Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Bearbeitung, zuletzt am 05.08.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
BGer 8C_105/2022 vom 12.07.2022
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
Tribunal federal
 
[img]
 
 
8C_105/2022
 
 
Urteil vom 12. Juli 2022
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht,
 
Gerichtsschreiber Cupa.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Walder,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
 
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Arbeitsunfähigkeit),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 5. Januar 2022 (VV.2021.69/E).
 
 
Sachverhalt:
 
A.
A.________, geboren 1960, ist gelernter Kellner und war zuletzt als Chemie- und Pharmatechnologe bei der B.________ AG tätig. Im März 2020 meldete er sich wegen Schmerzen und eines Fremdkörpergefühls im Bauch nach Operationen der Bauchwand bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau (nachfolgend: IV-Stelle oder Beschwerdegegnerin) zog medizinische und erwerbliche Akten bei und verneinte einen Anspruch auf berufliche Massnahmen sowie auf eine Invalidenrente (Verfügungen vom 2. Februar 2021).
B.
Die hiergegen erhobene Beschwerde des A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 5. Januar 2022).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, es sei der Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur Vornahme ergänzender Abklärungen an dieses zurückzuweisen.
Das Bundesgericht holte die vorinstanzlichen Akten ein und verzichtete auf die Durchführung eines Schriftenwechsels.
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (vgl. BGE 147 I 73 E. 2.1; 145 V 304 E. 1.1). Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz können von Amtes wegen oder auf Rüge hin berichtigt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 und Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. BGE 148 V 209 E. 2.2).
1.2. Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist. Es liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erscheint. Diese Grundsätze gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung; in diese greift das Bundesgericht auf Beschwerde hin nur bei Willkür (siehe zum Willkürbegriff: BGE 147 V 194 E. 6.3.1) ein, insbesondere wenn die Vorinstanz offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche grundlos ausser Acht lässt. Solche Mängel sind in der Beschwerde aufgrund des strengen Rügeprinzips (Art. 106 Abs. 2 BGG) klar und detailliert aufzuzeigen (vgl. BGE 144 V 50 E. 4.2). Dazu genügt es nicht, einen von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern. Dass die von der Vorinstanz gezogenen Schlüsse nicht mit der Darstellung der beschwerdeführenden Partei übereinstimmen, belegt keine Willkür (BGE 144 II 281 E. 3.6.2).
1.3. Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person sowie die konkrete Beweiswürdigung beziehen sich grundsätzlich auf Tatfragen, die das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2; SVR 2021 IV Nr. 16 S. 45, 9C_174/2020 E. 2.3, nicht publ. in: BGE 147 V 79). Dagegen betrifft die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln Rechtsfragen, die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht frei prüft (vgl. BGE 146 V 240 E. 8.2; SVR 2016 BVG Nr. 11 S. 47, 9C_457/2014 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 141 V 405). Gleiches gilt für die Frage, ob den medizinischen Gutachten und Arztberichten im Lichte der rechtsprechungsgemässen Anforderungen Beweiswert zukommt (vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1).
1.4. Zudem herrscht vor Bundesgericht grundsätzlich ein Novenverbot (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 147 V 124 E. 1.2), aufgrund dessen der mit der Beschwerde eingereichte Arztbericht vom 15. Januar 2022 unbeachtlich bleibt.
 
Erwägung 2
 
2.1. Strittig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, indem es die rentenablehnende Verfügung der IV-Stelle vom 2. Februar 2021 schützte. Dabei steht die Frage im Zentrum, ob es den Stellungnahmen des Dr. med. C.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (nachfolgend: RAD) vollen Beweiswert zuerkennen und auf weitere medizinische Abklärungen verzichten durfte.
2.2. Hingegen ist nicht weiter strittig, ob ein allfälliger Anspruch auf berufliche Massnahmen besteht. Auch beanstandet der Beschwerdeführer die beruflich-erwerbliche Seite der Invaliditätsbemessung nicht. Fest steht zudem, dass er seit dem 19. September 2019 in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Chemie- und Pharmatechnologe arbeitsunfähig ist.
2.3. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
2.4. Die Vorinstanz legte die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen Rechtsgrundlagen im angefochtenen Entscheid zutreffend dar. Es betrifft dies insbesondere die Erwägungen zur Erwerbsunfähigkeit und Invalidität (Art. 7 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 ATSG) sowie zum Rentenanspruch (Art. 28 IVG). Korrekt sind auch die Ausführungen bezüglich des Beweiswertes versicherungsinterner Berichte und Stellungnahmen sowie von reinen Aktengutachten des RAD (vgl. BGE 145 V 97 E. 8.5; 142 V 58 E. 5.1; Urteil 9C_647/2020 vom 26. August 2021 E. 4.2). Hierauf wird verwiesen.
3.
Die Vorinstanz mass den Stellungnahmen des RAD-Arztes Dr. med. C.________ vollen Beweiswert zu und stellte gestützt darauf fest, der Beschwerdeführer sei in einer adaptierten Tätigkeit für die Zeit vom 14. September 2020 bis 2. Februar 2021 voll arbeitsfähig gewesen. Zumutbar sei das Ausüben einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit ohne körperlichen Anspruch mit einer Gewichtslimite von maximal 5 kg, wobei es physische und psychische Stressbelastungen zu vermeiden gelte. Der in U.________ praktizierende Hausarzt Dr. med. D.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, habe seit dem 19. September 2019 eine Arbeitsunfähigkeit von 100 %, ab 1. September 2020 eine solche von 50 % und ab 14. September 2020 eine volle Arbeitsfähigkeit attestiert (Arztzeugnis vom 17. Juli 2020). Ebenso sei der behandelnde Arzt PD Dr. med. E.________, Facharzt für Chirurgie am Spital F.________, im Bericht vom 30. Juni 2020 von einer vollen Arbeitsfähigkeit ausgegangen, wobei er es als sinnvoll erachtet habe, zunächst eine Arbeit im Umfang von 50 % aufzunehmen und das Arbeitspensum schrittweise auf 100 % zu erhöhen. In Bezug auf den entscheidrelevanten Beurteilungszeitraum sei mangels gegenteiliger Hinweise überwiegend wahrscheinlich, dass die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers in einer adaptierten Tätigkeit nicht eingeschränkt gewesen sei. Ferner erwog das kantonale Gericht, in tatsächlicher Hinsicht sei nur das zu berücksichtigen, was sich bis zum Erlass der rentenablehnenden Verfügung der Beschwerdegegnerin am 2. Februar 2021 zugetragen habe. Soweit der Versicherte geltend mache, Hinweise auf psychiatrische Beschwerden hätten sich schon vorher, etwa aus dem kurzen handschriftlichen Vermerk auf dem Arztbericht des PD Dr. med. E.________ vom 30. Juni 2020, ergeben, könne er daraus nichts zu seinen Gunsten ableiten.
4.
Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, verfängt nicht. Er beschränkt sich in rechtlicher Hinsicht einzig darauf, eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) zu behaupten. Entgegen seiner Ansicht stellte das kantonale Gericht aber weder den Sachverhalt unvollständig oder willkürlich fest noch verletzt seine Beweiswürdigung Bundesrecht, wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt.
4.1. Nach der Rechtsprechung stellt das Gericht bei der Beurteilung einer Streitsache in der Regel auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des strittigen Entscheids eingetretenen Sachverhalt ab (BGE 144 V 210 E. 4.3.1 mit Hinweis). Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 130 V 138 E. 2.1). Sie sind jedoch insoweit zu berücksichtigen, als sie mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen (vgl. BGE 121 V 362 E. 1b; 99 V 98 E. 4; SVR 2021 UV Nr. 6 S. 31, 8C_678/2019 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 147 V 35 E. 1.2).
4.2. Zwar liegen Arztberichte der behandelnden Psychiaterin Dr. med. G.________ vor, die unter anderem eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und die Arbeitsfähigkeit im erlernten Beruf als Gastronom seit Beginn des Bauchleidens auf maximal 20 % einschätzt. Beide Berichte datieren allerdings vom 31. Mai 2021. Der Beschwerdeführer begab sich am 5. März 2021 bei ihr in psychiatrische Behandlung. Vor Verfügungserlass am 2. Februar 2021 erhielt die Beschwerdegegnerin auf Rückfrage im August 2020 hin, ob er sich in psychiatrischer Behandlung befinde, lediglich die bereits vorhandenen Akten mit einem kurzen handschriftlichen Vermerk der Verschreibung zweier Antidepressiva durch den Hausarzt von ihm als Antwort zugestellt.
4.3. Das Kernargument des Beschwerdeführers, die Einschätzungen hinsichtlich seiner medizinisch-theoretischen Leistungsfähigkeit durch PD Dr. med. E.________ und Dr. med. D.________ vom Juni und Juli 2020 in einer leidensangepassten Tätigkeit (vgl. E. 3 hiervor) seien rein prognostischer Natur und würden keine Rückschlüsse in Bezug auf seine tatsächliche Arbeitsfähigkeit zulassen, läuft ins Leere. Zunächst ist festzuhalten, dass sich deren Einschätzungen inhaltlich nicht widersprechen. Sodann ist allein die Verschreibung zweier Antidepressiva durch den Hausarzt nicht zwangsläufig als Hinweis auf eine psychisch bedingt eingeschränkte Arbeitsfähigkeit zu werten. Dies gilt umso mehr, wenn derselbe Hausarzt ein Arztzeugnis mit Angaben über die Arbeitsfähigkeit ausstellt und die versicherte Person dessen Richtigkeit nicht innert des Zeitraums, für den es Gültigkeit beansprucht, sondern erst mehrere Monate später unter dem Eindruck einer sozialversicherungsrechtlichen Streitigkeit in Zweifel zu ziehen versucht. Die Vorinstanz wies zu Recht darauf hin, die psychiatrische Behandlung habe erst am 5. März 2021 begonnen. Sie erwog bundesrechtskonform (vgl. E. 4.1 hiervor), die spätere Einschätzung der behandelnden Psychiaterin Dr. med. G.________ vom 31. Mai 2021 sei vor diesem Hintergrund nicht geeignet, die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des Verfügungserlasses am 2. Februar 2021 zu beeinflussen. Auch musste die Beschwerdegegnerin vor Erlass der streitbetroffenen Verfügung vom 2. Februar 2021 keine weiteren Abklärungen treffen und durfte beispielsweise vom Einholen eines detaillierten hausärztlichen Verlaufsberichts absehen (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.3; SVR 2016 IV Nr. 33 S. 102, 8C_590/2015 E. 6, nicht publ. in: BGE 141 V 585). Schliesslich durfte die Vorinstanz gestützt auf die voll beweiswertigen Stellungnahmen des RAD-Arztes Dr. med. C.________ (vgl. E. 2.4 hiervor) davon ausgehen, der Beschwerdeführer sei für die Zeit vom 14. September 2020 bis 2. Februar 2021 in einer adaptierten Tätigkeit überwiegend wahrscheinlich zu 100 % arbeitsfähig gewesen (vgl. E. 3 hiervor). Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) liegt nicht vor.
4.4. Im Übrigen wies das kantonale Gericht den Beschwerdeführer rechtsprechungsgemäss (vgl. E. 4.1 hiervor) zutreffend darauf hin, eine allfällige Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustands nach Verfügungserlass sei im Rahmen einer Neuanmeldung geltend zu machen.
4.5. Zusammenfassend ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die rentenablehnende Verfügung der IV-Stelle vom 2. Februar 2021 schützte. Die Beschwerde ist abzuweisen.
5.
Ausgangsgemäss sind die Verfahrenskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 12. Juli 2022
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Wirthlin
 
Der Gerichtsschreiber: Cupa