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Bearbeitung, zuletzt am 06.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 8C_122/2022 vom 27.06.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_122/2022
 
 
Urteil vom 27. Juni 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Rajeevan Linganathan,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 17. Januar 2022 (200 21 630 IV).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
A.________, geboren 1968, war seit April 2015 bei der B.________ AG als Produktionsmitarbeiter beschäftigt. Im Dezember 2017 meldete er sich unter Hinweis auf eine vollständige Arbeitsunfähigkeit seit einem am 1. Juli 2017 erlittenen Unfall bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern zog die Akten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) bei und klärte die erwerbliche Situation ab. Sie gewährte berufliche Massnahmen in Form eines Deutschkurses sowie von Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche. Letztere wurde am 8. Juli 2019 eingestellt mangels Eingliederungsfähigkeit. Mit Verfügung vom 8. Januar 2020 lehnte die IV-Stelle einen Anspruch auf eine Invalidenrente zunächst ab, hob diese am 7. Mai 2020 indessen, nachdem dagegen Beschwerde erhoben worden war, wieder auf und holte ein Gutachten der Medexperts AG, St. Gallen, vom 21. Oktober 2020 ein. Mit Verfügung vom 29. Juli 2021 verneinte sie einen Anspruch auf eine Invalidenrente erneut bei einem Invaliditätsgrad von 11 %.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 17. Januar 2022 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sei ihm eine Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).
2.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der IV-Stelle am 29. Juli 2021 verfügte Rentenablehnung bestätigte. Zur Frage stehen dabei der Umfang der dem Beschwerdeführer verbliebenen Arbeitsfähigkeit sowie die erwerblichen Auswirkungen der Gesundheitsschädigung.
3.
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
4.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG), insbesondere bei psychischen Leiden (BGE 143 V 409 E. 4.2.1; 143 V 418; 141 V 281), sowie zum Rentenanspruch (Art. 28 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der Regeln über den Beweiswert eines ärztlichen Berichts oder Gutachtens (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis), insbesondere auch eines versicherungsexternen Gutachtens (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/bb). Richtig wiedergegeben werden die Grundsätze zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG), dabei namentlich auch die Praxis zur Parallelisierung der Vergleichseinkommen bei deutlich unterdurchschnittlichem tatsächlichem Verdienst als Gesunder aus invaliditätsfremden Gründen (BGE 141 V 1 E. 5.6; 125 V 146 E. 5c/bb; Urteil I 696/01 vom 4. April 2002 E. 4) sowie zum leidensbedingten Abzug von dem auf statistischer Grundlage ermittelten Invalideneinkommen (BGE 135 V 297 E. 5.2). Ob ein solcher Abzug vom Tabellenlohn zu gewähren sei, ist eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage.
 
Erwägung 5
 
5.1. Die Vorinstanz stellte gestützt auf das ihrer Auffassung nach voll beweiskräftige Medexperts-Gutachten fest, der Beschwerdeführer sei in einer dem Rückenleiden angepassten (von den Gutachtern weiter präzisierten) wechselbelastenden, vorwiegend sitzenden Tätigkeit bei ganztägiger Anwesenheit zu 75 % arbeitsfähig. Zum selben Ergebnis hinsichtlich der noch zumutbaren Arbeiten seien auch die Fachpersonen der Klinik C.________ anlässlich einer Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit gekommen. Die behandelnden Ärzte hätten sich nicht zur Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit geäussert. Zudem ergäben sich aus ihren Berichten keine Aspekte, die von den Gutachtern unerkannt oder ungewürdigt geblieben wären. Dies gelte insbesondere auch in psychiatrischer Hinsicht. Es sei diesbezüglich auch keine zwischenzeitliche Verschlechterung ausgewiesen. Was die erwerbliche Seite betrifft, ermittelte das kantonale Gericht als Verdienst, den der Beschwerdeführer hypothetisch als Gesunder in der angestammten Tätigkeit erzielen könnte (Valideneinkommen), einen Betrag von Fr. 50'700.- für das Jahr 2018. Dieser liege unter dem branchenspezifischen Wert. Es habe eine Parallelisierung der Vergleichseinkommen im Umfang von 11,65 % zu erfolgen. Als zumutbaren Lohn nach Eintritt der Gesundheitsschädigung (Invalideneinkommen) rechnete die Vorinstanz dem Beschwerdeführer den gestützt auf die vom Bundesamt für Statistik herausgegebene Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelten Betrag von Fr. 44'903.- an, dies unter Berücksichtigung des erwähnten Parallelisierungsabzuges sowie der um 25 % eingeschränkten Arbeitsfähigkeit. Ein zusätzlicher leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn rechtfertige sich indessen nicht.
5.2. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss im Wesentlichen geltend, seine psychische Beeinträchtigung, die mit einem Spitalaufenthalt im D.________ hätte belegt werden können, sei zu Unrecht unberücksichtigt geblieben und hätte weiterer Abklärung bedurft. Zudem habe die Vorinstanz auch sein somatisches Leiden mit chronischen starken Schmerzen nur unzureichend gewürdigt und ihm zu Unrecht ein rentenausschliessendes Invalideneinkommen angerechnet, das er indessen nicht zu generieren in der Lage sei.
 
Erwägung 6
 
6.1. Dass das kantonale Gericht die zu beachtenden Beweiswürdigungsregeln verletzt haben sollte, indem es hinsichtlich der noch verbleibenden Arbeitsfähigkeit auf das Medexperts-Gutachten abstellte, ist nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer legt insbesondere nicht dar, inwiefern entgegen der Vorinstanz von den behandelnden Ärzten benannte Aspekte zu Unrecht ausser Acht geblieben wären (BGE 135 V 465 E. 4.5; 125 V 351 E. 3b/cc; SVR 2017 IV Nr. 7 S. 19, 9C_793/2015 E. 4.1; Urteile 8C_630/2020 vom 28. Januar 2021 E. 4.2.1; 8C_370/2020 vom 15. Oktober 2020 E. 7.2). Dies gilt sowohl in somatischer wie auch in psychiatrischer Hinsicht. Namentlich wird beschwerdeweise nicht dargetan, dass sich anlässlich des im vorinstanzlichen Verfahren angekündigten Aufenthalts in der psychosomatischen Abteilung D.________ des Spitals E.________ im September 2021 neue Gesichtspunkte ergeben hätten. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit (75 %) wie auch bezüglich des dort umschriebenen Zumutbarkeitsprofils auf das Medexperts-Gutachten abgestellt hat.
6.2. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, angesichts des erheblich eingeschränkten Zumutbarkeitsprofils sei die von der Vorinstanz festgestellte Restarbeitsfähigkeit mangels geeigneter Stellen nicht verwertbar. Entgegen seinem Einwand bildet Referenzpunkt bei der Invaliditätsbemessung im erwerblichen Bereich gestützt auf die gesetzliche Regelung von Art. 16 ATSG (in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 ATSG) indessen nicht der effektive, sondern ein theoretischer und abstrakter, hypothetisch als ausgeglichen unterstellter Arbeitsmarkt, wie das Bundesgericht jüngst bestätigt hat (Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 E. 9.1, zur Publikation vorgesehen). Dieser hält ohne Weiteres auch vorwiegend sitzend auszuübende wechselbelastende und namentlich auch einfache handwerkliche, nicht bloss administrative Tätigkeiten bereit. Eine Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit lässt sich damit nicht begründen. Gleiches gilt insoweit, als der Beschwerdeführer vorbringt, seine Stellenaussichten seien wegen krankheitsbedingt häufiger Arbeitsausfälle vermindert. Für eine solche Annahme findet sich schon im Gutachten keine Stütze. Das Bundesgericht hat mit dem erwähnten Urteil 8C_256/2021 vom 9. März 2022 im Übrigen unter anderem mit Bezugnahme auf das Rechtsgutachten des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS (Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung) entschieden, dass im heutigen Zeitpunkt kein ernsthafter sachlicher Grund für die Änderung der Rechtsprechung besteht, wonach Ausgangspunkt für die Bemessung des Invalideneinkommens anhand statistischer Werte (BGE 143 V 295 E. 2.2; 135 V 297 E. 5.2) grundsätzlich die Zentral- beziehungsweise Medianwerte der LSE darstellen (Urteil 8C_250/2021 vom 31. März 2022 E. 4.2.2 a.E.). Dass die Vorinstanz bei der Ermittlung des Invalideneinkommens den entsprechenden Tabellenwert (Total: in BGE 133 V 545 nicht publizierte E. 5.1 des Urteils 9C_237/2007 vom 24. August 2007; Urteil I 289/01 vom 19. Oktober 2001 E. 3c) herangezogen hat, ist nicht zu beanstanden.
6.3. Was schliesslich die erwerblichen Auswirkungen im Einzelnen betrifft, erkannte das kantonale Gericht, den geltend gemachten invaliditätsfremden lohnmindernden Faktoren der fehlenden Berufsausbildung und Sprachkenntnisse sei bereits im Rahmen der Parallelisierung der Vergleichseinkommen Rechnung getragen worden. Die leidensbedingte Einschränkung werde mit dem 75 %-Pensum hinreichend berücksichtigt. Eine zusätzliche Reduktion mittels eines leidensbedingten Abzuges sei nicht gerechtfertigt. Inwiefern die Vorinstanz damit offensichtlich unrichtige sachverhaltliche Feststellungen getroffen oder die diesbezüglich zu beachtenden Regeln verletzt haben sollte, wird beschwerdeweise nicht dargetan. Aus der geringfügigen Abweichung bei der Ermittlung des Parallelisierungsabzuges und damit auch des Invalideneinkommens durch die IV-Stelle gegenüber derjenigen der Suva (12,71 %), bedingt durch den unterschiedlichen Ausgangswert für die massgeblichen Jahre des Rentenbeginns (2018 beziehungsweise 2020), die sich allerdings im Ergebnis nicht auswirkte, vermag der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten abzuleiten.
7.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Rajeevan Linganathan wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
 
4.
 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 27. Juni 2022
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Wirthlin
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo