übergeben. Nach Durchführung dieser Prozeßhandlungen gibt der ersuchende Staat die Person ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit dem ersuchten Staat zurück.
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In anderen Rechtsvorschriften werden - von weiteren Auslieferungsverträgen und vom Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (BGBl. 1964 II S. 1371) abgesehen - die zeitweilige Auslieferung und die sich daran anschließende Rücklieferung nicht ausdrücklich geregelt. Das gilt insbesondere für das Deutsche Auslieferungsgesetz vom 23. Dezember 1929 (RGBl. I S. 239) - DAG - in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 12. September 1933 (RGBl. I S. 618) und des Art. 12 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I S. 1067). Im Auslieferungsgesetz sind nur die Auslieferung von Ausländern aus Deutschland, die Durchlieferung durch Deutschland, die Herausgabe von Gegenständen an das Ausland und die sonstige Rechtshilfe in Strafsachen zugunsten eines ausländischen Staates geregelt; nur der Vierte Abschnitt (Schlußbestimmungen) enthält in § 54 eine Einzelbestimmung für Rechtshilfehandlungen ausländischer Staaten. Sie lautet:
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§ 54
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Hat eine ausländische Regierung bei der Bewilligung von Rechtshilfe in Strafsachen die Verwertung der Rechtshilfe an eine Bedingung geknüpft, so ist die Bedingung im inländischen Verfahren zu beachten.
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II.
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Zwei in Deutschland gegen den Beschwerdeführer anhängige Strafverfahren, in denen Haftbefehle erlassen waren, konnten nicht abgeschlossen werden, da sich der Beschwerdeführer seit mehreren Jahren in Österreich aufhielt. Auf ein Ersuchen des Niedersächsischen Ministers der Justiz wurde er zeitweilig und unter der Bedingung späterer Rücklieferung nach Deutschland ausgeliefert; der Minister hatte die Rücklieferung zugesagt. In den beiden deutschen Strafverfahren wurde er freigesprochen. Das Oberlandesgericht Celle ordnete am 5. März 1970 durch einen auf § 10 DAG und Art. 22 Abs. 2 des Auslieferungsvertrages gestützten Haftbefehl die "Auslieferungshaft zum Zwecke der Rücklieferung in die Republik Österreich" an. Einwendungen des Beschwerdeführers gegen den Haftbefehl und gegen die Zulässigkeit seiner Rücklieferung wies das Oberlandesgericht mit Beschluß vom 3. April 1970 zurück, weil die Bundesrepublik Deutschland zur Rücklieferung vertraglich verpflichtet sei und die Rücklieferung nicht offensichtlich die Verfassung verletze. Nachdem das Bundesverfassungsgericht durch einstweilige Anordnung die Rücklieferung des Beschwerdeführers vorläufig untersagt, den Haftbefehl jedoch aufrechterhalten hatte, ordnete das Oberlandesgericht in mehreren Beschlüssen, zuletzt im Beschluß vom 18. August 1970, die Fortdauer der Rücklieferungshaft an.
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III.
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Mit der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß vom 3. April 1970 rügt der Beschwerdeführer Verletzung seines Grundrechts aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, mit einer weiteren Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß vom 18. August 1970 außerdem Verletzung des Art. 104 GG. Er macht geltend: Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG gewähre zum Schutze des Einzelnen ein Grundrecht. Beeinträchtigungen seien daher vom Standpunkt des Betroffenen aus zu beurteilen. Für diesen wirkten sich Auslieferung und Rücklieferung aber in derselben Weise als Übergabe zur Strafverfolgung oder -vollstreckung an einen ausländischen Staat aus. Das verstoße nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 10, 136 ff.) gegen Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Haftbefehl und die Haftfortdauerbeschlüsse entbehrten einer gesetzlichen Grundlage und verstießen gegen Art. 104 Abs. 1 GG. Die Haftanordnung müsse auch deshalb aufgehoben werden, weil die Haft länger als 6 Monate dauere. Im übrigen habe das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer vor der Entscheidung vom 18. August 1970 nicht angehört.
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IV.
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1. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG setze voraus, daß der deutsche Staat Hoheitsgewalt über den Betroffenen ausübe. Mit der vorläufigen Auslieferung, die mit der Rücklieferungsverpflichtung verbunden sei, erlange die deutsche Staatsgewalt aber nur begrenzte Hoheitsbefugnisse und könne insbesondere nicht mehr darüber entscheiden, ob der Betroffene zurückgeliefert werden solle. Die Übernahme der Rücklieferungsverpflichtung verstoße ebenfalls nicht gegen das Auslieferungsverbot, weil der Betroffene auch vor diesem Zeitpunkt der ausländischen Gerichtsgewalt unterliege und durch Übernahme der Rücklieferungsverpflichtung daher nicht schlechter gestellt werde. Andererseits diene die vorläufige Auslieferung dem mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gleichheitsgrundsatz zu begründenden Interesse an der Durchführung von Strafverfahren auch gegen im Ausland lebende Bürger. Gesetzliche Grundlage für den Erlaß eines Haftbefehls sei § 30 DAG, der in der Ermächtigung zum Erlaß von Haft- oder Vorführungsbefehlen unter dem Begriff "Auslieferung" auch die "Rücklieferung" umfasse, wie aus der Entstehungsgeschichte des Auslieferungsgesetzes hervorgehe. Aus § 54 DAG und der übernommenen Rückgabeverpflichtung ergebe sich, daß der Betroffene bis zur Rückgabe in Haft gehalten werden müsse. Die Haft sei also wesensmäßig und untrennbar mit der Rücklieferung verbunden. Wolle man § 30 DAG nicht als alleinige materiell-gesetzliche Grundlage für die Haft ansehen, sei diese Bestimmung jedenfalls in Verbindung mit Art. 22 Abs. 2 des Auslieferungsvertrages eine hinreichende Grundlage. Im übrigen ähnelten sich Auslieferung und Rücklieferung so sehr, daß für die Verfahrensgestaltung das Auslieferungsgesetz ohne Bedenken herangezogen werden könne.
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2. Auch der Niedersächsische Minister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG werde nicht verletzt, weil durch die vorläufige Auslieferung kein vollständiger Wechsel der Strafgewalt eintrete und der ausländische Staat durch die Rücklieferung nicht mehr Recht und Gewalt erlange, als er vorher gehabt habe. Grundlage des Haftbefehls sei Art. 22 Abs. 2 des Auslieferungsvertrages jedenfalls dann, wenn der Betroffene den deutschen Behörden schon als Strafgefangener übergeben worden sei. Das Verfahren lasse sich ohne Schwierigkeit in Analogie zum Auslieferungsverfahren gestalten. Dabei sei allerdings nicht § 10, sondern § 30 DAG anzuwenden.
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Die jeweils rechtzeitig gegen die Beschlüsse vom 3. April und 18. August 1970 erhobenen Verfassungsbeschwerden sind zulässig. Insbesondere wird der Beschwerdeführer auch nach dem Haftfortdauerbeschluß vom 18. August 1970 noch durch den Beschluß vom 3. April 1970 beschwert. Grundlage der von ihm gerügten Freiheitsentziehung ist nach wie vor der Haftbefehl. Diesen konnte der Beschwerdeführer mit Rücksicht auf das Subsidiaritätsprinzip durch Verfassungsbeschwerde erst anfechten, nachdem er versucht hatte, die von ihm behauptete Grundrechtsbeeinträchtigung auf andere Weise zu beseitigen (vgl. BVerfGE 22, 287 [290 f.]). Das hat er mit den von ihm erhobenen Einwendungen, die im Beschluß vom 3. April 1970 zurückgewiesen worden sind, erfolglos versucht. Die vom Haftbefehl verursachte und noch fortdauernde Beschwer kann der Beschwerdeführer daher nur mit der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß vom 3. April 1970 angreifen.
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Die Verfassungsbeschwerden sind jedoch unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen weder die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG noch andere Grundrechte.
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I.
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1. Die angefochtenen Entscheidungen berühren unmittelbar den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Oberlandesgericht hat die vom Beschwerdeführer erhobenen Einwendungen nicht mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Rücklieferung mit der Verfassung vereinbar sei, sondern weil die vertraglich vorgesehene und im konkreten Fall der Republik Österreich zugesicherte Rücklieferung nicht von vornherein unzulässig erscheine. Nach dem Wortlaut der Entscheidung hat das Oberlandesgericht die Frage nach der Zulässigkeit der Rücklieferung also noch nicht endgültig beantwortet. Dennoch wäre der Beschwerdeführer schon durch die Haftanordnung in seinem Grundrecht aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt, wenn die Rücklieferung gegen diese Bestimmung verstieße. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 22, 58 [66]) und nach der Praxis im Rücklieferungsverkehr ergeht weder eine förmliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Rücklieferung noch wird die Rücklieferung von der Bundesregierung besonders bewilligt. Die Haftentscheidung des Oberlandesgerichts war also die einzige Gelegenheit, bei der die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rücklieferung gerichtlich geprüft werden konnte.
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2. a) Für die Frage, ob die "Rücklieferung" als "Auslieferung" im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG zu behandeln und daher unzulässig ist, läßt sich weder aus dem Wortlaut der Verfassungsbestimmung noch aus ihrem systematischen Zusammenhang mit anderen Normen noch aus der Entstehungsgeschichte etwas gewinnen.
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Art. 16 GG enthält keine Begriffsbestimmung für die Auslieferung und beschreibt auch nicht den Vorgang, der als Auslieferung verstanden werden soll. Die Zusammenfassung mit Staatsangehörigkeits- und Asylfragen in demselben Artikel läßt wohl den Schluß zu, daß deutsche Bürger in ihrem staatsbürgerlichen Status und gegenüber Verfolgung im Ausland besonders geschützt werden sollten; der Umfang der Schutznorm im einzelnen läßt sich diesem Zusammenhang aber ebensowenig entnehmen wie dem Zusammenhang mit anderen Grundrechtsnormen.
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Dasselbe gilt hinsichtlich der Entstehungsgeschichte. Im Verlauf der Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde die Fassung des Auslieferungsverbots mehrfach erörtert und geändert. Die Diskussionen betrafen aber inhaltlich nur die Fragen, was als Ausland anzusehen sei, ob auch das Verbot der Ausweisung aufzunehmen sei und ob besonders erwähnt werden solle, daß nur die Auslieferung "zur Verfolgung oder Bestrafung" unzulässig sei (JbÖffR NF, Bd. 1, S. 168 f.).
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b) Die Aufnahme des nicht näher erläuterten Begriffs der Auslieferung in das Grundgesetz könnte darauf hindeuten, daß der Verfassunggeber einen in der Weimarer Verfassung oder im historisch gewachsenen Rechtssystem vorgeformten und feststehenden Begriff vorgefunden und verwendet habe. Die Auslegung hätte sich dann möglicherweise an den vorgefundenen Begriffsinhalt zu halten (BVerfGE 3, 407 [415]; 2, 380 [402]). Hinsichtlich der Einbeziehung der Rücklieferung trifft diese Annahme jedoch nicht zu.
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Die Behandlung der Rücklieferung in Literatur und Praxis war schon vor dem Ersten Weltkrieg streitig. Das änderte sich auch nicht unter der Geltung des Art. 112 Abs. 3 WRV, der es verbot, einen Deutschen einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung zu "überliefern". Praxis und Literatur hielten die Rücklieferung weitgehend für unvereinbar mit dieser Verfassungsbestimmung (vgl. zur Entwicklung der Streitfrage im einzelnen RGSt 65, 374 [382 ff.]). Auch der Gesetzgeber des Auslieferungsgesetzes ging hiervon aus; er lehnte den Vorschlag der Reichsregierung, § 54 DAG mit verfassungsändernder Mehrheit zu beschließen und dadurch eine Ermächtigung für die Rücklieferung Deutscher zu schaffen, ausdrücklich ab (RGSt, a.a.O., S. 384 f.; Mettgenberg-Doerner, Deutsches Auslieferungsgesetz, 2. Aufl., 1953, S. 32 ff.). Erst das Reichsgericht entschied mit Beschluß vom 31. Oktober 1931 (RGSt 65, 374 ff.), daß die Rücklieferung eines Deutschen dem Art. 112 Abs. 3 WRV nicht widerspreche, weil es an der für eine Auslieferung begriffsnotwendigen und im Wortlaut des Art. 112 WRV zum Ausdruck gekommenen Zweckbestimmung fehle, mit der Überlieferung des Verfolgten ein fremdes Strafverfahren zu fördern.
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Auch nach dieser Entscheidung blieb die Frage umstritten. Nach dem Zweiten Weltkrieg - und besonders nach Inkrafttreten des Grundgesetzes - herrschte zunächst die Meinung vor, daß die Rücklieferung eines Deutschen das Auslieferungsverbot verletze. Diese Ansicht vertrat auch die Bundesregierung in der Begründung zum Entwurf eines Zustimmungsgesetzes zum deutsch-französischen Auslieferungsvertrag (BTDrucks. I/3599 zu Art. 15 des Vertrages). Erst nachdem der Bundesgerichtshof entschieden hatte, daß die Bundesregierung durch Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gehindert werde, beim Ersuchen um vorläufige Auslieferung eines Deutschen die Rücklieferung zuzusichern, weil hierbei anders als bei der Auslieferung kein vollständiger Wechsel der Hoheitsgewalt eintrete (BGHSt 5, 396 ff.; bestätigt in BGHSt 22, 58 ff.), änderte die Bundesregierung ihre Ansicht. Denselben Standpunkt vertritt ein Teil von Autoren in der Literatur (z. B. Grützner in: Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, S. 583 [590]; Jescheck in ZStW Bd. 66 [1954], S. 518 [530 f.]; v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 16 Anm. IV 2 d; ferner mehrere Autoren in den in ZStW, Bd. 81 [1969] veröffentlichten deutschen Beiträgen zum X. Internationalen Strafrechtskongreß: so Grützner, S. 119 f.; Oehler, S. 142 [161]; Vogler, S. 163 [164]). Andererseits wird in der verfassungsrechtlichen Literatur weitgehend die Ansicht geäußert, daß eine Rücklieferung Deutscher mit Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar sei, weil diese Norm - ggf. in Zusammenhang mit Art. 11 GG - den deutschen Bürger davor schützen solle, unter irgendeiner Begründung zwangsweise ins Ausland verbracht zu werden (vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., Art. 16 Rdnr. 42 und Art. 11 Rdnr. 93; Heinrich Meyer, Die Einlieferung, Bonn 1953, S. 49 f. und JZ 1956, S. 6 ff.; Mettgenberg- Doerner, a.a.O., S. 135 f.).
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3. Nach alledem kann die Auslegung des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG hinsichtlich der Rücklieferung nicht an einen bei Schaffung der Norm feststehenden und überlieferten Rechtsbegriff der Auslieferung anknüpfen. Sie muß vielmehr von einer vergleichenden Betrachtung der beiden zu beurteilenden Lebensvorgänge "Auslieferung" und "Rücklieferung" ausgehen und sodann Sinn und Zweck des Auslieferungsverbots berücksichtigen.
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a) Die Auslieferung erschöpft sich im wesentlichen in der Übergabe des Betroffenen an die ausländische Strafverfolgungsbehörde, um das dort betriebene Strafverfahren abschließen oder eine Strafe vollstrecken zu können. Demgegenüber ist die Rücklieferung nur ein notwendiger und unselbständiger Bestandteil des mit der vorläufigen Auslieferung begonnenen Gesamtvorganges. Ohne die vorläufige Auslieferung kann es zur Rücklieferung nicht kommen. Daher läßt sich dieser notwendig zusammengehörige Vorgang auch für die rechtliche Beurteilung nicht derart aufteilen, daß die Verfassungsmäßigkeit isoliert für einen Teilakt untersucht wird. Gegenüberzustellen sind also nicht Auslieferung und Rücklieferung, sondern Auslieferung und vorläufige Auslieferung mit anschließender Rücklieferung; es handelt sich nur um Fälle vorübergehender Überstellung nach Deutschland.
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Der Gesichtspunkt der einheitlichen Betrachtung des Gesamtvorganges lag offensichtlich, wenn auch nicht ausdrücklich erörtert, schon der Entscheidung des Reichsgerichts (RGSt 65, 374 ff.) zugrunde, wenn das Reichsgericht für die Rücklieferung die auf Förderung eines fremden Verfahrens zielende Zweckrichtung vermißte, weil die Förderung des fremden Verfahrens nur notwendige Folge, nicht aber beabsichtigter Zweck der Rücklieferung sei. Klargestellt werden muß nur, daß - sofern es auf den Vergleich der Zweckbestimmungen ankommt - nicht der Zweck der Rücklieferung, sondern der des Gesamtvorganges maßgebend ist.
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Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt die Relevanz dieses Gesamtvorganges zum Ausdruck, indem aus der Sachlage vor der vorläufigen Auslieferung der Schluß gezogen wird, daß der Betroffene durch die Zusicherung der Rücklieferung nicht schlechter gestellt und daher nicht verfassungsrechtlich beeinträchtigt werde (BGHSt 5, 396 [405 f.]).
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b) Inhalt und Zweck des Auslieferungsverbots stehen der Rücklieferung, die nur eine Folge der vorläufigen Überstellung ist, nicht entgegen. Das Auslieferungsverbot beruht seinem Grundgedanken nach auf dem Recht jedes Staatsbürgers, sich in seinem Heimatland aufhalten zu dürfen, und auf der Verpflichtung dieses Staates, seine im Staatsgebiet lebenden Bürger in jeder Weise zu schützen. Dazu gehört insbesondere, daß er sie davor bewahrt, zwangsweise in fremde Hoheitsgewalt verbracht und dort vor Gericht gestellt zu werden. Dieses Prinzip gilt für die Bundesrepublik Deutschland allerdings nur nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts (BVerfGE 4, 299 [303 f.]). Im deutschen Rechtsbereich hat es nach älteren partikularrechtlichen Regelungen erstmalig reichsrechtlich Ausdruck schon in § 9 StGB (inzwischen aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. I) und danach in Art. 112 Abs. 3 WRV und Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG gefunden.
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Die älteren wie die neueren Vorschriften geben selbst keinen Aufschluß über das Motiv für ihre Entstehung. Ihr Zweck ist es aber nicht, den Betroffenen einer gerechten Bestrafung zu entziehen, sondern ihn - soweit er im Staatsgebiet lebt - vor den Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen zu bewahren. Weitergehende Folgerungen, wie etwa die Inanspruchnahme ausschließlich deutscher Strafgewalt für Straftaten Deutscher im Ausland, werden aus dem Auslieferungsverbot nicht gezogen.
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Sinn des Auslieferungsverbots ist es insbesondere nicht, die eigene deutsche Strafverfolgung zu erschweren. Darauf aber liefe es hinaus, wenn die Rücklieferung unzulässig wäre. Auslieferung wird nicht in Bagatellfällen, sondern nur in Fällen von einiger Bedeutung verlangt. Vorläufige Auslieferung mit anschließender Rücklieferung kommt nur in Betracht, wenn auch im Ausland eine erhebliche Strafe gegen den Verfolgten zu erwarten oder schon verhängt ist. Gerade in Fällen von schwerer Kriminalität bestünde bei einem Verzicht auf die zeitweilige Überstellung Gefahr, daß sie später nicht mehr aufzuklären wären. Dieser Gesichtspunkt könnte zwar nicht dazu führen, ein dem Umfang nach feststehendes Auslieferungsverbot einzuschränken. Er kann aber herangezogen werden, um einen allein aus sich heraus nicht scharf abzugrenzenden verfassungsrechtlichen Begriff wie die Auslieferung unter Berücksichtigung des Systems und des übrigen Inhalts der Verfassung zu interpretieren. Denn die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten ist ein wesentlicher Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens, der im Konfliktsfall auch bei der Interpretation eines Grundrechts herangezogen werden kann.
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Demgegenüber büßt der Betroffene durch die vorläufige Auslieferung nichts von seinem Schutzanspruch gegen seinen Heimatstaat ein. Wäre die Rücklieferung unzulässig, wäre er der ausländischen Gerichtsgewalt in demselben Maße unterworfen. Nur die deutsche Strafrechtspflege wäre möglicherweise gefährdet, weil das Strafverfahren in vielen Fällen nicht zur Klärung führen könnte. Weder eine allgemeine vertragliche Vereinbarung mit einem anderen Staat noch das Ersuchen um vorläufige Auslieferung gegen spätere Rücklieferung, noch die Ausführung dieser Rücklieferung verstoßen daher gegen Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG.
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Dieses Ergebnis steht auch in Einklang mit der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 10, 136 ff.). Im damaligen Fall befand sich der Betroffene noch nicht im Hoheitsbereich des ihn verfolgenden österreichischen Staates. Die Bundesrepublik Deutschland durfte daher nicht daran mitwirken, ihn dieser Hoheitsgewalt zu überliefern. Im vorliegenden Falle war der Beschwerdeführer dagegen rechtskräftig in Österreich verurteilt; er befand sich auch vor der Überstellung in österreichischer Hoheitsgewalt.
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II.
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Die Rücklieferung verstößt auch nicht gegen Art. 11 GG, wie in der Literatur zum Teil angenommen wird (vgl. H. Meyer, JZ 1956, S. 6 [8, 10 f.]; Maunz-Dürig-Herzog, a.a.O., Art. 11, Rdnr. 93).
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Ob Art. 11 GG überhaupt allgemein ein umfassendes Recht für einen Deutschen auf beliebigen Aufenthalt im Bundesgebiet und zugleich Schutz vor jeder zwangsweisen Verbringung aus dem Bundesgebiet gewährleistet, kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn dies grundsätzlich zum Inhalt der Freizügigkeit gehörte, wäre ein Deutscher dadurch nicht vor der Rücklieferung geschützt. Aus denselben Gründen, wie für das Auslieferungsverbot erörtert, würde die abschließende Rücklieferung notwendigerweise zur zeitweiligen Überstellung gehören. Sie würde deshalb die etwaige Beschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen.
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III.
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Der Haftbefehl und die angefochtenen Haftfortdauerbeschlüsse verletzen weiterhin nicht die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG.
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1. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG bereits enthaltenen Gesetzesvorbehalt für eine Freiheitsbeschränkung wieder auf und verstärkt ihn durch das Erfordernis eines "förmlichen" Gesetzes und durch die Forderung nach Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen. Jede Freiheitsbeschränkung bedarf also einer materiell- gesetzlichen Grundlage (BVerfGE 2, 118 [119]).
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a) Die angefochtenen Beschlüsse lassen ihrem Wortlaut nach nicht erkennen, ob sie § 10 DAG, auf den der Haftbefehl gestützt ist, unmittelbar oder analog anwenden wollen. In Betracht käme aber nur eine analoge Anwendung (BGHSt 22, 58 [65 f.]). Zwar war dem Gesetzgeber des Auslieferungsgesetzes das Institut der vorläufigen Auslieferung bekannt, wie sich aus den Erörterungen um den jetzigen § 54 DAG ergibt. Das ändert aber nichts daran, daß der Erste Abschnitt des Auslieferungsgesetzes seinem klaren Wortlaut nach nur für die Auslieferung von Ausländern aus Deutschland an das Ausland sowie teilweise für die Durchlieferung gilt, so daß sich die unmittelbare Anwendung des § 10 und des § 30 DAG auf Rücklieferungsfälle verbietet.
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Die hiernach vorauszusetzende analoge Anwendung des § 10 DAG genügt den Anforderungen des Art. 104 Abs. 1 GG jedoch nicht. Aus der Verschärfung des schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts durch Art. 104 Abs. 1 GG, der noch unterstützt wird durch die formalen Garantien in Art. 104 Abs. 2 GG, ist zu entnehmen, daß es dem Grundgesetz im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt. Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, meßbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Ebenso wie aus diesem Grunde Gewohnheitsrecht als "gesetzliche Grundlage" ausscheidet, gilt dies auch für die analoge Heranziehung von Normen. Denn diese sind nach der Intention des Gesetzgebers zur Zeit ihres Erlasses nicht auf die Fälle gerichtet gewesen, auf die sie durch Analogie angewendet werden sollen. Nur der Gesetzgeber aber soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen.
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Weder § 10 noch § 30 DAG kommen daher als gesetzliche Grundlage für die Rücklieferungshaft in Betracht.
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b) Auch § 54 DAG scheidet insoweit aus. Ob seiner Anwendung schon sein Wortlaut entgegensteht, der nur die Erfüllung von Bedingungen bei der Verwertung der Rechtshilfe im inländischen Verfahren verlangt, mag dahinstehen. § 54 DAG läßt hinsichtlich einer Freiheitsentziehung aber jegliche, gerade für einen solchen Eingriff erforderliche Bestimmtheit vermissen. Die pauschale Anordnung, jede ausländische Bedingung zu erfüllen, würde zudem die Festsetzung der Voraussetzungen für die Haft praktisch einer ausländischen Behörde überlassen.
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c) Dagegen reicht für vorläufige Auslieferungen mit anschließender Rücklieferung und Haftanordnungen im Verkehr mit Österreich die durch das Zustimmungsgesetz zum innerstaatlichen Recht gewordene Bestimmung in Art. 22 Abs. 2 des Auslieferungsvertrages aus. Zwar ist auch hierin eine Freiheitsentziehung durch Haft nicht ausdrücklich vorgesehen. Die Rückgabeverpflichtung schließt aber notwendig die Ermächtigung zur Haftanordnung ein, da sie sonst in den Fällen, in denen der Betroffene sich der Rücklieferung widersetzt, nicht zu verwirklichen wäre. Dies war auch den den Vertrag abschließenden Regierungen und dem deutschen Gesetzgeber bei Erlaß des Zustimmungsgesetzes bewußt. Den Erfordernissen der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 Abs. 1 GG ist damit genügt.
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2. Art. 104 Abs. 2 GG verlangt für jede Freiheitsentziehung die Entscheidung eines Richters und eine gesetzliche Regelung für die verfahrensrechtliche Ausgestaltung.
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Eine ausdrückliche Regelung des gerichtlichen Verfahrens für die Rücklieferung gibt es bisher nicht. Das Oberlandesgericht hat deshalb auch für die Verfahrensgestaltung das Auslieferungsgesetz analog angewendet. Anders als gegenüber analoger Heranziehung materiell-rechtlicher Normen für die Freiheitsentziehung sind Einwendungen gegen diese Handhabung nicht zu erheben. Im Bereich des Art. 104 Abs. 1 GG verfolgt das Analogieverbot den Zweck, den Betroffenen gegen nicht voraussehbare Freiheitsentziehungen zu sichern. Zweck des Art. 104 Abs. 2 GG ist die Sicherung richterlicher Kontrolle. Diese Sicherung wird in hinreichender Weise auch durch analoge Heranziehung von Verfahrensnormen erreicht, die eine richterliche Kontrolle gewährleisten (vgl. BVerfGE 10, 302 [329]). Soweit die Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Art. 104 Abs. 2 GG rügt, ist sie daher unbegründet.
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IV.
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Schließlich sind auch die weiteren Rügen des Beschwerdeführers teils unzulässig, teils unbegründet.
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1. Mit der Rüge mangelnder Anhörung vor dem Beschluß vom 18. August 1970 will der Beschwerdeführer offenbar eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG geltend machen. Er hat jedoch nicht dargelegt, was er bei rechtzeitiger Anhörung vorgebracht hätte und daß der angefochtene Beschluß gerade auf der Nichtbeachtung dieses unterbliebenen Vorbringens beruht. Eine solche Rüge ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unzulässig (BVerfGE 28, 17 f.).
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2. Die Einwendungen gegen die Dauer der Haft sind unbegründet. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Vorschrift über eine höchstens sechsmonatige Haft gilt nur im Recht der Untersuchungshaft. Auch allgemein darf jede Haft zwar nicht unverhältnismäßig lange dauern. Dies ist hier aber auch nicht der Fall. Die Rücklieferung des Beschwerdeführers hätte an sich sofort nach dem Beschluß vom 3. April 1970 ausgeführt werden können. Sie ist nur auf die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hin zeitweilig unterblieben, mußte aber bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesichert werden. Das war nach der nicht zu beanstandenden Auffassung des Oberlandesgerichts nur durch weiteren Haftvollzug möglich.
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